6. Dezember 2012

Aufruhr in Arabien (37): Chemiewaffen, Patriot-Raketen, das Schicksal des Assad-Clans. Hintergründe der aktuellen Entwicklung in Syrien

Das Interesse der Medien ist, was den Aufruhr in Arabien angeht, im Augenblick auf Ägypten gerichtet. Aber es spricht Vieles dafür, daß der Fokus demnächst wieder nach Syrien schwenken wird. Denn dort könnte sich der Endkampf anbahnen.

Die Rebellen rücken, so berichtete es gestern Stratfor, auf Damaskus vor. Das hat zu diplomatischen Aktivitäten geführt, die vor allem um zwei Fragen kreisen:­

Vorrangig für den Westen ist es, zu verhindern, daß Assads Chemiewaffen nach dessen Sturz in die Hände der Sieger, also auch von Terroristen, fallen (siehe Assads Chemie­waffen: Wann würde der Westen intervenieren?; ZR vom 25. 7. 2012).

Für Assad und seinen Clan geht es darum, dem Schicksal Gaddafis zu entkommen; aber auch dem Schicksal, vor den den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gestellt zu werden.

Die beiden Komplexe haben sich jetzt dadurch verbunden, daß Assad offenbar die Karte der Chemiewaffen spielt. Mit Chemiewaffen ausgerüstete Einheiten sollen sich in Richtung Aleppo bewegen, die noch immer umkämpfte größte Stadt Syriens (siehe Stratfor zu Hintergrund und Bedeutung der Schlacht um Aleppo; ZR vom 31. 7. 2012).

Assad könnte mit dieser Drohgebärde versuchen, den Westen in den geheimen Verhandlungen über eine geregelte Machtübergabe bei sicherem Geleit für ihn und seine Familie unter Druck zu setzen.

In diesen Kontext läßt sich auch die Entscheidung der Nato einordnen, der Türkei Patriot-Flugabwehrraketen zu liefern. Das syrische Außenministerium hat erklärt, es würde Chemiewaffen - wenn es sie hätte - niemals "gegen die eigene Bevölkerung einsetzen". Ein Einsatz gegen andere Länder oder Invasionstruppen wurde damit nicht ausgeschlossen. Allerdings wären die Patriot-Raketen nicht geeignet, chemische Geschosse abzufangen, die von Artillerie verschossen werden.



Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen der letzten Tage und Stunden sind zwei unbestätigte Informationen interessant:
  • Der Nachrichtendienst Debka, der über gute Quellen in Israel verfügt, allerdings nicht immer zuverlässig ist, berichtet, daß sich US-Spezialeinheiten in Jordanien seit zwei Monaten auf einen Einsatz gegen Assads Chemiewaffen vorbereiten würden. Außerdem liege vor der syrischen Küste das US-Kriegsschiff Iwo Jima mit einer Eingreiftruppe von 2.500 Marines an Bord, die mit Amphibienfahrzeugen ausgerüstet seien.

  • Stratfor brachte gestern um 19.34 MEZ einen Bericht, wonach der "Überläufer" Jihad Makdisi, der Sprecher des syrischen Außenministeriums gewesen war, in Wahrheit in geheimer Mission zur Rettung Assads und seines Clans losgeschickt wurde.
  • Makdisi war mit seiner Familie nach London geflohen, soll aber nach einem Bericht des Guardian inzwischen in die USA weitergereist sein. Laut Stratfor ist er Assad treu ergeben; er käme für einen solchen Auftrag in Frage, weil er fließend Englisch spricht und gute internationale Kontakte hat.

    Stratfor schreibt, einen ähnlichen Vorgang habe es schon einmal gegeben. Riad Hijab, der erst zwei Monate zuvor zu Assads Premier ernannt worden war, setzte sich im August nach Jordanien ab und verhandelte, so Stratfor, danach mit den USA und Rußland über sicheres Geleit für Assads Clan. Auch der stellvertretende syrische Verteidigungsminister Faisal al-Miqdad soll an diesen Verhandlungen beteiligt sein und in Kuba, Venezuela und Ecuador wegen eines möglichen Asyls für den Clan sondiert haben.

    Der Westen hat ein Interesse daran, daß die Chemiewaffen nicht in die Hände sunnitischer Terroristen fallen. Assads vitales Interesse ist es, nicht vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gestellt zu werden. Ein Deal bietet sich eigentlich an; aber dem steht das Prinzip entgegen, Diktatoren für ihre Verbrechen international zur Verantwortung zu ziehen.

    Als in Libyen der Bürgerkrieg im Gang war und Gaddafi sich weigerte aufzugeben, hat George Friedman zu bedenken gegeben, ob nicht die Existenz des Internationalen Strafgerichtshofs Bürgerkriege in die Länge zieht, weil sie dem Aushandeln eines Machtwechsels im Wege steht. Ich habe Friedmans Artikel damals dokumentiert (Stratfors Analysen: "Das Haager Gericht stärkt Gaddafis Widerstand". George Friedman über juristischen Absolutismus; ZR vom 6. 7. 2011).
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.