9. Februar 2008

Wie die antiautoritäre Bewegung in Deutschland autoritäre Strukturen gefördert hat

Es erscheint wie ein Paradox. Marxisten würden vom "Umschlagen ins Gegenteil" sprechen:

Wir haben in Deutschland in einem erschreckenden Ausmaß autoritäre Strukturen; ein heute erschienener Artikel über sie ist der Anlaß für diese Marginalie. Das Vordringen und die Perpetuierung dieser Strukturen wurden wesentlich gefördert durch die Folgen und Spätfolgen einer Bewegung, die es gerade darauf abgesehen hatte, alle autoritären Strukturen, jeden Rest autoritären Denkens zu beseitigen.



Die freiheitliche Gesellschaft, die wir heute in Deutschland haben, ist über gut ein halbes Jahrhundert hinweg in drei Stufen entstanden, mit den historischen Rückschlägen des Nazismus und des Kommunismus: In der Weimarer Republik, in der jungen Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Kulturrevolution der sechziger und siebziger Jahre.

In der Weimarer Republik waren die freiheitlich Gesonnenen eine Minderheit, eine vor allem intellektuelle Minderheit; von keinem Publikationsorgan besser repräsentiert als von der "Weltbühne", von keinem Autor besser als von dem großen Kurt Tucholsky.

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg - beginnend schon in der Phase der Reeducation noch vor der Gründung der Bundesrepublik - wurde für die Ausbildung eines freiheitlichen Bewußtseins mehr getan, als viele das heute noch wahrnehmen: durch Reformen des Schulwesens und die demokratische Erziehung der Lehrer, durch eine freiheitliche Haltung des weitaus größten Teils der Presse, durch den Erfolg des parlamentarischen Systems, begleitet vom wirtschaftlichen Aufstieg, der einer liberalen Wirtschafts- Ordnung zu verdanken war.

Der Wirtschaftsliberalismus dieser Epoche fand seine Personifizierung in Ludwig Erhard. Für die in weiten Teilen liberale Gesellschaft, die damals entstand, stehen der "Spiegel" und Rudolf Augstein, ähnlich wie die "Weltbühne" und Kurt Tucholsky das freiheitliche Denken in der Weimarer Republik repräsentieren.

Daß der "Spiegel" ein Massenblatt wurde, dessen Auflage bald in die Hunderttausende ging und sich der Million näherte, während die "Weltbühne" nie über eine Auflage von 15.000 Exemplaren hinausgekommen war, ist ein äußerer Ausdruck für die Transformation liberalen Denkens von der Sache einer Minderheit zu einer breiten, die Gesellschaft tragenden Strömung.

In der dritten Phase, den späten sechziger und den siebziger Jahren, nahm sich eine zunächst studentische, dann immer mehr in Politik und Gesellschaft hineinwirkende Bewegung des Themas "Freiheit" an.

Als diese Bewegung Mitte der sechziger Jahre begann, war die deutsche Gesellschaft alles andere als unfrei und autoritär. Aber es gab noch Reste autoritären Denkens; es gab noch - beispielsweise in den Universitäten - Strukturen, die als nicht freiheitlich gesehen wurden. Die von immer mehr Studenten, dann zunehmend auch in der Öffentlichkeit, so gesehen wurden.

Daraus entstand, als Teil einer weltweiten Jugendbewegung mit ihren Zentren in den USA, Frankreich und China, das, was man heute gern mit dem Etikett "Achtundsechziger" versieht. Es war der Versuch, die Beseitigung autoritärer Strukturen und autoritären Denkens auf die Spitze zu treiben; zugleich alle traditionellen Werte in den Orkus der Geschichte zu befördern.

Es war insofern die Fortsetzung der freiheitlichen Bewegung, die in der Weimarer Zeit begonnen und die sich nach 1945 fortgesetzt hatte. Es war zugleich aber auch ihr Überdrehen, ihre Infantilisierung bis in die Lächerlichkeit hinein.

Personifiziert wurde diese Zeit nicht mehr durch große Intellektuelle wie Tucholsky und Augstein (die "Achtundsechziger Bewegung" hat keinen einzigen bedeutenden Intellektuellen hervorgebracht), sondern durch zottelbärtige und wuschelhaarige Figuren wie Fritz Teufel und Rainer Langhans.

Dennoch - oder vermutlich just deswegen - war es eine immens erfolgreiche Bewegung.

Eine antiautoritäre Grundhaltung war nun nicht mehr nur die Sache einer kleinen Minderheit oder des fortgeschrittenen Teils der Bevölkerung. Jetzt, als Folge des Siegs der Achtundsechziger und ihres "Langen Marschs durch die Institutionen", durchdrangen Freiheit und Autoritätsferne allmählich die ganze Gesellschaft; bis hinunter zu den bildungsfernen Schichten, die sich nachmittags Krawall- Talkshows reinziehen und abends den neuesten Porno genießen.



Ob diese dritte Phase der Liberalisierung in Deutschland mehr Gutes getan oder mehr Schaden angerichtet hat, darüber wurde und wird viel philosophiert. Vermutlich vermehrt in diesem Jahr, in dem sich die Ereignisse von 1968 zum vierzigsten Mal jähren. Vermutlich ohne Ergebnis; denn wie soll man eine so allgemeine Frage vernünftig beantworten?

Man kann den Folgen der Achtundsechziger Revolution aber im Kleineren, im Detail nachgehen.

In einem Detail beispielsweise, mit dem sich der verlinkte Artikel von Necla Kelek in der heutigen FAZ befaßt. Denn der Erfolg der antiautoritären Bewegung ist die zwar nicht einzige, aber eine wesentliche Ursache dafür, daß wir heute in Millionen deutschen, jedenfalls in Deutschland lebender Familien wieder autoritäre Strukturen haben, schlimmer als im Kaiserreich.

Wie das? Weil zu den Grundüberzeugungen dieser Antiautoritären der Multikulturalismus gehörte und gehört.

Von Anfang an verstanden sich viele von ihnen als Teil einer weltweiten Befreiungsbewegung der "Dritten Welt", die sich nicht nur gegen die westliche politische und wirtschaftliche Dominanz richtete, sondern auch gegen den Anspruch, westlichen Werten weltweit Gültigkeit zu verschaffen.

Dieser Multikulturalismus fand in Deutschland seinen Ausdruck in der Art, wie Einwanderer gesehen und behandelt wurden und werden; vor allem die zahlenmäßig immer mehr dominierenden aus der Türkei.

Auf eine gradezu groteske Weise wurde und wird das traditionell geprägte Denken, wurden und werden die autoritären Strukturen bei diesen Einwanderern nicht nur toleriert, sondern oft nachgerade verherrlicht.

Ich entsinne mich an eine Sendung des Zweiten Programms des WDR, die sich mit Begeisterung mit dem Kopftuchtragen bei Türkinnen befaßte: Wie schön das doch sei, wenn die Frauen sich je nach Stimmung das eine oder andere Kopftuch aussuchten. Bis zu einer Welle der Bauchtanz- Begeisterung reichte diese Verklärung der Kultur eingewanderter Moslems.

Gewiß, es gibt in den letzten Jahren ein Umdenken. Aber es ist noch immer überwiegend auf einzelne Autoren und Gruppen beschränkt, auf Liberal- Konservative zum Beispiel im Umkreis der "Achse des Guten", auf einzelne Feministinnen wie Alice Schwarzer, auf Blogs wie diesen.



Von den herrschenden Medien, von den führenden Politikern und Parteien wurde und wird, jedenfalls bis vor kurzer Zeit, kaum der Versuch gemacht, gegen die autoritären Familien- Strukturen, gegen das freiheitsfeindliche Denken, gegen die Intoleranz vieler dieser Einwanderer auch nur Einspruch zu erheben; geschweige denn das alles zurückzudrängen und unsere freiheitlichen Werte offensiv dagegen zu setzen.

Das Ergebnis beschreibt anschaulich und eindringlich der Artikel der türkischstämmigen deutschen Soziologin Kelek, dessen Lektüre ich dringend empfehle.



Nachtrag: Sehr lesenswert auch der aktuelle Kommentar von Necla Kelek zu den gestrigen Äußerungen Erdogans.

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