9. Dezember 2012

Morsi und das Militär

Wenn Sie Ihre Informationen über die Vorgänge in Ägypten aus dem Fernsehen und der Qualitätspresse beziehen, dann haben Sie wahrscheinlich in den letzten Wochen den Eindruck gehabt, daß es in Ägypten nur zwei Machtfaktoren gibt: Morsi mit seinen Moslembrüdern und die "Opposition". Die eigentliche Macht im Land, das Militär, fand und findet kaum Berücksichtigung.

Gestern beispielsweise überschrieb "Spiegel-Online" einen Artikel: "Verfassungskrise in Ägypten - Mursi schmiedet Pakt mit Militär"; und im Vorspann hieß es, Morsi wolle "offenbar das Militär autorisieren, härter durchzugreifen".

Solch ein Satz zeigt die völlige Verkennung der realen Machtverhältnisse. Es waren nicht die Moslembrüder und auch nicht die städtischen Oppositinellen, die Mubarak gestürzt haben; es war vielmehr das Militär, das sich seiner im Februar 2011 entledigt hat (siehe Der schönste Militärputsch, den es je gab? Mubarak, Obama und Mohamed Hussein Tantawi; ZR vom 12. 2. 2011).

Das Militär konnte das, weil es sich im Lauf der Jahrzehnte in Ägypten eine Machtposition aufgebaut hatte, die weit über die klassischen Aufgaben von Soldaten hinausgeht.

Das moderne Ägypten verdankt seine Existenz zwei Militärputschen, denen des Generals Naguib im Juli 1952 und des Obersten Nasser im November 1954. Sowohl Nassers Nachfolger Anwar Sadat als auch Hosni Mubarak waren Berufssoldaten; Mubarak war von 1972 bis 1975 Oberkommandierender der ägyptischen Luftwaffe, im Rang eines Luftmarschalls (Air chief marshal).

Seither war das Militär nicht nur ein Staat im Staate, es war (und ist) vielmehr in mancherlei Hinsicht der Staat. Es betreibt ein umfangreiches Geschäftsimperium. Die Banken waren bis vor wenigen Jahren verpflichtet, dem Militär Geld zu "leihen", das nie zurückgezahlt wurde.

Mubaraks Sohn Gamal versuchte in den letzten Jahren, dieses System zu beseitigen; das dürfte ein wesentlicher Grund für den Putsch des Militärs gegen Hosni Mubarak gewesen sein, der seinen Sohn als Nachfolger aufzubauen versucht hatte (siehe Stratfors Analysen: Die Ökonomie Ägyptens; ZR vom 18. 2. 2011).

Nach Mubaraks Sturz lag die Macht in den Händen des Obersten Militärrats (SCAF). Das blieb auch nach der Wahl Morsis zum Präsidenten so, bis dieser in einer überraschenden Aktion Mitte August den SCAF zu entmachten suchte, indem er dessen führende Köpfe kaltstellte, darunter seinen Vorsitzenden, Feldmarschall Hussein Tantawi (siehe Morsi macht sich zum unumschränkten Machthaber. Der Machtkampf in Ägypten geht in seine entscheidende Phase; ZR vom 13. 8. 2012).

Seither schien das Militär bereit zu sein, sich aus der Politik herauszuhalten; als Gegenleistung dafür, daß Morsi nicht an seinen Privilegien rüttelte. Aber damit hatte es seine Macht nicht unwiderruflich aufgegeben; sie eher suspendiert.

Jetzt hat sich, seit Morsis Erlaß zur Verfassung und dem Durchpeitschen des islamistisch geprägten Verfassungs­entwurf, eine Lage ergeben, in der das Militär sich offenbar nicht länger zurückhalten will.

Vorgestern überschrieb Stratfor einen Artikel"In Egypt, the Military's Power Endures" - In Ägypten dauert die Macht des Militärs an.

Die Moslembruderschaft versuche zwar ihre Macht auszuweiten, heißt es dort, aber das Militär sei nach wie vor der stärkere Faktor. Am Freitag erteilte Morsi nicht etwa dem Militär Befehle, sondern verhandelte mit ihm. Das Militär war es, das entschied, sich in den Machtkampf einzuschalten.



Es verstärkt sich der Eindruck, daß Morsi sich übernommen hat. Bisher war es die Strategie der Moslembruderschaft gewesen, die Macht vorsichtig und schrittweise zu erobern; sich immer nur soviel davon anzueignen, daß es zu keinen größeren Protesten kommen würde.

Mit seinem Erlaß vom 22. November hat Morsi diese Strategie verlassen; teils, weil er sich vermutlich nach seiner erfolgreichen Vermittlung zwischen Israel und der Hamas besonders stark fühlte, teils wegen des Terminplans zur Verfassung (siehe Marginalie: Der Machtkampf in Ägypten spitzt sich zu. Der Terminplan und die drei Hauptakteure; ZR vom 1. 12. 2012).

Er hat genau das getan, was die Moslembruderschaft nicht erst seit dem Sturz Mubaraks, sondern in ihrer ganzen Geschichte vermieden hat: Sich der offenen Konfrontation zu stellen, solange man noch nicht alle Schalthebel der Macht mit schrittweiser Salamitaktik besetzt hat.

Vor eineinhalb Wochen konnten Sie in ZR unter der Überschrift "Hat Morsi zu hoch gepokert?" diese Analyse lesen:
Die Strategie der Moslembrüder ist es, sich solange bescheiden, bündnisorientiert und pluralistisch zu geben, wie sie noch von der Macht entfernt sind. Bietet sich die Chance auf Ergreifung der Macht, dann ist davon keine Rede mehr; dann legt man offen, daß das Ziel der islamistische Staat unter der Scharia ist (siehe "Morsi hat die Macht an sich gerissen"; ZR vom 26. 11. 2012).

Das taktische Kunststück bei dieser Zwei-Phasen-Strategie ist es, den Übergang von der ersten zur zweiten Phase richtig zu terminieren. Es scheint, daß dem Präsidenten Morsi dabei jetzt ein Fehler unterlaufen ist. (...)

Morsi mochte gehofft haben, daß im Gefolge dieses persönlichen Triumphs der zweite Teil seines Staatsstreichs auf keinen großen Widerstand mehr treffen würde. Aber die letzten beiden Tage haben gezeigt, daß dies ein Irrtum war. (...)

Bei den Unruhen Anfang 2011 nutzte das Militär die Demonstrationen, um sich Mubaraks zu entledigen. Es ist möglich, daß dann, wenn die Auseinandersetzungen zwischen Morsis Regierung und Demonstranten eskalieren, das Militär noch einmal auf die politische Bühne zurückkehrt, von der es sich ja erst vor kaum einem Vierteljahr vorerst verabschiedet hatte.
Es scheint, daß dieser Fall jetzt eingetreten ist.
Zettel



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