30. Dezember 2009

"Bagatelldelikte" und das Arbeitsrecht. Wie eine Richterin "Empörung" auslöste, indem sie die Rechtslage schilderte

In der DDR war es - so habe ich mir sagen lassen - allgemein üblich, sich das Eine oder Andere, das man brauchte, aus seinem Betrieb zu "besorgen".

Die Betriebe waren schließlich volkseigen, und man selbst gehörte ja zum Volk. Man nahm sich also, recht betrachtet, nur etwas von seinem Eigentum. Und anders kam man in der Mangelwirtschaft ja auch an vieles gar nicht heran.

Auch zum Zwecks des Tauschs diente das "Besorgen"; um auf diesem Weg an knappe Güter zu gelangen, zu denen wiederum ein anderer Zugang hatte. Auf die er also Zugriff hatte; im Rahmen des stillschweigend Geduldeten. So wusch eine Hand die andere.



Im Kapitalismus sind die Beschäftigten im allgemeinen nicht die Eigentümer des Betriebs, in dem sie arbeiten. Hier herrscht auch keine Mangel- und keine Tauschwirtschaft. Aber Zugang haben die Beschäftigten natürlich auch zu Vielem. Zu Arbeitsmaterialien, zu Waren. Also besteht auch hier die Möglichkeit des Zugriffs.

Weil diese Möglichkeit besteht, war und ist es in vielen Betrieben üblich, der Versuchung durch Regelungen zu begegnen, die den Beschäftigten legal etwas von den Produkten zukommen lassen, die sie herstellen. Bierbrauer und Winzer dürfen zum Beispiel den sogenannten "Haustrunk" zu sich nehmen. Beschäftigte in einer Tortenfabrik dürfen pro Woche ein Torte mit nach Hause mitnehmen; dergleichen.

Sofern eine solche Regelung nicht getroffen ist, haben die Beschäftigten Zugang zu Materialien und Waren, aber der Zugriff ist ihnen verwehrt. Daß sie sich daran halten, kann und will der Betrieb aber in der Regel nicht lückenlos überwachen. Er muß seinen Mitarbeitern folglich vertrauen.



Im zu Ende gehenden Jahr sind immer wieder Meldungen - offensichtlich von den Gewerkschaften lanciert - durch die Medien gegangen, wonach Mitarbeiter wegen "Bagatelldelikten" fristlos entlassen wurden. Weil sie von den Brötchen und Frikadellen gegessen hatten, die sie anrichten sollten. Weil eine Altenpflegerin sechs Maultaschen nach Hause mitgenommen hatte. Einen Überblick über diese und andere Fälle findet man im "Stern".

Berühmt wurde der "Fall Emmmely": Kaiser's kündigte einer Angestellten, weil sie sich einen Pfandbon im Wert von 1,30 Euro angeeignet hatte. Der Fall wurde von der Gewerkschaft groß herausgestellt und sozusagen zum Symbol für das Thema erhoben. Er paßte ja auch sehr schön in das Generalthema "Soziale Gerechtigkeit".



Zu solchen Fällen und dem Thema allgemein interviewte nun gestern die "Süddeutsche Zeitung" die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in Erfurt, Ingrid Schmidt. Eine Passage aus dem Interview, das D. Esslinger führte:
SZ: Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse von der SPD hat die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte neulich barbarisch und asozial genannt. Er regt sich über etwas anderes auf: Dass man fristlos gekündigt werden darf, wenn man sechs Maultaschen mitnimmt.

Schmidt: Diese Kritik war völlig daneben. Seit Jahrzehnten sagt die Rechtsprechung: Diebstahl und Unterschlagung auch geringwertiger Sachen sind ein Kündigungsgrund. Es gibt in dem Sinne also keine Bagatellen. Jeder frage sich mal, wie viel er sich denn aus der eigenen Tasche nehmen lassen würde, bevor er reagiert. Wir Arbeitsrichter müssen aber prüfen, ob ein Arbeitgeber mit Recht sagen kann: Ich habe das Vertrauen in meinen Mitarbeiter verloren und will mich deshalb von ihm trennen. Oder wiegt das Interesse des Arbeitnehmers schwerer - sodass der Arbeitgeber angewiesen werden muss, den Mitarbeiter zu behalten?
Eine Auskunft also über die Rechtslage und der Hinweis darauf, daß die Arbeitsgerichte in jedem Einzelfall zwischen den Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber abwägen müssen.

Vernünftig genug, sollte man meinen. Aber diese sachliche Auskunft hat, man sollte es nicht glauben, einen "Sturm der Empörung" ausgelöst:
"Nicht zeitgemäß", echauffierte sich der grüne Rechtsexperte Jerzy Montag. "Eine ziemlich abgehobene Lebenswirklichkeit", diagnostizierte Gesine Lötzsch von der Linksfraktion. "Irritiert" gab sich die SPD-Abgeordnete Anette Kramme.
Früher ließ mancher Herrscher einem Boten den Kopf abschlagen, weil er eine schlechte Nachricht überbrachte. Heute wird eine Richterin dafür gescholten, daß sie die Rechtslage schildert, wie sie nun einmal ist. Basierend auf der ständigen Rechtsprechung des BAG.



Diese geht zurück auf das berühmte "Bienenstich- Urteil" vom 17.5.1984. Dessen Leitsatz lautet:
Auch die rechtswidrige und schuldhafte Entwendung einer im Eigentum des Arbeitgebers stehenden Sache von geringem Wert durch den Arbeitnehmer ist an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung abzugeben. Ob ein solches Verhalten ausreicht, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen, hängt von der unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls vorzunehmenden Interessenabwägung ab.
Nichts anderes hat Ingrid Schmidt in den Interview gesagt, das jetzt "Empörung" auslöst.

Und wenn Sie ein wenig Zeit haben und sich einmal ansehen wollen, mit welcher Sorgfalt die Arbeitsgerichte zwischen den Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer abwägen, dann lesen Sie einmal eines dieser beiden Urteile, oder beide:

Im einen Fall (Urteil des BAG vom 12. 8. 1999) geht es um einen Zug- Steward bei der Deutschen Bahn, der zwei Packungen Schinken, eine Dose Pflanzenöl sowie drei Porzellantassen nach Dienstschluß hatte mitgehen lassen.

Der zweite Fall (Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden- Württemberg vom 20. 10. 2004) betrifft eine Hotelangestellte, die sich verbotswidrig mit hoteleigenem Kaffee bedient hatte.

Beide wurden fristlos entlassen. Im ersten Fall bestätigte das BAG die Rechtmäßigkeit; im zweiten Fall wurde eine fristgemäße (ordentliche) Kündigung für angemessen gehalten.

Auf den ersten Blick mag das ebenso gegen Ihr Rechtsempfinden verstoßen wie eine Kündigung wegen sechs Maultaschen.

Aber lesen Sie die Urteile oder werfen Sie wenigstens einen Blick hinein. Dann verstehen Sie nicht nur, mit welcher Akribie die Arbeitsgerichte entscheiden, sondern Sie lernen auch die näheren Umstände der Fälle kennen, die diese Entscheidungen nachvollziehbar machen. Vermutlich auch für Ihr Rechtsempfinden.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Statue der Justitia am Rathaus von Antwerpen. Ihre Augen sind nicht verbunden. Foto: belgiancholocate; unter Creative Commons Attribution 2.0 License freigegeben.