3. Januar 2007

Ketzereien zum Irak (4): Gibt es im Irak einen Bürgerkrieg?

Ob sich der Irak "im Bürgerkrieg" befindet, das ist nicht objektiv zu entscheiden. "Bürgerkrieg" ist kein definierter Begriff. Oder genauer: Man kann sich natürlich Definitionen ausdenken. Man kann irgendeine Definition wählen, aber es gibt auf dem Kontinuum zwischen Anschlägen einzelner Terroristen und ausgedehnter Gewalt keinen offensichtlichen Punkt, wo der Nicht- Bürgerkrieg in den Bürgerkrieg umschlägt.

Es gab in der Neueren Geschichte gewaltsame innere Konflikte, die man Bürgerkriege nannte - den Spanischen Bürgerkrieg vor allem, zuvor den Krieg zwischen den Roten und den Weißen nach der Oktoberrevolution, später den Vietnamkrieg. Aber sie so zu benennen oder gar sich darüber zu streiten, was sie denn nun zu Bürgerkriegen gemacht hat und andere gewaltsame interne Konflikte nicht - das ist müßig; es bringt keinen Erkenntnisgewinn.



Wie hilflos Versuche sind, einen Punkt zu finden, von dem an gewaltsame innere Konflkte zum "Bürgerkrieg" werden, ist an dem Artikel "Civil War" in der Wikipedia abzulesen. Dort wird behauptet, "Politologen" (alle? einige?) würden zwei Kriterien benutzen: Erstens Kampf um dasselbe politische Zentrum, Kontrolle über einen separatistischen Staat oder Kampf mit dem Ziel, eine grundlegende politische Änderung herbeizuführen. Und zweitens mindestens tausend Tote, davon mindestens hundert auf jeder Seite.

Das erste Kriterium ist trivial, denn es grenzt den Bürgerkrieg nur vom Krieg zwischen Staaten ab. Das zweite ist arbiträr. Nicht nur, weil man sich fragt, warum denn gerade tausend und nicht neunhundert oder 4213. Sondern auch, weil ein Aufstand mit tausend Toten in irgendeiner Provinz Chinas gewiß nicht die staatliche Ordnung gefährden würde, während tausend Tote in Grenada mit seinen 98000 Bürgern schon so etwas wie das Ergebnis eines all-out war, eines allgemeinen Gemetzels, wären.



"Bürgerkrieg" ist, so scheint es mir, ein fragwürdiges wissenschaftliches Konzept. Aber es ist ein beliebter politischer Kampfbegriff.

Meist wird der Begriff von einer der interessierten Seiten verwendet, um damit eine bestimmte Sichtweise auf einen Konflikt zu befördern. Zum Beispiel, um Terroristen als "Bürgerkriegspartei" politisch aufzuwerten und/oder, um die legitime Regierung zu nur noch einer "Bürgerkriegspartei" herabzustufen. Um also den Staat mit den jeweiligen Aufständischen, Rebellen, kriminellen Banden auf eine Stufe zu stellen.

In diesem Sinn wurde bereits der Terrorismus einiger Dutzend Kommunisten der Baader- Meinhof- Bande als "Bürgerkrieg" bezeichnet; hier zum Beispiel.

Da war deren Ziel zwar etwas sehr kühn vorweggenommen. Aber die erklärte Absicht der der Baader- Meinhof- Bande war es in der Tat gewesen, Deutschland in einen blutigen Bürgerkrieg zu stürzen. Wer schon die Anfänge als einen Bürgerkrieg bezeichnete, der wollte damit dieses Vorhaben in seiner Bedeutung heben; sei es, um es zu unterstützen, sei es, um vor seinem möglichen Erfolg zu warnen.



Ergo: Wenn von "Bürgerkrieg" die Rede ist, dann sollte man weniger fragen, ob das in irgendeinem wissenschaftlichen Sinn zutrifft, sondern welche Absicht denn diejenigen verfolgen, die mit diesem Begriff operieren.

In einem Beitrag in den Gulf News ist kürzlich Amir Taheri, von dem ich hier schon einmal einen Beitrag kommentiert habe, der Frage nachgegangen, wem es denn nütze, daß immer wieder von einem Bürgerkrieg im Irak gesprochen werde.

Unter der Überschrift "There is no civil war in Iraq" argumentiert Taheri:
  • Die Rede vom Bürgerkrieg nützt der El Kaida. Diese besteht überwiegend aus Nicht- Irakern. Als "Bürgerkriegspartei" wird ihr eine Schein- Legitimität zugeschrieben.

  • Zweitens nützt sie den Überresten des Saddam- Regimes, indem sie auch ihnen eine gewisse Legitimität verleiht. Tatsächlich aber haben die verbliebenen Saddamisten nicht einmal mehr eine Basis unter den Mitgliedern der ehemaligen Baath- Partei. (Anmerkung von Zettel: Dies wird auch durch die Proteste gegen Saddams Hinrichtung bestätigt, die sich im Irak bisher im wesentlich auf seinen Heimat- Clan in Tikrit und auf allenfalls ein paar Tausend Anhänger anderswo beschränken).

  • Aus demselben Grund dient die Rede vom Bürgerkrieg den diversen Milizen, oft mehr kriminelle Gangs, und den konfessionellen Fanatikern.

  • Im Westen ist sie Wasser auf die Mühlen der "Imperialismus"- Theoretiker. Zum einen derjeniger, die Staaten wie den Irak immer schon für unfähig zur Selbstregierung erklärt haben. Die anderen, schreibt Taheri, seien diejenigen, die immer schon den Westen ("Kolonialismus", "Imperialismus") für alles Elend der Welt verantwortlich gemacht haben, und die auch die jetzigen Schwierigkeiten im Irak nicht den dortigen Politikern zuschreiben, sondern der US-geführten Invasion.


  • Im zweiten Teil seines Artikels weist Taheri darauf hin, daß niemand von denen, die von "Bürgerkrieg" sprechen, klar sagt, wer denn eigentlich die beiden Seiten in diesem angeblichen Bürgerkrieg sind, wofür sie jeweils kämpfen und auf welcher Seite eigentlich diejenigen stehen, die vom Bürgerkrieg sprechen.

    Abschließend hier Tahirs eigene Lagebeurteilung, mit meiner Übersetzung:
    The fact, however, is that, right now, Iraq is not in civil war. Rather, it is a victim of foreign aggression combined with internal sectarian violence, revenge tactics and outright criminal activities. This does not mean that Iraq could not slide into civil war. There are conflicting visions for the new Iraq - visions as mutually exclusive as those that led to other civil wars, notably in Spain. For the time being, however, the overwhelming majority of those who support those rival visions prefer to fight for them within the constitution and its still fragile institutions.

    Tatsache ist jedoch, daß sich im Augenblick der Irak nicht im Bürgerkrieg befindet. Er ist vielmehr das Opfer ausländischer Aggression und innerer konfessioneller Gewalt, von Rachetaktiken und gewöhnlicher Kriminalität. Das heißt nicht, daß der Irak nicht in einen Bürgerkrieg hineinschlittern könnte. Es gibt einander widersprechende Visionen für den neuen Irak - Visionen, die sich ebenso gegenseitig ausschließen wie diejenigen, die zu früheren Bürgerkriegen führten, vor allem in Spanien. Vorerst jedoch kämpft die überwältigende Mehrheit derer, die diese rivalisierenden Visionen vertreten, lieber innerhalb der Verfassung und ihrer noch zerbrechlichen Institutionen für sie.


    Da ich jetzt schon zum zweiten Mal auf einen Artikel von Amir Taheri hinweise, hier noch etwas zu dessen Person:

    Er ist gebürtiger Iraner und studierte in Teheran, London und Paris.

    Vor dem Khomeni- Umsturz war er Chefredakteur der größten iranischen Tageszeitung, Kayhan.

    Nach seiner Emigration war er von 1980 bis 1987 Nahost-Redakteur der Londoner Sunday Times und schrieb u.a. für die Londoner Times, den Daily Telegraph, den Guardian und die Daily Mail.

    Von 1984 bis 1987 war er Chefredakteur von Jeune Afrique, dem größten französischsprachigen Nachrichtenmagazin für Afrika.

    Seither schreibt er für zahlreiche internationale Zeitungen und Zeitschriften, die man in dem verlinkten Lebenslauf aufgezählt findet.



    Ich erwähne diese persönlichen Daten zum einen, um zu begründen, warum mir Taheri eine seriöse Quelle zu sein scheint. Zum anderen illustriert seine Vita das Schicksal vieler Intellektueller, die vor Diktaturen fliehen mußten. Chefredakteur einer iranischen Zeitung, Redakteur eines britischen Blattes, Chefredakteur einer französischsprachigen Zeitung, Autor arabischer, amerikanischer, europäischer Blätter - das ist der moderne Ahasver, den diese Diktaturen hervorbringen.