28. November 2006

Zettels Meckerecke: Spiegel Online nimmt ernst

Amerikanische Kolumnisten lieben das, was man als ein counterfactual Argument bezeichnet - ein Argument, das einen Gesichtspunkt auf die Spitze treibt, ihn durch irgendeine absurde hypothetische Konsequenz illustriert. Durch etwas, was nichts mit der Realität zu tun hat, was aber ein Schlaglicht auf die Realität werfen soll.

Dieses Stilmittels hat sich in der Los Angeles Times der Kolumnist Jonathan Chait bedient, als er in seiner Kolumne vom 26. November die Lage im Irak, so wie er sie sieht, diskutierte. Um deutlich zu machen, wie ernst diese Lage sei, spielt Chait die kontrafaktische Idee durch, einfach Saddam Hussein zurück an die Macht zu bringen. Schlimmer als jetzt, so sagt er, könne es dann auch nicht werden. Und malt genüßlich auch noch die "Vorteile" aus, die das hätte.

Bittere Satire, schwarzer Humor. Fast jeder, der den Artikel liest, merkt das von den ersten Sätzen an.

Fast. Da aber auch die Los Angeles Times dumme Leser hat, macht Chait am Ende noch einmal deutlich, daß er natürlich nicht ernsthaft fordert, Saddam Hussein wieder als Präsidenten des Irak einzusetzen:
I know why restoring a brutal tyrant to power is a bad idea. Somebody explain to me why it's worse than all the others.

Ich weiß, warum es eine schlechte Idee ist, einen brutalen Tyrannen zurück an die Macht zu bringen. Aber dann soll mir mal jemand erklären, warum sie schlimmer ist als alle die anderen Ideen.



Solche kontrafaktischen Argumentationen mögen amerikanische Leser, und sie verstehen sie natürlich so, wie sie gemeint sind - als witzig-brutaler Denkanstoß. Art Buchwald ist ein Meister dieses Stils. Und wer's gar nicht versteht, der wird manchmal zur Sicherheit mit der Nase darauf gestoßen, wie es Chait mit diesen Schlußsätzen getan hat.

Nur mit Spiegel-Online, mit SPON, hatte Chait offensichtlich nicht gerechnet.

Dort erschien noch am selben Tag eine Meldung über Chaits Kolumne. Unter der Überschrift: Irak-Krieg: "Saddam, come back!" heißt es dort:
Die Irak-Debatte in den USA wird immer verzweifelter. (...) Jetzt fordert ein prominenter Kommentator die Rückkehr Saddam Husseins an die Macht - Totalitarismus sei besser als Chaos. (...) Die Rückkehr Husseins, "ein Mann, den alle Iraker kennen und fürchten", wäre genau das Richtige, fantasiert Chait weiter. (...) Chaits Kommentar zeigt, wie schnell enttäuschter Idealismus in einen vermeintlich realistischen Zynismus umschlagen kann.
Was die SPON-Meldung zeigt, da ist, wie schnell eine schlechte Redaktion eine Ente produzieren kann. Eine Ente produzieren kann, indem sie ein solches kontrafaktisches Argument als ernsthafte "Forderung" verkauft.



Freilich ist es hier eine doch schon arg, sagen wir abgehangenes Exemplar von Ente. Die USA-Berichterstattung von SPON ist ja reich an solchem Federvieh. Und wenn es noch dazu um Präsident Bush und/oder um den Irak-Krieg geht, dann riecht sie besonders streng, die Ente.

Als ich kürzlich hier ein anderes Exemplar aufgespießt habe, da kommentierte das in "Zettels kleinem Zimmer" ein Diskutant, Mach, so: "SPON hat nichts mit objektivem (falls der wirklich möglich wäre) Journalismus zu tun (...). Was machst du dir die Mühe, SPON-Artikel zu kommentieren (...)?"

Berechtigte Frage. Ich habe Mach geantwortet, daß das ja nicht nur eine Mühe ist, sondern auch Spaß macht.

Den Spaß, den es - mir jedenfalls - macht, hier und da ein wenig aufzuklären. Auch wenn dieser Blog nur von ein paar hundert Menschen gelesen wird und SPON von - ich weiß es nicht - Hunderttausenden, vielleicht Millionen. Worauf mich Mach sehr berechtigterweise hingewiesen hat.



PS: Im aktuellen gedruckten "Spiegel" wird in der Rubrik "Rückspiegel" ein Branchendienst namens "Insight" mit lobenden Worten über SPON zitiert. SPON würde in einer neuen Publikation "neben hohem Prestige unter Journalisten auch die Rolle eines Agenda Setters" zugewiesen.

Ein Agenda Setter ist keine Hunderasse, sondern ein themenbestimmendes Medium.

Mag sein, daß ein Teil der Medien SPON hinterherdackelt. Kein freundliches Urteil über diese Medien.