15. Dezember 2006

Rückblick: Das Leben der Anderen. Oder: Einmal ist keinmal

Für diesen Rückblick auf den Blog zu dem Film "Das Leben der Anderen" gibt es zwei Anlässe, einen objektiven und einen subjektiven.

Der objektive ist, daß der Film gestern für den Golden Globe nominiert wurde.

Deutscher Filmpreis, Europäischer Filmpreis, jetzt diese Nominierung - der Film erklimmt sozusagen Stufe um Stufe. Oder: Die Wellen breiten sich aus wie bei einem ins Wasser geworfenen Stein. Oder: Der Newcomer wird weitergereicht Oder: Sein Ruhm strahlt von Deutschland nach Europa, von Europa in die globalisierte Welt.



Warum fällt mir zu diesem Film ein Bild nach dem anderen ein? Ich glaube, weil es ein in seinen Bildern, in seinen Details eindringlicher Film ist. Womit ich beim subjektiven Motiv für diesen Rückblick bin.

Dadurch, daß der Film in Warschau prämiert worden war, wurde er in unserem örtlichen Filmkunsttheater noch einmal ins Programm genommen; und vorgestern haben meine Frau und ich ihn zum zweiten Mal gesehen.

Ich habe ihn bei diesem zweiten Mal mit anderen Augen gesehen. Einen guten Film muß man eigentlich (mindestens) zweimal sehen. Wie man ein Buch, das man ernst nimmt, zweimal lesen, eine bedeutende Theateraufführung zweimal sehen sollte. Einmal ist keinmal.

Denn man sieht beim zweiten Mal ja nicht denselben Film, nicht dieselbe Inszenierung. Man liest ja nicht dasselbe Buch. Das erste Mal ist man wie einer, der fremdes Gelände erkundet. Das zweite Mal nimmt man vertrautes Terrain genauer in Augenschein.

Also achtet man auf ganz Anderes. Das zweite Mal wiederholt nicht das erste Mal, sondern es gibt ihm erst das Detail, die Eindringlichkeit.



Beim ersten Sehen, beim ersten Lesen ist die Ebene der Betrachtung weit oben angesiedelt in der Hierarchie kognitiver Repräsentationen. Es geht um die Handlung, den Zusammenhang des Geschehens, die allgemeine Atmosphäre. So, wie man beim ersten Blick auf ein Bild erst einmal guckt, was überhaupt dargestellt ist - also das Thema beachtet, das Genre, die Anmutungsqualitäten.

Beim zweiten Kennenlernen wird aber erst richtig "kennen gelernt". Man bemerkt jetzt die Details. Man kann erst jetzt auf sie achten, weil man ja den Rahmen kennt, in den sie gehören. Beim ersten Mal guckt man sozusagen durchs Teleskop, beim zweiten Mal wenn auch nicht gleich ins Mikroskop, so doch mit dem, sagen wir, "unbewaffneten" Blick des sich Nähernden auf die Einzelheiten.

Ohne einen Rahmen, ohne ein Bezugssystem ergeben Details keinen Sinn. Den "hermeneutischen Zirkel" hat man das hochtrabend genannt, in der irrigen Annahme, die Kenntnis des Ganzen würde schon die Kenntnis der Details voraussetzen. Was ja gar nicht der Fall ist. Sondern man startet mit der Vogelperspektive und arbeitet sich sozusagen zur Froschperspektive vor. Oder hinab, wenn man so will.



So ist es mir mit diesem Film ergangen.

Beim ersten Sehen hat mich die Handlung gefesselt, das Spiel des großen Ulrich Mühe und des nicht minder großen Thomas Thieme, der einen Preis für den besten Nebendarsteller verdient gehabt hätte, auf nationaler und internationaler Ebene. Für mich war er der überragende Schauspieler in diesem Film, in dem auch andere - Ulrich Tukur, Sebastian Koch - glänzend gespielt haben.

Beim zweiten Sehen ist mir aber auch Anderes aufgefallen.

Beispielsweise die Farben der DDR. Dieser Staat hatte ja seine eigene, triste Ästhetik. Nicht einfach nur grau; sondern alle diese gedeckten Grüns, Bleus und Rosas; als Hintergrund für das grelle Rot und Gelb der Agitation. Bonbonfarben, ja, aber matte, ungesättigte. So, als hätte dieser Staat schon mit seinen Farben die ganze Gehemmtheit, die ganze Erbärmlichkeit, die miese Kleinbürgerlichkeit des Systems zum Ausdruck bringen wollen.

Beispielsweise die intellektuelle Ernsthaftigkeit Ulrich Mühes - Gerd Wieslers also - von Anfang an. Beim ersten Sehen des Films habe ich ihn am Anfang des Films nur als einen brutalen MfS-Offizier wahrgenommen. Aber das war er ja gar nicht. Auch nicht anfangs. Er war um die Sache bemüht, nur um sie. Wie entlarvt man den Schuldigen? Dafür gibt es eben gewisse Techniken; die brachte er seinen Schülern bei.

Dieser Wiesler hat sich ja - und das habe ich erst beim zweiten Anschauen verstanden - im Lauf des ganzen Films überhaupt nicht geändert. Er war am Anfang der emotional vertrocknete, anständige Intellektuelle, der er auch am Ende noch war. Er war im Grunde der Kommunist par excellence. Der Kommunist im real existierenden wie auch im heute noch propagierten Sozialismus.

Er hat im Lauf der Handlung nur neue Erfahrungen gemacht. Erfahrungen, die ihn nicht verändert haben, die aber sein Handeln beeinflußt haben.

Redlich, konsequent, intelligent, emotionsarm, wie er schon in den ersten Szenen des Films gewesen war, hat er aus diesen Erfahrungen seine Konsequenzen gezogen. Ohne sich ändern zu müssen; ohne sich auch ändern zu können.



Denn - so interpretiere ich den Film - die psychischen Deformationen, die jemandem vom Kommunismus zugefügt wurden, kann man nicht reparieren. Man kann sie nur, wenn man ehrlich ist, akzeptieren.

13. Dezember 2006

Rückblick: Verbieten, regulieren, kontrollieren

Um's Verbieten und Regulieren ging es hier kürzlich zweimal: Um das beabsichtigte Verbot des Rauchens in Gaststätten und zuvor um das von einigen Politikern geforderte Verbot von Killerspielen.

Blickt man heute in die Nachrichten, dann findet man beides weiterhin als innenpolitische Hauptthemen. Die Ministerin Ulla Schmidt will jetzt, nachdem sie die Hoheit über die Luft in den Gaststätten nach Juristenmeinung nicht hat, sich mit einem "strengen Rauchverbot" in den Zügen der Deutschen Bahn schadlos halten. Ein insofern aparter Gedanke, als ja bisher das geplante Rauchverbot mit dem Schutz Unbeteiligter vor Erleiden des Passivrauchens begründet wurde. Wo mögen die in den Raucherabteilen der Züge sein?

Das Verbot von Killerspielen ist ebenfalls weiter in den Schlagzeilen. Und als wenn das nicht genug wäre: Ein Vorstoß zur Verschärfung der Kontrollen im Bereich des Lebensmittelrechts wird heute vom Land NRW angekündigt; natürlich in Gestalt eines Gesetzes oder einer Gesetzesänderung.

Genug für einen Tag? Nein, immer noch nicht. Als viertes Verbotsthema beschäftigt heute das Glücksspiel die Medien. "Lotto im Internet verboten" titelt die Online-Ausgabe des "Manager Magazin". Die Ministerpräsidenten haben sich, so heißt es in der Meldung, mit großer Mehrheit auf einen Staatsvertrag verständigt, der ein Verbot von Glücksspielen im Internet vorsieht, einschließlich Lotto.

Hübsch in diesem Artikel zu lesen ist die Stellungnahme eines Psychologen, der in Bremen über die Gefahren des Glücksspiels forscht:
Nach Ansicht des Bremer Suchtforschers Prof. Gerhard Meyer macht Lotto-Spielen nur selten süchtig. Nur sechs Prozent der Menschen in Beratungsstellen für Glücksspielsucht hätten Probleme mit Lotto. Meyer sprach sich aber für ein staatliches Glücksspielmonopol aus, "weil der Spielerschutz so effektiver umzusetzen ist als über private Anbieter." Private seien stark auf Gewinnsteigerung ausgerichtet.
Wenn ich Meyer nicht falsch verstehe, dann sagt er: Zu rechtfertigen ist ein Verbot von Lotto im Internet eigentlich nicht. Aber Schützen ist immer gut, und am besten schützt der Staat.



Il est interdit d'interdire - es ist verboten, zu verbieten. Das war einer der Slogans des Pariser Mai '68. Eine der Parolen aus der Frühzeit der damaligen Bewegung, als sie noch (auch, jedenfalls ein bißchen) liberal (oder libertär) war; das gab's ja mal, bevor man Marx zu lesen begann, statt weiter nur Coca-Cola zu trinken.

Was wir im Augenblick in Deutschland, in Europa erleben, das ist sozusagen die späte Rache an dieser liberalen Bewegung; nachgerade eine Orgie des Verbietens, des Regulierens, der Eingriffe in die Freiheit der Bürger.

Und es mag Zufall sein oder nicht - jedenfalls geht es im Augenblick um's Essen, um's Rauchen, um's Spielen. Also um die lustvolle Befriedigung von Bedürfnissen. Das hat die Tugendhaften schon vor Jahrtausenden auf den Plan gerufen, als sie noch im Gewand des Propheten auftraten. Verbieten - sich selbst und anderen -, das ist die Lust derjeniger, die ansonsten eher wenig Talent zur Lust haben.

Wie es bei Wilhelm Busch (Fipps der Affe, sechstes Kapitel) heißt:
Wer vielleicht zur guten Tat
Keine rechte Neigung hat,
Dem wird Fasten und Kastein
Immerhin erfrischend sein.

Anmerkungen zur Sprache (4): Ein Prosit an der Symbol-Bar

Wie verbessert man sein Deutsch? Indem man zum Beispiel ein Programm zur Stilprüfung herunterlädt und es mit MS Word integriert. Wie heißt dieses Programm? Kein Witz: Style Checker.

Und da es ja nur unseren Style zu checken verspricht und nicht etwa auch unser Spelling, nehmen wir den Verkäufern dieses Produkts nicht übel, daß sie auf ihrer WebSite mit dem Spruch werben: "Hohlen [sic!] Sie sich den neuesten StyleCecker."



In der obigen Passage habe ich ziemlich viele Wörter aus anderen Sprachen verwendet. Einige in ironisierender Absicht; aber nicht alle.

Natürlich gibt es keinen vernünftigen Grund, statt "Rechtschreibung" das englische "Spelling" zu verwenden. Das habe ich getan, um StyleChecker ein wenig zu veralbern.

Aber das "sic!" in eckigen Klammern habe ich verwendet, weil man auf diese Weise seit Jahrhunderten darauf aufmerksam macht, daß eine fehlerhafte Schreibung oder Formulierung kein Fehler des Autors oder des Setzers ist, sondern daß sie mit Absicht so gewählt wurde, weil der Fehler so im zitierten Original steht. In solch einem Fall schreibt man nun einmal "sic!"; die Alternative wäre ein umständliches "so im Original".

Und "WebSite" habe ich verwendet, weil ich kein besseres Wort weiß. "Netzseite" ist schlicht falsch; eine reine Klangassoziation. Ungefähr so, als würde man "horse" mit "Hase" übersetzen. Eine site ist ein Ort, eine Lage, ein Platz, eine Stätte, dergleichen. "Webauftritt" oder "Netzauftritt" liest man gelegentlich - umständliche, auch inhaltlich unpassende Verdeutschungen. Und manche verwenden gar "Homepage" für eine WebSite, was aber "Startseite" heißt und nicht etwa "eigene Seite" oder so etwas.



Mit der Schreibweise "WebSite" habe ich gleich auch noch gegen die deutsche Rechtschreibung verstoßen, die keine Großbuchstaben im Inneren eines Wortes kennt. Und zwar deshalb, weil ich eine solche Schreibweise zusammengesetzter Wörter aus Gründen der Lesbarkeit manchmal für vernünftig halte; auch als kleine Hommage an Arno Schmidt, der diese Variante der VerSchreibKunst entwickelt hat. Da es seit dem NeuSchreibChaos ohnehin keine einheitliche deutsche Rechtschreibung mehr ergibt, erlaube ich mir diese Freiheit.

Bewußt habe ich auch "Hommage" geschrieben. Weil das mit "Ehrung", "Verbeugung", "Anerkennung" nur unscharf wiedergegeben wäre.

Mir scheint, "Hommage" und "WebSite" sind Bereicherungen des Deutschen. Solche Bereicherungen aus einem dogmatischen Sprachpurismus heraus abzulehnen, kommt mir ebenso unvernünftig vor wie die Verwendung von albernen, überflüssigen Anglizismen.



Das Deutsche rein halten zu wollen ist ein undurchführbares, ja ein widersinniges Vorhaben. Denn es setzt voraus, daß es überhaupt eine reine deutsche Sprache gibt oder zumindest gegeben hat.

Jeder weiß aber, daß das nicht so ist. Im Lateinunterricht lernt man, welche deutschen Lehn- oder Fremdwörter von den lateinischischen Vokabeln abgeleitet wurden, die man sich einprägen soll. Das erleichtert das Lernen. "Fenestra" hat unser "Fenster" hervorgebracht, "tabula" die "Tafel" wie auch die "Tabelle". Die "cella" wurde zum "Keller" ebenso wie zur "Zelle", "crassus" zu "kraß". Andere lateinische Wörter wurden im Deutschen heimisch, ohne lautlich assimiliert zu werden - der "Minister", im Lateinischen ein "Diener" (woran man gelegentlich erinnern sollte), der "Dozent" zum Beispiel. Manche finden sich in der Urform wie auch in einer assimilierten Form - "prosit!" zum Beispiel neben "prost!".

Ebenso war es später mit dem Französischen, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert. Manche ursprünglich lateinischen Wörter sind mehrfach ins Deutsche gelangt - das "palatium" zum Beispiel in der fränkischen Zeit als "Pfalz", später als "Palast" und dann noch einmal als "Palais".

Und wenn heute Sprachreiniger uns (berechtigterweise) die dummen Anglizismen austreiben wollen, dann müssen sie aufpassen, daß sie uns als Ersatz nicht dumme Latinismen oder Französismen der Vergangenheit vorschlagen - sagen wir, statt "Hair Stylist" den guten alten "Frisör", statt "Controller" den "Kontrolleur", statt "Dossier" die "Akte" oder statt "Motherboard" die "Hauptplatine".



Wer mir im dritten Teil dieser Serie bei der Kritik an Anglizismen zugestimmt hat, der wird sich vielleicht wundern, daß ich jetzt scheinbar gegen die Sprachreiniger Front mache. Aber ich kritisiere ja nicht ihr Vorhaben als solches, dem im Gegenteil meine Sympathie und Unterstützung gilt. Nur finde ich, daß es nicht um Reinheit oder Verunreinigung geht, sondern um dumme, nutzlose und gespreizt klingende Übernahmen aus anderen Sprachen auf der einen Seite; und auf der anderen Seite um Bereicherungen durch Wörter und Ausdrücke, für die das Deutsche noch keine gute Entsprechung hatte.

Oft kommt mit dem neuen Wort ja die neue Sache; - wie einst vinum und die schola, wie später das parfum und die perruque, so heute das internet und der CD player.

Ob sich dafür deutsche Kunstwörter einbürgern, scheint von mehreren Faktoren abzuhängen - vor allem der Kürze und Eingängigkeit des konkurrierenden deutschen Worts. "Festplatte" ist genauso kurz wie "hard disk" und konnte sich also durchsetzen, wie auch "löschen" für "to delete" und "speichern" für "to store". Aber für "laptop" gibt es eine solche griffige Eindeutschung halt nicht, oder für "scanner"; also wurde hier das englische Wort übernommen.

Manchmal freilich kann das auch zu Kuriosem führen. Ein Programm, das ich viel nutze und dessen Namen ich nicht verrate, übersetzt - es geht um die Anordnung von Symbolen auf einer Leiste (englisch "bar") - den Begriff "the symbol bar" mit "die Symbol-Bar".

Na denn prost! Oder prosit!



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier.

Das Urteil von Addis Abeba

Ob die Verletzung von Menschenrechten, ob Massenmorde an politischen Gegnern weltweit Beachtung finden, hängt hauptsächlich davon ab, ob sie den USA oder zumindest dem Kapitalismus oder allermindestens dem Weißen Mann zugeordnet werden können.

Kann man das, dann finden selbst Vorfälle wie das Herunterspülen eines Korans in ein WC weltweit Beachtung; und man empört sich gebührend über die Täter. Wenn nicht, dann können schon einmal Zehntausende ermordet werden, ohne daß das viel Aufsehen erregt. Zumal, wenn der Täter ein Kommunist ist. Zumal, wenn die Taten sich im dunklen Erdteil zutragen.



Gestern ist einer der schlimmsten Massenmörder des Zwanzigsten Jahrhunderts durch ein äthiopisches Gericht des Genozids für schuldig befunden worden. Anders als Mao und Seinesgleichen hatte Mengistu Haile Mariam die Angewohnheit, seine Opfer bei Gelegenheit eigenhändig ums Leben zu bringen, darunter sehr wahrscheinlich den letzten Kaiser Äthiopiens, Haile Selassie. Human Rights Watch, so schreibt die New York Times, nannte seine Taten "one of the most systematic uses of mass murder by a state ever witnessed in Africa", einen der systematischsten Einsätze des Massenmordes durch irgendeinen Staat in Afrika.

Genaue Opferzahlen nennt die New York Times nicht. Deutlicher wird AP, dessen Meldung eine Zeitung der Region, die Sudan Tribune, ausführlich bringt:
Mengistu, sometimes called "the butcher of Addis Ababa," ruled from 1974 to 1991 after his military junta ended Emperor Haile Selassie’s reign in a bloody coup. Some experts say 150,000 university students, intellectuals and politicians were killed in a nationwide purge by Mengistu’s Marxist regime, though no one knows for sure.

Mengistu, manchmal der "Schlächter von Addis Ababa" genannt, regierte von 1974 bis 1991, nachdem seine Militärjunta die Regentschaft des Kaisers Haile Selassie durch einen blutigen Militärcoup beendet hatte. Einige Experten sagen, daß 150000 Studenten, Intellektuelle und Politiker vom marxistischen Regime Mengistus in einer landesweiten Säuberung ermordet wurden. Aber niemand weiß es genau.
Mengistu, der laut London Times der "afrikanische Pol Pot" genannt wird, ist verantwortlich für Hungersnöte, denen mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen; "devastating famines in which starvation was used to force peasants into submission", also vernichtende Hungersnöte, in denen das Verhungern genutzt wurde, um die Bauern zu unterwerfen, wie die Times schreibt.

Nach der Verurteilung steht Mengistu die Todesstrafe bevor. Er lebt aber in Sicherheit, bei seinem Freund Robert Mugabe in Simbabwe. Wie er ein Kommunist, wie er ein skrupelloser Dikator. Die Strafe wird also kaum vollstreckt werden. Sehr wahrscheinlich wird Mengistu so friedlich im Bett sterben wie Stalin, Mao und Pol Pot, die drei anderen großen kommunistischen Massenmörder.



Menschenrechte in Afrika - das war in den letzten Jahrzehnten des Zwanzigsten Jahrhunderts ein Thema, das viele Menschen in Rage brachte, sie zum Engagement trieb. Das Land, in dem man die Menschenrechte verletzt sah - zu Recht verletzt sah -, war Gegenstand unzähliger Resolutionen, Verurteilungen, von Boykottmaßnahmen: Die Südafrikanische Republik.

In der Tat: Dort wurden bis 1994 Menschenrechte verletzt. Zum Beispiel wurde das Prinzip one man, one vote nicht befolgt; die schwarzen und sogenannten farbigen Einwohner Südafrikas konnten proportional weniger Abgeordnete ins Parlament wählen als Weiße. Auch in anderen Bereichen waren Schwarze und Farbige Bürger minderen Rechts.

Die Empörung, die das weltweit ausgelöst hat, war begründet. Aber in den Jahrzehnten, in denen sie ihren Höhepunkt erreichte - in den siebziger und achtziger Jahren -, wütete in Äthiopien Mengistu so, wie Stalin in den dreißiger Jahren in der Sowjetunion gehaust hatte. Und das Echo bei den westlichen Menschenrechtlern war ähnlich gering.

Ich kann mich an keine Demonstrationen gegen das Mengistu- Regime erinnern, an keine von Schriftstellern und Intellektuellen unterschriebene Resolution, an keinen Boykott. Die vom Mengistu- Regime im Stil von Stalins Ukraine- Politik 1932/1933 herbeigeführte Hungersnot wurde als humanitäres Problem wahrgenommen, nicht als als Massenmord durch einen blutrünstigen Diktator.



Und obwohl Äthiopien uns Europäern doch näher liegt als Chile, wird - so vermute ich - das gestrige Urteil gegen Mengistu in unseren Medien nicht dasselbe Interesse finden wie Pinochets Tod vor einigen Tagen.

12. Dezember 2006

Rückblick: Ein fiktiver innerer Monolog

In einem kürzlichen Beitrag habe ich versucht, mich in die Gedankenwelt eines Kommunisten zu versetzen, den das Ende der DDR nicht in die Resignation getrieben hat, sondern der in der PDS weitermacht.

Meine Kernthese war, daß aus der Sicht eines solchen Menschen überhaupt kein Grund zum Aufgeben besteht. Gut, der Sozialismus hat eine Schlacht verloren, aber damit doch noch lange nicht den Krieg. An der Richtigkeit der wissenschaftlichen Weltanschauung kann ein Rückschlag nichts ändern.

Aber natürlich muß man sich den jetzt gebenen Bedingungen des Kampfs anpassen - also sich tarnen, die Naivität der Demokraten für die eigenen Ziele nutzen, so wie das schon Lenin getan hat.

So, malte ich mir aus, denken die aufrechten, die ehrlichen Kommunisten, die die PDS beherrschen.



Heute habe ich ein hübsches Aperçu dazu gelesen, und zwar im SPIEGEL dieser Woche, unter "Personalien", auf Seite 205. Die Familie Mischa Wolfs dankt jetzt schriftlich den Teilnehmern an der Trauerkundgebung.

Und darunter steht, von Mischa selbst unterzeichnet: "Das letzte Wort ist noch nicht gesagt".

Nein, das ist es nicht.

Die ewiggestrigen Nazis nach dem Zweiten Weltkrieg wußten, daß ihre Zeit vorbei war; sie waren Nostalgiker. Die ewiggestrigen Kommunisten der PDS haben noch lange nicht auf Nostalgie geschaltet.

Das letzte Wort, so denken sie, werden sie sprechen.

Randbemerkung: Merkel vs Beckmann - das war spannend

Gestern Abend: Merkel bei Beckmann.

Beckmann ist der wahrscheinlich geschickteste Interviewer im deutschen TV. Freundlich, sanft, beharrlich. Seine Attacken langsam vorbereitend.

Er ist ein exzellenter Journalist, dem es um nichts anderes geht als die Nachricht. Er will aus seinen Geprächspartnern herauslocken, was sie anderen nicht gesagt haben oder sagen würden. Es ist sein professioneller Triumph, sein Sieg, wenn das gelingt.

Weil er immer fair ist, bekommt er Interviewpartner, die sich anderen verweigern. Weil er fair ist, gönnt man ihm seinen Sieg.



Beckmann arbeitet auf diesen Sieg hin, indem er - ehrlich! - ehrlich ist. Nichts von der hinterhältigen Art von Friedman, seinen Partnern Fallen zu stellen. Nicht die frontale, erbarmungslos provokante Attacke, wie sie bei der BBC in Hard Talk entwickelt wurde.

Beckmann kämpft mit offenem Visier. Der andere weiß, daß Beckmann ihm Nachrichten entlocken möchte. Er kann darauf eingehen, er kann sich verweigern, oder er kann halt - wenn er Beckmann nicht gewachsen ist - das sagen, was er nicht sagen wollte.

X vs Beckmann, so wird gespielt. Meist hat Beckmann am Ende seinen Scoop.

Kurz, Beckmann hat amerikanisches Format. Am meisten erinnert er mich an die CNN-Legende Larry King.



Wenn Beckmanns Partner ebenfalls ein Profi ist und nicht - sagen wir - eine Wüstenforscherin oder ein einem Entführer entronnes Mädchen, dann wird es spannend. So war das gestern, als er die Kanzlerin interviewt hat.

Angela Merkel hat eine Fähigkeit, die sie weit über die meisten Politiker erhebt und die sie mit den wenigen Großen der deutschen Nachkriegspolitik teilt - Adenauer, Brandt, Schmidt - : Sie spielt erfolgreich das politische Spiel, und sie bleibt dabei sachbezogen und aufrichtig.

Das übliche Herumgerede, die gestanzten Phrasen, mit denen Politiker sich dagegen wehren, ausgefragt zu werden - das brauchten und brauchen die in dieser Liga spielenden Politiker nicht. Sie brauchen das nicht aufgrund einer ungewöhnlichen charakterlichen Souveränität, gepaart mit einer ungewöhnlichen Intelligenz.



Das spielte die Kanzlerin gegen Beckmanns Professionalität aus. Man merkte förmlich, wie sie seine Absichten parierte, bevor er auch nur einen Ansatz zum Erfolg gehabt hatte.

Sie wich jedem Versuch von Beckmann, sie zu Zitierfähigem zu verführen, leise lächelnd aus - ob es um den Irak und Bush ging, ob um Putin, ob um die Linken in der CDU.

Sie erkannte sofort, worauf er hinauswollte. Und statt, wie dümmere Politiker, zu entgegnen: "Nein, auf diese Glatteis kriegen Sie mich nicht", hat sie auf diesem Eis ihre eigenen kleinen Pirouetten gedreht.

Was sie antwortete, das waren nicht die üblichen Floskeln, das Mauern. Es war keine Seitwärtsbewegung, kein Wegducken. Sondern ein Parieren dadurch, daß die Kanzlerin das Thema in eine andere Perspektive rückte, es auf eine andere Ebene verlagerte. Sie nahm die Frage zum Anlaß, den Horizont zu erweitern, eine andere Sicht des Themas zu skizzieren.



Ich habe lange nicht mehr eine so spannende TV-Sendung gesehen. Zwei Ebenbürtige, die mit verschiedenen Waffen fochten. Wie bei einem römischen Gladiatorenkampf, wenn einer mit Dreizack und Netz bewaffnet war und der andere mit Schild und Schwert.

Ich stelle mir vor, daß die beiden anschließend einen Wein getrunken und einander ein Remis angeboten haben.

11. Dezember 2006

Rückblick: Was sagte Gates wirklich?

Rückblick auf diesen Beitrag: Heute liest man in SPON:
"No, Sir!" So lautete die Antwort des neuen US- Verteidigungsministers Bob Gates, als er vor kurzem im Senat gefragt wurde, ob Washington im Moment dabei sei, den Krieg im Zweistromland zu gewinnen.
Schau an. Zumindest Dietmar Pieper, altgedienter Redakteur des gedruckten SPIEGEL und Autor dieses Artikels, scheint das Englische zu beherrschen. Oder liest man bei SPON hier in "Zettels Raum" mit? (Hervorhebung von mir).

Randbemerkung: Zwei Tyrannen und ein Todesfall

Einer der beiden großen Diktatoren Lateinamerikas im Zwanzigsten Jahrhundert ist tot. Der andere, dessen achtzigster Geburtstag im August gefeiert wurde, ist, soviel man weiß, auf den Tod krank.

Dem einen, der jetzt gestorben ist, fielen - so heißt es in der Welt -, 3197 Menschen zum Opfer, die in seinen Gefängnissen gefoltert und ermordet wurden; dazu schätzungsweise 1000 "Verschwundene". Die Opfer des anderen wurden vom Boston Globe am Anfang dieses Jahres auf 9240 Menschen geschätzt, die hingerichtet wurden und in Gefängnissen als politische Häftlinge umkamen.

Hinzu kommt eine unbekannte Zahl von in cubanischen Gefängnissen Gefolterten wie zum Beispiel der Dichter Armando Valladares, der nach seiner auf amerikanischen Druck hin erfolgten Freilassung US-Amerikaner wurde und zeitweilig die USA-Delegation bei der UN- Kommission für Menschenrechte leitete. Er hatte wegen seiner Opposition zu Castros Regime 22 Jahre in cubanischen Gefängnissen gesessen; unter nachgerade unfaßbarem Leiden. Ich empfehle sehr die Lektüre seines Berichts.

Hinzu kommen mehr als 70000 Menschen, die bei dem Versuch, der cubanischen Diktatur zu entkommen, ums Leben kamen; die sogenannten "balseros" auf ihren Flößen, die sie nach Florida bringen sollten.



Zu Pinochet erscheinen jetzt die Nachrufe. Sie gehen so harsch mit ihm ins Gericht, wie er es verdient hat.

"Heute ist der chilenische Ex-Diktator Augusto Pinochet im Kreise seiner Familie gestorben. Seinen tausenden Opfern war dies nicht vergönnt: Viele starben durch Folter und landeten im Meer. Für Chile ist der Tod des Greises die Befreiung von einem 33-jährigen Alptraum", schreibt Carsten Volkrey in Spiegel-Online, dem man hier einmal zustimmen kann. "Tausende wurden während seiner Diktatur ermordet, verschleppt und gefoltert. Der Diktator selbst aber wurde für die Menschenrechtsverletzungen unter seiner Verantwortung nie bestraft", hieß es in der ARD-Tagesschau.

Daß Castro für seine Verbrechen noch zur Verantwortung gezogen wird, ist ebenfalls unwahrscheinlich. Nur, seltsam, während es weltweit bedauert wird, daß Pinochet straflos ausging, hört man kaum eine Stimme, die die Bestrafung Castros fordert.

Nun gut, man ist seiner ja nicht habhaft. Insofern mag eine solche Forderung sich dadurch erledigen, daß sie nicht realisierbar ist.

Aber wer würde überhaupt wollen, daß Castro für das, was er den Cubanern angetan hat, zur Verantwortung gezogen wird? Wieviele der Journalisten, die jetzt zu Recht den toten Pinochet verdammen, legen dieselben Maßstäbe an den sterbenden Castro an?

Warten wir die Nachrufe ab, in ein paar Tagen, Wochen oder Monaten.

10. Dezember 2006

Randbemerkung: Politische Fronten

Kürzlich habe ich hier argumentiert, daß die überkommene Links- Rechts- Dimension für den Verlauf politischer Fronten immer mehr an Bedeutung verliert und daß parallel dazu die Konfrontation zwischen Staatsgläubigen auf der einen und Befürwortern der Freiheit und Verantwortlichkeit der Bürger auf der anderen Seite an Bedeutung gewinnt. "Liberal- etatistisch" ist, so hatte ich argumentiert, die zentrale Dimension der Zukunft in den modernen kapitalistischen Gesellschaften.

Die Diskussion über das Rauchverbot liefert eine aktuelle Illustration. Nachdem die Juristen im Innen- und Justizministerium sich mit ihrer fachlichen Kompetenz endlich gegen die Luftikusse aus dem Gesundheitsministerium durchgesetzt haben, ist es jetzt - so, wie es die Gesetzeslage nun einmal bestimmt - Sache der Länder, ein eventuelles Rauchverbot in Gaststätten zu regeln.

Gibt es da nun eine Front der linksregierten gegen eine Front der rechtsregierten Länder? Überhaupt nicht. Wie in der FAZ zu lesen, sagte der saarländische Ministerpräsident Müller (CDU), der Staat "sollte sich aus der Diskussion um ein Rauchverbot im privaten Bereich heraushalten. 'Ob in Restaurants oder Bars geraucht werden darf, sollen Besitzer und Kunden entscheiden', sagte er."

Ein liberaler Mann also. In Bayern dagegen, so Stoiber, werde es "Rauchverbote in allen öffentlichen Räumen und in Restaurants geben". In Bierzelten nicht; soviel Folklore muß sein.

Beim Verbieten ist sich Stoiber mit der Linkspartei einig, die natürlich immer für mehr Staat ist; deren Gesundheitsexpertin Martina Bunge gibt offenbar nicht viel auf die Gesetzeslage: "... anders als von der Bundesregierung dargestellt, könne der Bundestag sehr wohl Gesetze zum Rauchverbot erlassen", so zitiert sie die FAZ.

Interessante Fronten.

9. Dezember 2006

Chaplin, Schmidt, Borat. Bemerkungen zum Lachen und zum Humor

Wenn wir richtig schön lachen, dann entblößen wir unser Gebiß und stoßen laute, rhythmische Laute aus. In der Regel als Gruppe. Lachen ist ansteckend. Lachen ist sozial, und es spricht alles dafür, daß es eine biologische Grundlage hat. Eine Gesellschaft oder eine Kultur, in der nicht gelacht werden würde, ist nicht bekannt.

Warum wir lachen, das ist - wie könnte es anders sein - wissenschaftlich noch nicht ganz geklärt. Freud vermutete, daß der Witz das Realitätsprinzip negiert und dadurch Verdrängtes freisetzt. Heutige Evolutionsbiologen wie Robert R. Provine sehen eher die soziale Funktion des Lachens. Vielleicht ist es zunächst aus dem Schnaufen beim heftigen Spiel entstanden, wird spekuliert. Richtig lachen konnten unsere Vorfahren erst, als sie sich aufgerichtet hatten, wodurch der Thorax von seiner Stützfunktion befreit und das Atmen kontrollierbar wurde. Damit konnte die spezielle motorische Koordination beim Lachen, eine Koordination der gesamten Atem- und Mund- Muskulatur wie beim Sprechen, einer sozialen Funktion verfügbar werden.

Welcher? Manche, wie Provine, heben hervor, daß man lacht, wenn man gekitzelt wird. Schon Säuglinge tun das. Wenn man sich selbst kitzelt, lacht man nicht. Das Lachen ist eine soziale Reaktion auf einen sozialen Reiz, auf eine bestimmte Art des - im Wortsinn - Angerührtwerdens durch andere. Ein kaum unterdrückbarer Automatismus. Angeblich hat man ja Menschen zu Tode zu foltern versucht, indem man von diesem Automatismus Gebrauch machte.



Aber die meisten Lacher erzeugt, jedenfalls beim erwachsenen westlichen Menschen, nicht das Gekitzeltwerden, sondern Humoristisches. Humor, das heißt eigentlich Saft, Flüssigkeit. Was da fließt und überfließt und aus uns herausfließt, wenn wir über etwas Lustiges lachen, das ist meist ein Gefühl der Überlegenheit.

Eine der evolutionären Theorien des Lachens, die vor einem Jahr von den beiden Biologen Thomas Gervais und David Sloan Wilson publiziert wurde, meint, daß das ursprünglichste Lachen das Lachen über ein Mißgeschick ist. Ungeschicktes, Unschickliches auch, wie Stolpern und Pupsen, das einem anderen widerfährt. Stolpern, so spekuliert diese Theorie, passierte häufig in der Zeit, in der unsere Ahnen den aufrechten Gang erwarben. Wenn ein Gruppenmitglied stolperte, dann wurde gelacht - es war ein Mißgeschick passiert, aber doch kein allzu großes. Wie beim Pupsen, so sagt diese hübsche (und im einzelnen sehr komplexe) Theorie. Und wie auch sonst, wenn eine "nicht ernsthafte soziale Inkongruenz" eintritt. Da macht man sich lustig, da löst sich alles in befreiendes und vereinendes Lachen auf. Auf Kosten desjenigen, den das Mißgeschick traf.

Damit verstehen wir, wieso solche TV-Sendungen wie "Upps - die Pannenshow" (Super-RTL) so erfolgreich sein können, in denen eigentlich nichts als eine Aneinanderreihung von Mißgeschicken gezeigt wird. Pferd und Reiter purzeln über eine Hürde, ein Go-Cart überschlägt sich, dergleichen. Was ist daran lustig? Es ist lustig, und kaum jemand kann sich dem Impuls zum Lachen entziehen, wenn jemand auf einer Bananenschale ausrutscht. "Wo ist da der Witz?", das mag eine akademische Frage sein. Für unser Homo- Sapiens- Gehirn ist es keine Frage. So wenig wie bei der Sahnetorte im Gesicht.



Wenn der - oder sagen wir vorsichtiger: ein - Kern des Humors diese evolutionär alte, automatisch ausgelöste Reaktion ist, über Mißgeschick - sofern es nicht wirklich schlimm ist - zu lachen, dann gibt es offensichtlich für den Humoristen zwei Wege, auf denen er uns zum Lachen bringen kann: Er kann entweder selbst als Opfer von Mißgeschicken auftreten, oder er kann andere dieser Art von Lächerlichkeit preisgeben.

Das erste ist die Methode des Dummen August im Zirkus und des klassischen Slapstick im Kino - von Charlie Chaplin, von Buster Keaton, von Laurel und Hardy zum Beispiel. Sie tappen von einem Ungemach ins nächste, sie stolpern sozusagen durchs Leben, und wir lachen darüber. Gewiß, unser Lachen ist nicht hämisch; Mitgefühl haben wir schon mit diesen armen Kerlen. Aber es ist doch eben ihr Mißgeschick, und im Grunde nichts anderes als dieses ihr Leiden, was uns zum Lachen reizt.

Ein running gag in Buster Keatons wunderbarem The Cameraman besteht darin, daß Buster mit seinem unhandlichen Kameragestell auf der Schulter durch eine Glastür will und diese dabei zerdeppert. Das tut er wieder und wieder, durch den ganzen Film. Und wieder und wieder können wir nicht anders, als lauthals lachen über dieses sich wiederholende Mißgeschick unseres doch eigentlich sympathischen Helden.

Das Mißgeschick war im Slapstick meist körperlicher Natur; später verschob es sich oft mehr in Richtung aufs Peinliche, wie bei Peter Sellers (für mich am Schönsten in The Party) und - sozusagen obersuperpeinlich - bei Rowan Atkinson als Mr. Bean. Oder es war sprachliches Mißgeschick, wie bei Karl Valentin und Heinz Erhardt.

Jacques Tati hat den von klassischen Slapstick- Mißgeschicken (wenngleich von der sanfteren Art) verfolgten Helden noch einmal mit Meisterschaft dargestellt. Doch da war (wie auch in Chaplins Modern Times) das Mißgeschick schon nicht mehr nur zum Lachen. Es trug eine Botschaft, bei Chaplin leise, bei Tati eindringlicher, um nicht zu sagen penetrant: Es ist die moderne Welt, es sind die Auswüchse der modernen Technik, die den ihr ausgelieferten Menschen von Mißgeschick zu Mißgeschick treiben. Da wurde nicht mehr nur gestolpert, sondern doch schon ziemlich der Zeigefinger erhoben. Ein veredeltes Kunststolpern, sozusagen.



Damit nähern wir uns der zweiten Art, wie der Humorist unsere angeborene Neigung, auf Mißgeschick Anderer mit Lachen zu reagieren, ansprechen kann: Nicht, indem er das Opfer solchen Mißgeschicks gibt, sondern indem er sich gewissermaßen auf unsere, der sich darüber durch ihr Lachen Erhebenden, Seite stellt.

Das ist die Rolle des klassischen politischen Kabarettisten. Er stolpert nicht, weder körperlich, noch verbal. Er führt den Stolpernden nicht in dem Sinn vor, daß er ihn spielt, den Stolpernden. Sondern er "führt" ihn in einem anderen Wortsinn "vor", indem er ihn bloßstellt.

Er will uns ja aufklären. Uns zum Lachen bringen, ja schon. Aber nicht um des Lachens willen. Sondern indem er uns darauf aufmerksam macht, wie andere stolpern und wie schlimm das ist. Die Politiker zumal sind Stolpernde. Die Reichen. Die Mächtigen. Kurz alle, die - so sieht es unser politischer Kabarettist - es verdient haben, daß wir uns an ihrem Stolpern, an ihrem Ausrutschen ergötzen.

In der alten Bundesrepublik wurde diese Art von Lächerlichmachen mit hohem moralischem Anspruch hingebungsvoll gepflegt - von politischen (oder, wie sich manchmal auch nannten) literarischen Kabaretts, oft und zunehmend dann auch von Einzelkünstlern. Wir kennen sie alle: Die "Insulaner" und die "Stachelschweine" in Berlin. Das "Kom(m)ödchen" in Düsseldorf. Die "Schmiere" in Frankfurt. Hanns Dieter Hüsch, Franz Josef Degenhardt, Dietrich Kittner.

Wir sollten lachen bei ihren Auftritten, ja. Aber das Lachen sollte uns doch auch im Halse steckenbleiben. Denn das Gestolpere, das sie uns vorführten, war ja die Anarchie des Kapitalismus, die Gemeinheit der Mächtigen, gar die Schlechtigkeit der Welt überhaupt.



Davon ist heute wenig geblieben. Wenn im Nachtprogramm eines öffentlich-rechtlichen Senders Dieter Hildebrandt seinen "Scheibenwischer" zelebrierte, dann wirkte das in letzter Zeit nostalgisch, fast schon rührend.

Stattdessen haben wir Harald Schmidt. Er ist das Muster eines Vertreters derjeniger Humoristen, die um keinen Preis selbst stolpern wollen. Zu stottern wie Heinz Erhardt, sich in der Sprache zu verheddern wie Karl Valentin - das käme ihm nicht in den Sinn. Jeder seiner Auftritte signalisiert uns im Gegenteil, wie intelligent der Mann ist, wie er alles durchschaut und unter Kontrolle hat.

Dabei hält er auf eine beeindruckende Weise die Balance zwischen Ernsthaftigkeit, Zynismus und Verarschung. Er redet über seine religiöse Überzeugung so, wie er über Politiker witzelt. Er ist imstande, die Verleihung des Bambi zu moderieren und dabei den Ton, der dort bei der Moderation üblich ist, halb zu perfektionieren und halb zu parodieren. Die Dummen hören nur die Perfektion, die Intelligenten hören die Parodie heraus.



Und Borat? Tja, der ist noch besser als Harald Schmidt. Wie dieser beherrscht er perfekt diese Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Parodie, wie dieser - nein, ungleich heftiger - setzt er sie ein, um seine Opfer zu verarschen.

Aber Cohen hat mit dieser Figur Borat noch etwas anders gemacht: Dieser Borat ist ja zugleich auch ein Tölpel, ein ständig Stolpernder. Die beiden Grundfiguren des szenischen Humors, der Humorist als Stolpernder und als das Stolpern anderer uns Vorführender - das hat Cohen in dieser Figur des Borat perfekt miteinander verbunden.

Wir können - wie bei Harald Schmidt - mit ihm über andere lachen. Und wir können zugleich - wie bei Charlie Chaplin - über ihn selbst lachen. Genial.



Titelvignette: Der Ha Ha Guy; eine Werbefingur, die in den USA für Forbes Dry Plates warb, in der Frühzeit der Fotografie.

7. Dezember 2006

Bekenntnisse eines Killerspielers

Ich war von Kindheit an ein Killer­spieler. Die erste Killer­waffe habe ich als Sieben­jähriger gebaut. Danach wurden die Waffen mir von Erwachsenen geschenkt. Ich habe sie auf andere Menschen gerichtet, Kinder und Erwachsene.

Es begann, als ich in der Nachkriegszeit keinen Zugang zu Waffen hatte. Ich habe mir also meine eigene gebaut, einen Flitzebogen. Entscheidend war die Biegsamkeit des Weiden­astes und das herausgeschnittene Stück aus einem Holunder­ast, das man auf den Pfeil setzen und durch Hin- und Herschieben austarieren mußte.

Damit habe ich auf Bäume, Tiere, Menschen gezielt. Der Pfeil traf selten; aber die Absicht, zu treffen, bestand.

Als ich auf die Grundschule - sie hieß damals Volksschule - kam, erhielt ich meine erste Feuerwaffe. Eine schwarze Pistole, zwar nur aus Plastik, aber sonst sehr realistisch. Sie verschoß Wasser, und ich habe sie mit großer Freude auf Menschen gerichtet. Manchmal quiekte mein Vater, wenn ich ihn wieder einmal getroffen hatte. Mir zuliebe.

Aber sie war stumm, meine Pistole. Also schrie ich immer "bumm!", wenn ich auf jemanden schoß. Und die Betreffenden taten mir oft den Gefallen und schrien zurück: "aua!" Oder sie hielten sich die getroffene Stelle, oder sanken gar, wenn sie mir besonders wohlgesonnen waren, als tot darnieder.



Es fehlte diesen meinen ersten Waffen allerdings nicht nur der Bumm, sondern auch der Geruch.

Dem wurde abgeholfen, als ich meine erste Zünd­plättchen­pistole bekam. Ich mag damals acht oder neun gewesen sein. Diese Pistole war, streng genommen, keine Pistole, sondern ein Revolver. Ein richtiger, schwarzer Revolver aus Metall. Man öffnete, wie das beim Revolver notwendig ist, das Magazin, indem man es seitlich herausklappte. Dann legte man die Zündplättchen ein und schob das Magazin zurück. Wenn man schoß, dann flog zwar keine Kugel aus dem Lauf, aber das Zündplättchen zündete. Und es roch - das war das Wesentliche - nach Pulver. Pulverrauch, echt.

Mit diesem Revolver habe ich auf Menschen gehalten, was das Zeug hielt. Ich hatte ihn im Karneval dabei, mal als Trapper und mal als Cowboy. Der Friseur unseres Städtchens bot zum Karneval einen Sonderservice: Er bemalte die Kinder. Ich bekam Schnurrbart und Kinnbart. Und lief dann zwei oder drei Tage rum, auf alles schießend, was mir vor den Revolver kam.

Das war schön. Oder, in heutiger Sprache: Es war echt geil.



Im Sommer waren wir beim Onkel auf dem Land, einem Landpastor. Wir spielten Indianer, fast immer. Jeder hatte seine Waffen - ich den Revolver wieder, aber auch Pfeil und Bogen. Auch selbstgebastelte Lanzen hatten manche. Die einen waren Winnetou und Intschu Tschuna. Andere nur Blitzmesser oder Old Wabble.

Das wurde ausgefochten, wer wer war; logischerweise. Man ging mit Lanzen aufeinander los. Es wurde auch schon mal jemand am Marterpfahl befestigt.

Kurzum, wir waren Killerspieler, den ganzen Sommer über. Killerspielen, das war unsere Welt. Auch die der Squaws, auch wenn sie weniger aufs Killen aus waren



Etwas später, als ich vielleicht elf war, verbrachten wir den Sommer in der Schweiz, in Morschach ob Brunnen. Damals war ich so killerspielsüchtig, daß ich fast nur als waffenbehangener Indianer herumlief. Einmal stürmte ich, den Kriegsruf ausstoßend (man schreit "hiiiiiii" und haut sich dabei rhythmisch auf den Mund), einen Weg hinunter, den ein starker Schweizer emporklimmte. Er hat mich kurz beiseitegestoßen, und ich landete im Graben. Buchstäblich, ich rollte einen Abhang hinab, meine Lanze schwingend, matter werdende Kriegsrufe ausstoßend.

Auch ein Killerspiel. Allerdings mußte ich zugeben, daß diesmal ich der Gekillte war.

Dann kam die Luftpistole, das Luftgewehr. Meine Luftpistole war eigentlich keine. Sie verschoß die Geschosse dadurch, daß eine Feder gespannt und mit Betätigung des Abschusses plötzlich entspannt wurde. Man verschoß damit eine Art Pfeile mit einer Gummispitze, die sich durch Unterdruck an das Ziel heftete. Mein Freund hatte aber ein wirkliches Luftgewehr, mit dem er mal auf Äste schoß, mal auf Vögel. Ja, auf Vögel. Er war aber kein Krimineller. Er war Sohn eines Physikers, und er hat sich später sehr schön entwickelt.



Danach war es nicht mehr viel mit den Killerspielen. Ich "durchlief" das Gymnasium, wurde irgendwie intellektueller, verlor den Bezug zur Gewalt.

Ich bekam, als ich als Zweitsemester meinen Eltern mitteilte, ich würde den Sommer über in Frankreich per autostop herumtrampen, eine Gaspistole geschenkt; zu meiner Sicherheit. (Man konnte sie damals, 1961, frei kaufen, und meine Mutter begleitete mich ins Waffengeschäft).

Eine Gaspistole - das war im Prinzip eine Pistole, nur nicht durchgebohrt. Ich hatte sie beim Trampen, jede Sommerferien, immer in der linken Brusttasche. Einmal hätte ich fast geschossen. Das war, als mich spätabends jemand in einsamer Gegend mitgenommen hatte und er mir plötzlich sagte, wir würden jetzt in den Wald fahren, weil er mir ein altes Schloß zeigen wollte.

Da hatte ich die Pistole schon entsichert. Aber er wollte mir wirklich nur das Schloß zeigen. Oder vielleicht war ich auch nicht sein Typ.



Blicken wir zurück: Irgendwie habe ich es geschafft, bisher niemanden zu ermorden, obwohl ich mit Killerspielen aufgewachsen bin.

Liegt es daran, daß die Killerspiele meiner Jugend weniger realistisch gewesen waren als die Killerspiele der heute Jungen? Das Gegenteil ist der Fall: Ich habe auf reale Menschen angelegt. Wer heute ein Egoshooter-Spiel spielt, der legt virtuell auf einen virtuellen Gegner an. Weit weniger realistisch also.

Liegt es daran, daß heute die ganze Welt aggressiver geprägt ist als in den Fünfzigern, den Sechzigern? Ich kann das überhaupt nicht sehen. Mein ganzes Leben lang habe ich nicht so viele freundliche, friedliche, liebe Menschen erlebt wie heute.

Wir sind doch auf dem Weg in eine feminisierte Gesellschaft. Schutz und Sicherheit, Pflegen und Hegen allenthalben. Nie war es so sicher, in diesem Land zu leben.

Wir werden behütet und betütelt, daß uns der Atem wegbleibt.



So sehr herrscht überall Sicherheit, daß selbst ein Gymnasiast, der im Web eine kleine Drohung ausstößt, ein ganzes Bundesland in den Ausnahmezustand versetzen kann.

Glückliches Deutschland also? Hm, so ganz sicher bin ich nicht.



Titelvignette: SigP220-Pistole. Autor: Rama. Frei unter Creative Commons Attribution ShareAlike 2.0 France Licence

Was sagte Gates gestern wirklich? Sie werden überrascht sein ...

Gestern berichtete Spiegel online: "Der designierte Verteidigungsminister Robert Gates hält es unter den gegebenen Umständen im Irak für ausgeschlossen, den Krieg zu gewinnen." Sat1 meldete unter der Überschrift "Rumsfeld- Nachfolger gibt Irak- Sieg auf" über die Aussage von Gates vor dem Verteidiungsausschuß des Senats dies: "Die USA werden seiner Ansicht nach den Krieg im Irak nicht gewinnen." Und News.ch wußte zu berichten, Gates habe "die Frage, ob die USA den Krieg im Irak gewinnen könnten, mit einem 'Nein' beantwortet".

Die Überschrift zu dieser Meldung von News.ch lautet (jedenfalls im Augenblick): "Robert Gates soll Aussenminister werden". Und so wahr wie diese Überschrift ist auch das, was die drei zitierten Medien - und viele andere, vielleicht im Gefolge von Agenda Setters wie Spiegel Online - über die Aussage von Gates vor dem Verteidigungsausschuß des US-Senats berichten.



Gestern, als diese Meldungen herumgeisterten, habe ich vergeblich versucht, im Web das Wortprotokoll der Anhörung zu finden. Inzwischen ist es zugänglich, unter anderem bei der International Herald Tribune.

Und wie zu vermuten - Gates hat keineswegs gesagt oder auch nur angedeutet oder impliziert, daß die USA den Krieg nicht gewinnen werden, daß sie ihn nicht gewinnen können, daß ein Sieg unter den gegebenen Umständen ausgeschlossen ist.

Im Protokoll gibt es drei Passagen, in denen Gates zu diesem Punkt Stellung nimmt, und zwar in Beantwortung von Fragen der Senatoren Levin, McCain und Inhofe. Ich zitiere diese Passagen und füge jeweils meine Übersetzung hinzu:
LEVIN: (...) Mr. Gates, do you believe that we are currently winning in Iraq?
GATES: No, sir.

LEVIN: (...) Herr Gates, glauben Sie, daß wir im Augenblick im Irak siegreich sind?
GATES: Nein, Sir.


MCCAIN: (...) I'd like to follow on just what Senator Levin said. We are not winning the war in Iraq. Is that correct?
GATES: That is my view, yes, sir.
MCCAIN: And therefore, the status quo is not acceptable?
GATES: That is correct, sir.

MCCAIN: (...) Ich möchte gern an das anknüpfen, was Senator Levin gesagt hat. Wir sind nicht dabei, den Krieg im Irak zu gewinnen. Stimmt das?
GATES: Das ist meine Sicht, ja, Sir.
MCCAIN: Und deshalb kann der jetzige Zustand nicht hingenommen werden?
GATES: Das stimmt, Sir.


INHOFE: (...) ... you were asked the question, "Are we winning in Iraq?" General Pace was asked that question yesterday. He said, no, we're not winning, but we're not losing. Do you agree with General Pace?
GATES: Yes, sir, at this point.

INHOFE: (...) ... Ihnen wurde die Frage gestellt: "Sind wir dabei, im Irak zu gewinnen?" Dem General Pace wurde gestern diese Frage gestellt. Er sagte, nein, wir sind nicht dabei, zu gewinnen, aber wir sind auch nicht dabei, zu verlieren. Stimmen Sie mit General Pace überein?
GATES: Ja, Sir, im Augenblick.



Es ging also bei allen drei Dialogen um die momentane militärische Situation im Irak. Jeder, der Englisch versteht, kann das dem Protokoll entnehmen. Es wurde nicht gefragt "Can we win?" oder "Will we win?", sondern "Are we winning?"; und beim ersten Dialog wurde das sogar noch durch "currently" unterstrichen - momentan, gegenwärtig, im Augenblick also.

Folglich zog auch Senator McCain aus der bestätigenden Antwort von Gates den Schluß, daß die gegenwärtige Situation (der status quo) nicht hingenommen werden kann. Nicht hingenommen werden kann, so ist zu ergänzen, damit es nicht am Ende zu einer Niederlage kommt.

Und folglich stimmte Gates der Aussage von General Pace zu, man sei nicht am Gewinnen, aber auch nicht am Verlieren.



Auch aus dem übrigen Protokoll der Anhörung geht zweifelsfrei hervor, daß Gates es keineswegs für ausgeschlossen hält, den Krieg zu gewinnen. Ich empfehle allen, die die Zeit dafür aufbringen können, dieses Protokoll zu lesen. (Das Blättern geht schneller, wenn man die Version in 3 Spalten wählt oder gleich die Druckversion). Hier als Kostprobe ein Abschnitt aus Gates' einleitender Stellungnahme:
Developments in Iraq over the next year or two will, I believe, shape the entire Middle East and greatly influence global geopolitics for many years to come. Our course over the next year or two will determine whether the American and Iraqi people, and the next president of the United States, will face a slowly, but steadily improving situation in Iraq and in the region, or will face the very real risk, and possible reality, of a regional conflagration. We need to work together to develop a strategy that does not leave Iraq in chaos, and that protects our long-term interests in and hopes for the region.

Die Entwicklungen im Irak in den nächsten ein bis zwei Jahren werden, glaube ich, den ganzen Mittleren Osten prägen und für viele weitere Jahre die globale Geopolitik bestimmen. Unser Kurs über die nächsten ein oder zwei Jahre wird darüber entscheiden, ob das amerikanische und das irakische Volk - und der nächste Präsident der Vereinigten Staaten - sich einer langsam, aber stetig verbessernden Situation im Irak und in der Region gegenübersehen werden, oder ob sie sich der sehr realen Gefahr eines Flächenbrands gegenübersehen werden, der möglicherweise zur Realität wird. Wir müssen zusammenarbeiten, um eine Strategie zu entwickeln, die den Irak nicht im Chaos hinterläßt und die unsere langfristigen Interessen in dieser Region und unseren Hoffnungen für sie bewahrt.



Man vergleiche das mit den eingangs formulierten Meldungen (und vielen seither; gerade eben hat die Tagesschau wieder gemeldet, laut Gates "sei der Irak-Krieg nicht zu gewinnen") - und man weiß, was man von diesen Medien zu halten hat.

Mit anderen Worten, da hat es gestern mal wieder laut gequakt. Freilich quakt es diesmal - anders als bei den Enten, die ich kürzlich ein wenig geröstet habe - nicht nur aus Hamburg. Sondern es war ein Gequake allüberall zu vernehmen. Jedenfalls im Alten Europa.




Es geht hier natürlich auch um ein Problem des Übersetzens:

Die entscheidende Formulierung lautet We are currently not winning in Iraq.

Also, grammatisch, Present Progressive. Das bedeutet jedenfalls nicht die Vorhersage, daß der Krieg verloren gehen werde, oder gar die kategorische Behauptung, er könne nicht mehr gewonnen werden; so, wie das von den zitierten Medien wiedergegeben wurde. Gates hat eben nicht gesagt We will not win in Iraq oder We cannot win in Iraq.

Ich habe übersetzt, daß "wir im Augenblick nicht siegreich sind", daß - bei dem anderen Zitat - "wir nicht dabei sind, zu gewinnen". Man könnte auch übersetzen: "wir gegenwärtig nicht auf der Siegesstraße sind" oder "der Krieg nicht in Richtung Sieg läuft"; dergleichen.

You are winning oder you are losing - das sagt der Boxtrainer seinem Schützling zwischen den Runden. Er beschreibt damit die Punktewertung, so wie sie im Augenblick ist. Die aktuelle Situation, den momentanen Trend.

Er sagt dem Boxer aber damit natürlich nicht: Du wirst gewinnen. Oder: Du wirst verlieren. Oder gar: Du kannst nicht gewinnen.



Er teilt ihm mit, wie die Dinge stehen, damit er sich darauf einrichten kann: Er ist auf der Verliererstraße, also muß er sich anstrengen, eine bessere Taktik versuchen.

Genau das hat Gates mit seiner Äußerung in Bezug auf den Irak-Krieg ausgedrückt.

Daß Medien - aus einem unverantwortlichen Journalismus heraus und/oder aufgrund mangelnder Kenntnis des Englischen - ihm das Wort im Mund herumdrehen und ihm zuschreiben würden, er hätte den Krieg für nicht gewinnbar erklärt - das hätte er vielleicht antizipieren können.

Vielleicht übersteigt dieses Maß an Chuzpe, oder auch dieses Ausmaß sprachlicher Unfähigkeit, aber auch das, was sich selbst ein alter Fahrensmann aus der CIA ausmalen konnte.

Anmerkung: Bei der Übersetzung des Dialogs mit Inhofe war mir ein Versehen unterlaufen, auf das mich zwei Kommentatoren hingewiesen haben; siehe die Kommentare. Danke! Der Text ist jetzt korrigiert.

6. Dezember 2006

Der Mond und der Pony Express

Bis vor weniger als zweihundert Jahren mußte man eine Nachricht übermitteln, indem man sie physisch überbrachte. Ein Mensch oder mehrere Menschen mußten sie transportieren. Am schnellsten ging das mit Reitenden Boten, die die Pferde wechselten, die auch selbst einander ablösten auf dem Ritt vom Absender zum Empfänger.

Vermutlich die schnellsten Reitenden Boten aller Zeiten waren die Reiter des Pony Express. Eine der Legenden des Wilden Westens, obwohl er kaum zwei Jahre existierte - von April 1860 bis November 1861. Seine Reiter schafften es in der unglaublichen Zeit von zehn Tagen, eine Nachricht von der Ost- zur Westküste der USA zu befördern.

Aber da war der Reitende Bote schon veraltet. Bereits ab ungefähr 1830 waren Telegraphen gebaut worden. Und just im Jahr 1860 waren dem U.S. Post Office vierzigtausend Dollar pro Jahr dafür bewilligt worden, eine Telegraphenleitung von Küste zu Küste zu bauen und zu unterhalten. Schlechte Zeiten, schlechte Startbedingungen also für den wunderbaren Pony Express.



Die Erfindung und Verbreitung des Telegraphen änderte grundlegend das, was "Übermittlung einer Nachricht" bedeutet. Nämlich nicht mehr den physischen Transport von Pergament, Papier, eines versiegelten Schreibens. Sondern die Übertragung von Nachrichten war hinfort ein technischer Vorgang, bei dem - Claude Shannon hat es später in seiner Mathematical Theory of Communication exakt analysiert - eine Zeichenfolge, die der Absender erzeugt, vom Empfänger rekonstruiert werden kann, wenn er über denselben Zeichensatz verfügt.

Mehr oder weniger allerdings rekonstruiert werden kann, verzerrt durch das Rauschen (Noise, Äquivokation), das der Kanal der Nachricht antut; aber doch hinreichend, um eine physische Übermittlung zu ersetzen. Und mit ungleich größerer Geschwindigkeit als diese; selbst den schnellsten Ponies, selbst den schnellsten Flugzeugen weit überlegen.

Für uns ist es heutzutage selbstverständlich, daß Nachrichten nicht physisch, nicht durch sich fortbewegende Menschen übertragen werden. Selbst die Tageszeitung können wir, wenn wir wollen, elektronisch lesen, statt sie uns vom Zeitungsboten morgens in den Briefkasten werfen zu lassen.




Die Erforschung der Welt hat sich über nahezu die gesamte Geschichte der Menschheit hinweg so vollzogen, wie Nachrichten durch einen Boten übermittelt wurden: Man begab sich dorthin, wo man Neues finden wollte.

Die Entdecker segelten los, sie marschierten durch Urwald und Wüstensand, organisierten ihre Safaris. Sie arbeiteten sich dorthin vor, wo noch nie ein Mensch gewesen war, oder zumindest noch nie ein Europäer. Sie löschten durch ihre Expeditionen die "weißen Flecken auf der Landkarte", die noch im Zwanzigsten Jahrhundert oft beschworen wurden. Sie löschten sie, indem sie hingingen und sich alles ansahen; es in ihre Karten eintrugen und es in ihren Expeditions- Tagebüchern notierten,

Heute gibt es sie nicht mehr, die weißen Flecken auf der Landkarte. Es gibt sie vor allem deshalb nicht mehr, weil wir heute die Welt nicht mehr allein durch das kennen, was Menschen gefunden haben, die physisch vor Ort gewesen waren.

Die ersten Satelliten, die ein Auge auf die Erde geworfen haben, waren der Spionagesatellit Discoverer, der in vielen Exemplaren von 1960 bis 1972 spähte, und der Wettersatellit Tiros, mit dem der metereologische Blick auf die Erde begann. Seither ist die Erde für uns alle immer mehr ein aufgeschlagenes Buch; wir können sie uns inzwischen mittels Google Earth so genau angucken, wie nur immer wir mögen. Zoom!



Kein Mensch überbringt uns diese Informationen darüber, wie die Erde von oben ausschaut. Die Ermittlung, die Übertragung von Informationen über unsere Erde sind völlig davon getrennt worden, daß sich Menschen an einen bestimmten Ort begeben.

Ebenso ist es bei der Erforschung des Weltalls. Schon mit der Erfindung des Teleskops entstand die Möglichkeit, mehr über die Welt zu erfahren, ohne daß Menschen weiter reisen mußten. Galilei und seine niederländischen Zeitgenossen ließen ihre Geräte das Licht brechen, statt selbst dorthin zu gehen, wo sie Neues und Genaueres kennenlernen wollten.

Diese Forschungsstrategie hat in den vergangenen Jahrzehnten zu nachgerade unglaublichen Erfolgen geführt - zu den spektakulären Aufnahmen durch das Weltraumteleskop Hubble, zu einer Erweiterung unserer Kenntnisse über das Planetensystem. Die Erforschung zwar nicht "des Alls", aber doch immerhin unseres Planetensystems, ist in vollem Gang. Dank besserer Technik. Ohne daß ein Mensch sich auch nur einen Millimeter von der Erdoberfläche entfernt hätte.

Was um 1860 herum für die Nachrichtenübermittlung möglich wurde, ist heute die Realität der wissenschaftlichen Forschung: Technische Systeme leisten das, was früher Menschen dadurch vollbringen mußten, daß sie sich an den jeweiligen Ort begaben. Wir lassen heutzutage forschen, statt selbst vor Ort zu gehen.



Die Folgerung daraus liegt auf der Hand: Menschen bei der Erforschung unseres Sonnenssystems physisch dorthin zu schicken, wo man etwas erforschen möchte, ist ungefähr so absurd, als hätten die USA um 1860 herum darauf beharrt, Nachrichten von der Ost- zur Westküste nicht durch den Telegraphen zu übertragen, sondern den Pony Express einzusetzen.

Und doch ist genau dies offensichtlich beabsichtigt, und ausgerechnet von der NASA. Ab 2024, so hat sie heute bekanntgegeben, soll eine permanent bemannte Mondstation existieren. Und deren Sinn und Zweck soll sein, einen bemannten Flug zum Mars vorzubereiten.



Vielleicht sollte man ja auch überlegen, ob man Nachrichten von Connecticut nach Californien künftig wieder durch Ponyreiter überbringen läßt.

5. Dezember 2006

Anmerkungen zur Sprache (3): Kleine, gemeine, leise Anglizismen

Daß es reichlich albern ist, wenn die Deutsche Bahn ihre Schalter "Counter" nennt und wenn die Deutsche Telekom sich mit abgekürztem Namen "Tii-komm" aussprechen läßt, liegt auf der Hand. Das sind so dumme Anglizismen, daß man sie gar nicht diskutieren kann. Sie sind indiskutabel. Kein Wort also dazu.

Aber es gibt andere, versteckte Anglizismen, die interessanter sind. Von ihnen ist hier die Rede.



"Hast du deinen Führerschein in der Lotterie gewonnen?" fragte man früher einen tölpelhaften Fahrer. Vielleicht tut man es auch heute noch; ich habe es allerdings lange nicht mehr gehört.

In dieser Redewendung wird "gewinnen" in einer seiner beiden Hauptbedeutungen benutzt: Man "gewinnt" etwas in einem Spiel, einer Ausspielung, einem Wettbewerb. Das große Los, einen Trostpreis, eine Medaille zum Beispiel. In einer zweiten Bedeutungsvariante "gewinnt" man nicht etwas, das man mit nach Hause nehmen kann, sondern ein Spiel, einen Kampf, eine Auseinandersetzung. Der "Gewinner" ist hier nicht der "glückliche Gewinner", sondern der Sieger. Beim Olympiasieger trifft beides zusammen: Er gewinnt, sagen wir, den Marathonlauf; und er gewinnt dafür die Goldmedaille.

Eine Ehrung aber "gewinnt" man im Deutschen nicht. Ebensowenig, wie einen Nobelpreis oder den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Solche Preise bekommt man zuerkannt. Man wird mit einem derartigen Preis geehrt. Schlicht gesagt: Man erhält ihn. Man ist der Preisträger und nicht der Gewinner.

Im Englischen aber sagt man to win the Nobel Prize. Seit ein paar Jahrzehnten häuft sich auch im Deutschen dieser Ausdruck. "Kurz vor 12 Uhr mittags kam ein Anruf aus Stockholm: Er, Hänsch, habe den diesjährigen Nobelpreis gewonnen" konnten wir zum Beispiel vor gut einem Jahr in Spiegel-Online lesen. Offenbar hat man in Stockholm in eine Lostrommel gegriffen - und wie es der Zufall wollte, war der deutsche Physiker Hänsch der Glückliche, dessen Namen auf dem gezogenen Los stand.



Das sind sie - die kleinen, leisen, die gemeinen Anglizismen.

Wenn in Deutschland Schüler und Studierende aus einem Buch lernen, dann ist das ein Lehrbuch. Wenn es ein Buch ist, in dem Texte versammelt sind, dann ist es ein Lesebuch. Neuerdings aber ist es immer häufiger ein "Textbuch". Offensichtlich deshalb, weil so etwas auf Englisch textbook heißt. Besonders apart ist es, wenn selbst ein Deutsch-Lesebuch zum Textbuch mutiert, wie zum Beispiel hier.

Wenn man genau angeben möchte, in welchem Jahr etwas passierte, dann sagt man "im Jahr 1914 brach der Erste Weltkrieg aus" oder "2005 fanden vorgezogene Bundestagswahlen statt". Englisch heißt das in 1914 und in 2006. Auch diese Redeweise beginnt auf breiter Front ins Deutsche einzudringen. Heute lesen wir zum Beispiel im Internet an einem Ort, der sich immerhin als Adresse für Ausbildung, Studium und Beruf empfiehlt: "Eindrucksvoll bestätigen die Ergebnisse des Karrieretests auch in 2006, dass ein BWL-Studium neben dem Beruf ein ausgezeichneter Karriere-Motor ist". Ohne das "in" wäre das ein deutscher Satz. So ist es ein Bastard.

Keine dieser Änderungen des Deutschen ist eine Bereicherung. Der Ausdruck wird dadurch nicht klarer, nicht plastischer, nicht präziser. Der Anglizismus macht keinen Sinn.

"Macht" keinen Sinn? Doesn't make sense, so sagt man es im Englischen. Im Deutschen heißt das: "ergibt keinen Sinn". Oder - was hier besser passen würde - "ist nicht sinnvoll".

Und zumindest wer einen "Kurs in Deutsch lehrt" oder ihn gar "gibt" (teaches a course in German, gives a course), sollte das wissen. Wenn er den Kurs eben nicht "in Deutsch" "lehren" oder "geben" würde, sondern einen Deutschkurs anbieten, leiten oder veranstalten.



Wie kommt es zu diesen versteckten Anglizismen? Anders als das Denglisch à la "Hair Shop" und "Meeting Point" sind sie nicht der unsäglichen Dummheit geschuldet, welche die Werbestrategen bei ihren Kunden vermuten. Sondern sie entstehen aus Nachlässigkeit.

Bilingualismus ist eine der erstaunlichsten Fähigkeiten des menschlichen Gehirns. Kinder können zwei Sprachen so leicht lernen wie eine. Man kann das an vielen Kindern von Einwanderern sehen; seltsamerweise scheinen wir es unseren deutschen Kindern aber nicht zuzutrauen.

Meist gelingt es Bilingualen hervorragend, die beiden Sprachen syntaktisch getrennt zu halten; vor allem bei sogenannten coordinate bilinguals, bei denen die beiden Sprachsysteme auch in Bezug auf die Begrifflichkeit, also "konzeptuell", weitgehend getrennt sind. Aber gelegentlich kommt es doch vor, daß Ausdrucksweisen der einen Sprache in die andere hineinschwappen. Günther Anders, der Deutsch als Muttersprache hatte und in die USA emigrieren mußte, schrieb gern "in anderen Worten" statt "mit anderen Worten". Als jemand, der von Anders eine sehr hohe Meinung hat, habe ich mich wiederholt dabei erwischt, "in anderen Worten" zu schreiben. Nicht, weil ich das besser oder treffender gefunden hätte als den deutschen Ausdruck. Es war die pure Schlamperei.

Vor ungefähr zwanzig Jahren habe ich habe einmal in einem Manuskript geschrieben: "Das ist nicht wirklich plausibel". Damals schrieb die Herausgeberin auf die Druckfahne: "Sie meinen sicherlich 'wirklich nicht plausibel'?" Das habe ich zerknirscht korrigiert; es war ja ein ungewöhnlich dummer Anglizismus gewesen. Heute ist "nicht wirklich" als deutsches Echo auf not really längst etabliert.



Alles nicht schlimm? Vielleicht. Auch Daumenlutschen und Nasebohren sind ja nicht schlimm. Nachlässigkeiten, fehlende Disziplin. Vermutlich wird man diese sprachlichen Schludereien nicht vermeiden können; als Preis des Bilingualismus. Aber man sollte ihnen doch entgegenwirken, so gut man kann. Gerade wenn man, wie ich, dafür eintritt, daß alle Kinder bilingual aufwachsen.

Sie sollten ihre Muttersprache und Englisch beherrschen, aber sie bitte nicht ineinanderrühren. Sondern sie hübsch getrennt halten. Separate but equal.



© Zettel. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier.

3. Dezember 2006

Warum tragen Prolls Goldkettchen?

Diese Frage stellt Stern Online im Augenblick seinen Lesern. Ja, das habe ich auch immer schon wissen wollen.

Was die Leser von Stern Online antworten, das ist leider noch nicht zugänglich; vorläufig öffnet sich nur ein Schreibfenster, wenn man auf die betreffende Überschrift klickt. Also mußte ich mir selbst meine Gedanken machen. Hier sind sie.

Richtig formuliert ist eine Frage manchmal fast schon beantwortet. Im vorliegenden Fall liegt, denke ich, der Schlüssel zur Antwort darin, die Frage so zu stellen: "Warum tragen eigentlich nur Prolls Goldkettchen?" Warum nicht auch der Chefarzt, der Lehrer, der Buchhändler, der Buchhalter? Wenn schon nicht im Dienst, dann doch zumindest in ihrer Freizeit, in der Oper, in geselliger Runde?

Und warum trägt hingegen die Frau Chefärztin, die Lehrerin, warum tragen so viele Frauen Goldkettchen, Perlenketten, Schmückendes aller Art?



Wir haben es offensichtlich erstens mit einem Gender-Problem zu tun, zweitens mit einem Problem von beträchtlichen historischen und interkulturellen Dimensionen.

Frauen schmücken sich. Sie schmücken sich mannigfach. Der Schmuck im engeren Sinn ist ein Teil dieses allgemeinen Sich- Schmückens. Dieses Sich- Schmücken- Dürfens, ja Sich- Schmücken- Sollens. Männern ist das nicht im gleichen Umfang gestattet. Es sei denn, man ist homosexuell. Es sei denn, man ist ein Proll mit Goldkettchen.

Warum ist das so? Woher dieser Unterschied im Rollenverhalten, in der Rollenerwartung?



Eine triviale Antwort liegt auf der Hand, und sie ist erkennbar falsch: Der Rekurs auf die Biologie. Die lange herrschende Skepsis gegen Erklärungen, die biologische, die genetisch bedingte Unterschiede ins Spiel bringen, ist zwar im Abflauen, was erfreulich ist. Aber hier würde uns dieser Weg ganz und gar in die falsche Richtung führen.

Denn erstens sind quer durch die Fauna fast immer die Männchen die Prächtigeren, die Geschmückteren. Was auch eminent Sinn macht, denn da die Weibchen in der Regel nur eine relativ kleine Zahl von Nachkommen gebären können, von Eiern legen können, während die Männchen über einen üppigen Samenvorrat verfügen, ist es an den Weibchen, wählerisch zu sein. Sie sind die Konsumentinnen, die Männchen die Anbieter in einer freien Marktwirtschaft.

In anderen Worten: Bei Männchen macht's die Masse, daß sie ihre Gene weitergeben. Bei Weibchen macht's die geschickte Selektion. Also müssen die Männchen sich anstrengen. Im Verhalten, aber eben auch im Aussehen. Sie müssen so prächtig daherstelzen, daherschwimmen, daherfliegen, wie sie nur eben können. Weibchen nicht.

So war und ist es in der Regel auch beim Menschen. Daß Männer sich weniger schmücken als Frauen, ist schlicht nicht der Fall. In der Regel schmücken sich beide Geschlechter, und nicht selten treiben die Männer dabei den größeren Aufwand. Vom sein Penisfutteral vor sich hertragenden Papua bis zum Barockfürsten unter seiner Allonge, auf hochhackigen Pumps daherstelzend und zierlich sein Spazierstöcklein schwingend.



Nein, der ungeschmückte, der jedenfalls im Vergleich zur Frau bescheiden geschmückte Mann ist eine Erfindung unserer Kultur, unserer Gegenwart. Es begann Ende des 18. Jahrhunderts mit einer gewissen Unordentlichkeit, die sich als Einfachheit gab - der Revoluzzer als Sansculotte, zwar nicht ohne Hose, aber ohne die höfische Kniebundhose; stattdessen in unförmigen, um seine untere Körperhälfte herumschlotternden Beinkleidern. Der Stürmer und Dränger mit wirrem Haarschopf über seinem Feuerkopf. Dann, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Turner im Schillerkragen, im altdeutschen Wams, den Zottelbart auf die Brust wallend, wie beim Turnvater Jahn.

Da war die Schmucklosigkeit Protest. Protest gegen die als dekadent, als überzüchtet, als gekünstelt erlebte Feudalgesellschaft. Ehrlich, kernig, treu, unverfälscht wollte man sein. Im Inneren wollte man das sein, und dem korrespondierte ein schmuckloses Äußeres.

Damals - in den Jahrzehnten vor und nach der Wende zum neunzehnten Jahrhundert - ging den Männern nicht nur die Perücke verloren, sondern auch der meiste sonstige Schmuck. Ihre Kleidung wurde schwarz, grau, jedenfalls gedeckt. Jemand, der, wie der junge Werther, im blauen Frack mit gelber Weste herumlief, wäre Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als ein Geck erschienen, ein Dandy, wie man das dann nannte. Der Dandy war, Ende jenes Jahrhunderts, gewissermaßen der lebende Protest gegen diese Entwicklung zur Schmucklosigkeit.

Warum vollzog sie sich? Da kann man viel spekulieren. Aufstieg des Bürgertums auf der Grundlage der protestantischen Ethik. Ethos der Arbeit. Figuren wie der Vater in Hebbels "Maria Magdalena" bestimmten nun die Gesellschaft. (In Lessings "Emilia Galotti" war eine ähnliche tragische Vaterfigur noch das hilflose Opfer in einer Feudalgesellschaft gewesen).



Vielleicht war es ja wirklich diese Schmucklosigkeit, die uns den Aufstieg des Kapitalismus bescherte. Der emsige Kaufmann, der disziplinierte Unternehmer, der unermüdliche Ingenieur, der mit strenger Methodik exakt forschende Wissenschaftler - sie alle tragen ja Merkmale dieser Austerität, dieses Verzichts aufs Schmückende, auf die Pose, die Darstellung. Les savants austères, heißt es bei Baudelaire.

Gut möglich, daß diese Zeit des bürgerlichen Aufstiegs, des Erfolgs strengen Denkens und disziplinierten Handels in unseren Tagen zu Ende geht. Jedenfalls werden die Männer wieder bunter.

Und dabei passiert etwas, was kulturgeschichtlich ganz untypisch ist: Die oberen Schichten orientieren sich an den unteren.

Fast immer in der Geschichte war es umgekehrt. Die Unteren eiferten den Oberen nach; in den Sitten, im Denken, auch in der Mode. "Volkstrachten" sind ja oft nichts anderes als die Oberschicht-Mode vergangener Zeiten. Der Frack, den noch heute die Saaldiener im Bundestag tragen, war vor zweihundert Jahren Alltagskleidung; die Frackschöße dienten dem bequemen Reiten.



Jetzt aber dringt die Unterschicht-Kultur nach oben. Und damit sind wir wieder bei den Goldkettchen der Prolls. Die Unterschicht, jedenfalls Teile davon, hat die skizzierte Entwicklung zur bürgerlichen Unscheinbarkeit und Austerität nie ganz mitgemacht. Dort war man immer weniger "verbogen"; die Prolls aller Zeiten haben sich, ob Frau oder Mann, am Klitzernden, am Bunten gefreut - ob nun Talmi oder richtiges Gold, ob Glas oder Besseres.

Und man hat dort auch schon lange dieses kindlich- unverkrampfte Schmuckbedürfnis auf die eigene Haut bezogen, sich also tätowieren lassen, allerlei Schmückendes an der Haut befestigt, der Nase, wo immer es sich anbot. Mag sein, daß das Seeleute aus der Südsee mitgebracht hatten.

Inzwischen ist diese Proll-Kultur dabei, in die besseren Kreise vorzudringen, oder in das, was davon übriggeblieben ist. Gepiercte Akademikerinnen, tätowierte Polizisten sind keine Seltenheit mehr. Es gibt Verprollungstendenzen in allen Schichten der Gesellschaft.

Vielleicht ist das ja nur eine Rückkehr zur Normalität, der Abschied vom Bürgertum des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Vielleicht geht damit aber auch mehr einher, eine gewisse Auflösung der Strenge und Disziplin, die unsere Kultur zur Weltkultur gemacht haben.

Nun, heute geht sie in einer neuen Weltkultur auf. Also, wer weiß, vielleicht sind die Goldkettchen an Männerarmen und -Hälsen in ein paar Jahrzehnten so normal, wie es Ende des achtzehnten Jahrhunderts normal wurde, ohne Perücke herumzulaufen.

Randbemerkung: "Das Leben der Anderen". Ein politischer Film?

Kunst hat nichts mit Politik zu tun. Ob ein Gedicht gut ist oder ein Roman, hängt so wenig von der politischen Haltung des Autors ab, wie die politische Einstellung des Malermeisters darüber bestimmt, ob er eine Wohnung ordentlich renoviert oder Pfusch abliefert.

Man sollte sich eigentlich scheuen, eine solche Binsenwahrheit zu schreiben. Aber sie wurde und wird von vielen nicht gesehen, ja ausdrücklich geleugnet. In den siebziger und achtziger Jahren war die Auffassung weit verbreitet, ja sie galt unter Intellektuellen nachgerade als Gemeinplatz, daß jede Kunst erstens politisch sei, ob sie es wolle oder nicht. Und daß es zweitens die Pflicht jedes anständigen Künstlers sei, seine Kunst in den Dienst fortschrittlicher, also linker, politischer Ziele zu stellen.

Meist sehr verschwommen formulierter Ziele, wie Gerechtigkeit und Solidarität. Manchmal aber auch sehr konkreter, sehr praktischer Ziele. Nicht wenige Künstler haben sich damals - nicht einfach als Staatsbürger, sondern sozusagen als im Dienst befindliche Kunstschaffende - zur DKP bekannt und deren Ziele, beispielsweise die Veränderung des europäischen militärischen Gleichgewichts zugunsten der Sowjetunion, unterstützt. Sie verstanden das als Arbeit für den Frieden.

Sich überhaupt politisch "einzubringen", Manifeste und Deklarationen zu unterzeichnen, sich "zu Wort zu melden", das gehörte bis weit in die achtziger Jahre hinein sozusagen zum Berufsbild des Künstlers. Kaum ein Monat, in dem nicht in den Zeitungen und Zeitschriften irgendwelche Anzeigen erschienen, in denen Künstler urteilten, sich empört zeigten, mahnten, zu Diesem und Jenem aufriefen.



Der Film war von dieser seltsamen Sicht auf die Kunst natürlich nicht ausgenommen. Ihm, als einem Massenmedium, galt sogar die besondere Aufmerksamkeit linker Theoretiker. Harmlos erscheinende Unterhaltungsfilme wurden in ihrer "politischen Funktion" entlarvt.

Der Revuefilm der vierziger Jahre, so wurde verkündet, - sollte von den Leiden des Kriegs ablenken. Der deutsche Heimatfilm der fünfziger und sechziger Jahre - diente der Restauration des Nationalismus. Der amerikanische Katastrophen- und UFO-Film derselben Epoche - sollte das Gefühl der Amerikaner, von den Kommunisten bedroht zu werden, verstärken.

Und so fort. Wer suchet, der findet.

Freilich gab es Filme, die wirklich politisch waren. Durchhaltefilme, patriotische Filme auf beiden Seiten der Front im Zweiten Weltkrieg; der letzte deutsche war "Kolberg" von Veit Harlan und Wolfgang Liebeneiner, der inmitten des untergehenden Reichs 1945 fertiggestellt worden war. Nach dem Krieg waren vor allem die Filme, die unter der Herrschaft des Kommunismus hergestellt wurden, politische Filme. Die DEFA war zur Parteilichkeit verpflichtet. Sie sollte "helfen, in Deutschland die Demokratie zu restaurieren, die deutschen Köpfe vom Faschismus zu befreien und auch zu sozialistischen Bürgern erziehen", lesen wir als Zitat aus der Gründungszeit der DEFA in der deutschen Wikipedia; leider wieder einmal ohne Quellenangabe.

Politische Filme sollte die DEFA verfertigen. Es waren schlechte Filme, ganz überwiegend; notwendigerweise.

Denn gute politische Kunst zu machen ist schwer, fast unmöglich. Das Kunstwerk als das angestrebte Arbeitsergebnis und die politische Wirkung als Ziel laufen einander zuwider. Kunst ist facettenreich, widersprüchlich, uneindeutig. Deshalb lädt sie ja zur Interpretation ein, erlaubt sie viele Deutungen. Politische Agitation aber verlangt Eindeutigkeit, die klare "Stellungnahme", die zugespitzte "Aussage".

Agitationsfilme sind deshalb fast immer schlechte Filme, so wie auf dem Theater Agitationsstücke zwar vorübergehend populär sein können, aber ihre Zeitaktualität selten überdauern. Brechts Lehrstücke sind ein Beispiel, die Stücke von Rolf Hochhuth sind ein offensichtliches Beispiel. Was soll man an einem Stück interpretieren, das seine vom Autor vorgesehene Interpretation wie eine Monstranz vor sich herträgt? Was in aller Welt sollte einen Regisseur an einem Stück reizen, dem just die Vieldeutigkeiten und die Assoziationsgeflechte fehlen, die einen neuen inszinatorischen Blick auf den Text ermöglichen?



Gestern ist "Das Leben der Anderen" in Warschau mit gleich drei europäischen Filmpreisen ausgezeichnet worden: Dem für den besten Film und für das beste Drehbuch. Und Ulrich Mühe erhielt den mehr als verdienten Preis für den besten Hauptdarsteller.

"Das Leben der Anderen" - ein politischer Film. Kein politischer Film.

Ein politischer Film insofern, als sein Thema der Umgang einer Staatsmacht mit "ihren" Bürgern ist; spezifischer sind es die psychischen Verformungen, die es bei Herrschenden wie Beherrschten mit sich bringt, wenn ein Staat keine Achtung vor der Menschenwürde seiner Untertanen hat, und damit letztlich auch vor der Menschenwürde seiner eigenen Diener.

Kein politischer Film aber, weil er keine "Botschaft" transportiert. Florian Henckel von Donnersmarck hat sehr sorgfältig recherchiert, jahrelang. Er hat eine - soweit das unter Beachtung der Dramaturgie eines Films möglich ist - realistische Geschichte erzählt, auch wenn gelernte DDR-Bürger das eine oder andere Detail für unglaubwürdig halten mögen.

Aber der Film "will uns" nichts "sagen". Er klagt nicht an, er agitiert nicht. Er ist insofern eben gerade kein politischer Film. Und kann deshalb ein großer Film sein.

Ich glaube, einen so unpolitischen politischen Film konnte nur jemand aus einer Generation machen, die nicht mehr durch die politischen Verkrampftheiten der siebziger und achtziger Jahre geschädigt ist. Und daß es gerade jemand mit der Weltläufigkeit Henckels von Donnersmarck war, dem dieses Werk über ein Stück deutsche Geschichte gelang, ist vielleicht auch kein Zufall.

2. Dezember 2006

Armut (5): Statistisches

"Als arm gilt hierzulande jeder, dem weniger als 60 Prozent des in seiner Region durchschnittlichen Netto- Einkommens zur Verfügung stehen", war gestern im Tagesspiegel zu lesen.

Es geht in dem Artikel des "Tagesspiegel" um eine statistische Korrelation zwischen Armut und Krankheit. Eine Korrelation, die vom Tagesspiegel kühn mit der Feststellung "Armut macht krank" interpretiert wird.

Ich will mich jetzt nicht mit dieser Interpretation einer Korrelation als Kausalzusammenhang befassen (die etwa so zwingend ist wie die bekannte Deduktion: Die Zahl der Storchennester korreliert mit der Zahl der Kinder; also werden die Kinder vom Storch gebracht), sondern mit der Definition der Armut: Arm sei, so besagt es diese Definition, wer weniger als sechzig Prozent des Durchschnittseinkommens verdient.



Um Armut messen und um damit Armutshäufigkeit zählen zu können, braucht man eine operationale Definition von "Armut".

Man könnte qualitative Kriterien verwenden - Mangelernährung, fehlende ärztliche Versorgung, die Abwesenheit von Merkmalen eines auskömmlichen Lebens (livelyhood). Das so zu ermitteln, daß man zu verläßlichen Daten gelangt, ist aber schwierig; von der Problematik eines Teils dieser Kriterien, wie sie im vierten Teil dieser Serie diskutiert wurde, ganz abgesehen.

Also basieren statistische Armutsdaten in der Regel nicht auf solchen qualitativen Kriterien, sondern auf quantitativen Merkmalen, die sich einigermaßen sicher erheben lassen. Dazu gehören zum Beispiel die Lebenserwartung, der Prozentsatz der Analphabeten, die Häufigkeit von Kinderarbeit und dergleichen.

Allerdings gelangt man auch damit noch nicht zu griffigen Aussagen darüber, wieviel Prozent einer Bevölkerung arm sind; denn natürlich korrelieren diese Kriterien nur mäßig miteinander. Im einen Land - sagen wir, Cuba - kann die Alphabetisierung gut sein, aber die Ernährungslage schlecht; anderswo - beispielsweise in einem arabischen Ölstaat - mag es umgekehrt sein. Ganz und gar kann man aufgrund derartiger Merkmale nicht die einzelne Person oder die einzelne Familie als arm klassifizieren, weil es ja häufig der Fall sein wird, daß sie gemäß Kriterium X als arm zu gelten hätte, gemäß Kriterium Y aber nicht.

Folglich wird, wenn man einen Prozentsatz von Armut ermitteln möchte, im allgemeinen die Einkommenshöhe zugrundegelegt. Das ist ein unproblematisches, leicht zu ermittelndes Kriterium.



Wenn man die Grenze, bis zu der jemand als arm betrachtet wird, anhand der Einkommenshöhe bestimmen möchte, dann gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten. Man kann dieses Limit als einen bestimmten Geldbetrag festlegen, oder man kann es auf einen Kennwert beziehen, der auf allen Einkommen basiert. Im ersten Fall definiert man absolute, im zweiten relative Armut.

Ein oft verwendetes absolutes Kriterium habe ich in früheren Teilen der Serie erwähnt: Arm ist, nach der Definition der Weltbank, wer - paritätsbereinigt - weniger als einen Dollar am Tag zum Leben hat (extreme Armut) bzw. weniger als zwei Dollar (mäßige Armut).

Die so operationalisierte Armut ist, wie zum Beispiel hier zu sehen, im Weltmaßstab massiv zurückgegangen; von rund 40 Prozent im Jahr 1981 auf 21 Prozent im Jahr 2001. Allerdings nicht gleichmäßig; im Afrika südlich der Sahara ("Schwarzafrika") hat sie sogar zugenommen.

Für Europa, für Nordamerika spielt Armut, so definiert, so gut wie keine Rolle. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die in diesem absoluten Sinn arm sind. Dennoch gibt es in den betreffenden Ländern eine lebhafte Armutsdiskussion. Sie beruht darauf, daß Armut anders definiert wird, nämlich relativ. Ob jemand arm ist, wird bei dieser Art von Definition nicht mehr durch das Einkommen dieser Person oder Familie allein bestimmt, sondern wesentlich auch durch das Einkommen der anderen.

Verbreitet sind Festlegungen, die jemanden als arm definieren, wenn er weniger als 50 Prozent oder - das ist die geltende Definition in der EU - weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens bezieht. Als "mittleres Einkommen" wird dabei der Median der Einkommen betrachtet, also dasjenige Einkommen, unterhalb und oberhalb von dem jeweils die Hälfte der Einkommen liegen. Manchmal wird aber auch das arithmetische Mittel verwendet. Je nach Schiefe der Verteilung ergibt das etwas abweichende Daten; der Einfachkeit halber verwende ich bei den folgenden Beispielen das geläufigere arithmetische Mittel.

Schaut man sich diese Definitionen von Armut vorurteilsfrei an, dann kommt man zu einem einfachen Ergebnis: Definitionen der Armut als Einkommen unterhalb einer Grenze, die als ein bestimmter Prozentsatzes des durchschnittlichen Einkommens bestimmt wird, sind absurd. Sie sind so erkennbar absurd, daß man sich fragt, wie jemand sie überhaupt vorschlagen, geschweige denn offiziell einführen konnte.



Sie sind absurd aus mindestens zwei Gründen:
  • Erstens implizieren sie, daß die Armen einfach dadurch aus ihrer Armut befreit werden können, daß man die Einkommen der Reichen reduziert.

    Nehmen wir den folgenden fiktiven Fall: In einem Land X verdient das unterste Quintil (die untersten zwanzig Prozent) 1.000 Dollar, das nächste Quintil 2.000 Dollar, das dritte 5.000, das vierte 10.000 und das oberste Quintil 50.000 Dollar. Das Durchschnittseinkommen beträgt somit 13.600 Dollar. Jemand, der 6.000 Dollar verdient, liegt bei weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens, ist also gemäß der EU-Definition arm.

    Wie befreit man ihn aus seiner Armut? Nichts einfacher als das: Die Einkommen des obersten Quintils werden radikal besteuert, so daß deren Durchschnitt auf 30.000 Dollar absinkt. Das mittlere Einkommen liegt dann nur noch bei 9.600 Dollar, und unser Einkommensbezieher ist mit seinen 6.000 Dollar aus seiner Armut erlöst.

    Es geht ihm zwar nicht besser als zuvor. Bei seinem Einkommen, bei Einkommen seiner Nachbarn und seiner Bekannten hat sich ja nichts geändert. Nur diejenigen, deren Einkommen sich auf seine Lebensqualität überhaupt nicht auswirkt, sind in ihrem Einkommen beschnitten worden. Aber schwupp! - der zuvor Arme ist nicht mehr arm.

  • Die zweite Absurdität ist noch offensichtlicher. Wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens "seiner Region" bezieht, sei nach EU-Definition arm, so heißt es in der eingangs zitierten Passage aus dem "Tagesspiegel".

    Ja, was ist das denn, "seine Region"? Seine Gemeinde, sein Bundesland, sein Kanton oder sein Département? Seine Nation? Oder die EU? Jemand kann von Arm zu Reich, wieder zu Arm und wieder zu Reich wechseln, so wie Alice durch das Knabbern am Pilz mal schrumpfte und mal wuchs, je nachdem, was man als "Region" zu definieren beliebt. Ein Bauer mag der Reichste in seinem Dorf sein - als Luxemburger ist er vielleicht arm. Und als EU-Europäer wieder weit davon entfernt, arm zu sein. Viele Einwohner der DDR, die - in der "Region" DDR - alles andere als arm gewesen waren, wurden - jetzt in der "Region" Bundesrepublik Deutschland - mit dem Tag der Wiedervereinigung zu Armen. Auch wenn es ihnen von diesem Tag an besser ging.


  • Was also soll der Unsinn? Wie kann man mit einem Maß für Armut operieren, das so erkennbar absurd ist?

    Nun, es verliert seine Absurdität sofort, wenn man unterstellt, daß es gar nicht um Armut geht, sondern um die Ungleichheit der Einkommen. Das EU-Maß mißt überhaupt nicht, ob jemand in irgendeinem vernünftigen, begründbaren Sinn arm ist. Sondern es mißt, wie stark die Einkommen gespreizt sind.

    Für die Spreizung der Einkommen nun allerdings gibt es sehr viel subtilere Maße als das grobschlächtige Armuts-Kriterium der EU. Das geläufigste ist der Gini-Koeffizient.

    Hier ist eine Grafik, die für eine Reihe von Ländern die Entwicklung dieses Koeffizienten über die vergangenen Jahrzehnte zeigt. Je niedriger der Koeffizient, umso weniger Ungleichheit der Einkommen gibt es, und damit - definiert man Armut relativ - tendenziell auch umso weniger Armut.

    Der Staat in der Grafik, der hiernach im Jahr 2002 die geringste Armut gehabt hätte, ist Bulgarien.