20. Juni 2008

Zitat des Tages: Chávez droht Europa einen Öl-Boykott an. Nebst einem Blick auf die wirtschaftliche und soziale Situation in Venezuela

We can't just stand by with our arms crossed. Any European country that applies this directive, we will -- well we won't cut off ties -- but it's simple, at the very least, our oil will not reach these countries

(Wir können nicht einfach mit verschränkten Armen zusehen. Jedes europäische Land, das diese Direktive umsetzt, werden wir - also, wir werden die Beziehungen nicht abbrechen - aber es ist klar, zumindest werden diese Länder kein Öl mehr von uns erhalten.)

Der venezolanische Präsident Hugo Chávez laut einer heutigen Reuters- Meldung auf einem Empfang zu Ehren des neu gewählten Präsidenten von Paraguay, Fernando Lugo.

Worauf bezieht sich die Boykottdrohung von Hugo Chávez? Auf eine EU-Entscheidung vom vergangenen Mittwoch, wonach illegale Einwanderer für bis zu 18 Monate festgehalten werden dürfen und für fünf Jahre mit dem Verbot der Wiedereinreise belegt werden können.

Kommentar: Chávez' Sorge um das Schicksal illegaler Einwanderer nach Europa steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu dem Desinteresse, das er offenbar für die Lebensbedingungen in seinem eigenen Land Venezuela hat.

Über diese konnte man kürzlich Instruktives in der März/April - Nummer von Foreign Affairs lesen. In einem Artikel mit dem Titel "An Empty Revolution - The Unfulfilled Promises of Hugo Chávez" (Eine leere Revolution - Hugo Chávez' nicht eingehaltene Versprechen) schildert dort Francisco Rodríguez die wirtschaftliche Situation in Venezuela.

Rodríguez, Assistenzprofessor für Ökonomie an der Wesleyan University, kennt sich aus, denn er war von 2000 bis 2004 Chefökonom der venezolanischen Nationalversammlung. Eine (auszugsweise) deutsche Übersetzung ist im "Rheinischen Merkur" erschienen. Die folgenden Übersetzungen sind wie immer von mir.



Rodríguez schildert zum einen den für "populistische Volkswirtschaften" typischen allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang:
The economists Rudiger Dornbusch and Sebastian Edwards have characterized such policies as "the macroeconomics of populism." Drawing on the economic experiences of administrations as politically diverse as Juan Perón's in Argentina, Salvador Allende's in Chile, and Alan García's in Peru, they found stark similarities in economic policies and in the resulting economic evolution.

Populist macroeconomics is invariably characterized by the use of expansionary fiscal and economic policies and an overvalued currency with the intention of accelerating growth and redistribution. These policies are commonly implemented in the context of a disregard for fiscal and foreign exchange constraints and are accompanied by attempts to control inflationary pressures through price and exchange controls.

The result is by now well known to Latin American economists: the emergence of production bottlenecks, the accumulation of severe fiscal and balance-of-payments problems, galloping inflation, and plummeting real wages. Chávez's behavior is typical of such populist economic experiments.

Die Wirtschaftswissenschaftler Rudiger Dornbusch und Sebastian Edwards charakterisieren diese Politik als "die Volkswirtschaft des Populismus". Bei einer Untersuchung der ökonomischen Erfahrungen so politisch unterschiedlicher Regierungen wie derer von Juan Perón in Argentinien, Salvador Allende in Chile und Alan García in Peru fanden sie frappierende Ähnlichkeiten in der Wirtschaftspolitik und in der wirtschaftlichen Entwicklung, die diese nach sich zog.

Eine populistische Volkswirtschaft zeigt als ihre typischen Merkmale eine expansive Fiskal- und Wirtschaftspolitik und eine überbewertete Währung; das Ziel ist es, Wachstum und Umverteilung voranzutreiben. Diese Politik wird durchgängig zusammen mit einer Mißachtung der fiskalischen und währungstechnischen Zwänge durchgesetzt; Hand in Hand damit gehen Versuche, den Inflationsdruck durch Preiskontrollen und eine Kontrolle der Wechselkurse aufzufangen.

Das Ergebnis kennen lateinamerikanische Ökonomen inzwischen gut: Es entstehen Engpässe in der Produktion. Es kommt zu schwerwiegenden Problemen im fiskalischen Bereich und in der Handelsbilanz, zu einer galoppierenden Inflation und zu einem Absturz der Reallöhne. Das Verhalten von Chávez ist typisch für derartige populistische Wirtschafts- Experimente.


Zum anderen weist Rodríguez anhand von sorgfältig recherchierten statistischen Daten nach, daß es gerade den Armen, denen angeblich Chávez Fürsorge gilt, in Venezuela zunehmend schlecht geht. Einige Beispiele:
But again, official statistics show no signs of a substantial improvement in the well-being of ordinary Venezuelans, and in many cases there have been worrying deteriorations.

The percentage of underweight babies, for example, increased from 8.4 percent to 9.1 percent between 1999 and 2006. During the same period, the percentage of households without access to running water rose from 7.2 percent to 9.4 percent, and the percentage of families living in dwellings with earthen floors multiplied almost threefold, from 2.5 percent to 6.8 percent. (...)

Remarkably, given Chávez's rhetoric and reputation, official figures show no significant change in the priority given to social spending during his administration. The average share of the budget devoted to health, education, and housing under Chávez in his first eight years in office was 25.12 percent, essentially identical to the average share (25.08 percent) in the previous eight years. And it is lower today than it was in 1992, the last year in office of the "neoliberal" administration of Carlos Andrés Pérez.

Auch hier wieder zeigen die offiziellen Statistiken keine Anzeichen für eine substantielle Verbesserung der Lebensbedingungen der breiten Schichten Venezuelas, und in vielen Fällen finden sich erschreckende Verschlechterungen.

Der Prozentsatz untergewichtiger Kleinkinder stieg zum Beispiel zwischen 1999 und 2006 von 8,4 auf 9,1 Prozent. Im selben Zeitraum erhöhte sich der Prozentsatz der Haushalte ohne fließendes Wasser von 7,2 auf 9,4 Prozent, und der Prozentsatz der Familien, die in ihren Häusern auf dem nackten Erdboden leben, verdreifachte sich fast von 2,5 auf 6,8 Prozent. (...)

Trotz der Beteuerungen von Chávez und trotz seines Rufs zeigen die offiziellen Zahlen bemerkenswerterweise keine Änderung in der Bedeutung, die während seiner Regierungszeit den Sozialausgaben zuerkannt wurde. Der durchschnittliche Anteil des Haushalts, der für Gesundheit, Erziehung und Wohnungsförderung bereitgestellt wird, lag in den den ersten acht Jahren der Regierung Chávez bei 25,12 Prozent; was fast genau mit dem Wert von durchschnittlich 25,08 Prozent in den davor liegenden acht Jahren übereinstimmt. Und dieser Anteil ist heute niedriger als im letzten Amtsjahr der "neoliberalen" Regierung von Carlos Andrés Pérez.



Wie kommt es, daß diese Fakten außerhalb von Venezuela so wenig bekannt sind; daß weithin die Vorstellung herrscht, Chávez betreibe wenn schon eine freiheitsfeindliche, so doch wenigstens eine eine soziale Politik?

Rodríguez meint, daß die Schuld daran bei den Fehlwahrnehmungen liege, wie sie für Intellektuelle und Politiker in den entwickelten Ländern typisch seien.

Diese würden bereitwillig einer Darstellung glauben, "according to which the dilemmas of Latin American development are explained by the exploitation of the poor masses by wealthy privileged elites. The story of Chávez as a social revolutionary finally redressing the injustices created by centuries of oppression fits nicely into traditional stereotypes of the region".

Einer Darstellung also, wonach die Schwierigkeiten Lateinamerikas von einer Ausbeutung der armen Massen durch reiche, privilegierte Eliten herrührten. Die Story, wonach der Sozialrevolutionär Chávez endlich diese in Jahrhunderten der Unterdrückung entstandenen Ungerechtigkeiten beseitige, passe bestens in die Stereotype über diese Region.

Für eine Beseitigung der Armut werde damit aber nichts erreicht. Hierfür bedürfe es, meint Rodríguez, ganz anderer Maßnahmen; zum Beispiel einer Reform der Landwirtschaft, die diese exportfähig macht.



Zurück zu den illegalen Einwanderern nach Europa. Man könnte ja auf den Gedanken kommen, den Präsidenten Chávez, der sich so rührend für sie einsetzt, aufzufordern, ihnen eine Heimstatt in Venezuela anzubieten.

Aber angesichts der Fakten, wie Rodríguez sie schildert, dürften die meisten wohl dankend ablehnen.



Mit Dank an Dr. Franz Hoffmann. Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.