24. Juni 2008

Psychologen, Psychiater, Populisten. Wie sollten wir auf Jugendkriminalität reagieren?

Ende 2007 haben in München zwei jugendliche Kriminelle einen Rentner fast umgebracht. Sie haben ihn zu ermorden versucht: So jedenfalls sieht es die Anklagebehörde in dem Prozeß, durch den jetzt wieder, so wie damals, vor einem halben Jahr, diese Tat die Öffentlichkeit beschäftigt.

Wenn ein Thema die Öffentlichkeit beschäftigt, dann ist das oft Anlaß für Fachleute, sich zu Wort zu melden. Zum einen, weil man sie dann um ihren Rat bittet. Zum anderen, weil sie selbst zu Recht vermuten, daß jetzt die Zeit günstig ist, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen.

Das sind Anliegen unterschiedlicher Art: Man möchte die wissenschaftliche Sicht der Dinge darstellen. Man will vor einer falschen Beurteilung in der Öffentlichkeit, gar vor populistischen Entscheidungen warnen. Und man nutzt die Gelegenheit auch nicht selten, um darauf aufmerksam zu machen, daß die Sache noch lange nicht erforscht sei und daß man dringend mehr Geld brauche, um sie besser erforschen zu können.



So ist es auch jetzt im Fall des vermutlichen Mordversuchs in München. Heute berichtet in der "Süddeutschen Zeitung" Markus C. Schulte von Drach in einem längeren Artikel über eine "Stellungnahme zur Jugendgewalt", die der Kölner Psychiater Gerd Lehmkuhl zusammen mit drei Kollegen - darunter, wie es scheint, der Sozialpsychologie Friedrich Lösel - formuliert habe.

In der übrigen deutschen Presse wird über diese Stellungnahme nicht berichtet; es ist also zu vermuten, daß die Wissenschaftler sie, jedenfalls vorerst, nur für die SZ geschrieben haben.

Am Ende des Artikels läßt Friedrich Lösel, nun, nicht gerade die Katze aus dem Sack, aber uns doch einen Blick in die Motivationslage für solche Stellungnahmen tun:
Auch wenn Gewalt nicht grundsätzlich ein Ausländerproblem ist: Programme zur Vorbeugung von Jugendgewalt sollten auf Migrantenfamilien zugeschnitten werden, fordert Lösel. Solche Programme gibt es. Und sie wirken. Lösels Team hat in den vergangenen Jahren die Entwicklung von Kindern in mehr als 600 Familien beobachtet, von denen jede zweite von Erziehern, Sozialarbeitern und Psychologen unterstützt wurde. (...)

Trotz der Erfolge stehen die Programme vor dem Aus. Ihnen fehlt das Geld. Statt Konzepte umzusetzen, beschäftigen sich Politiker offenbar lieber mit "vordergründigen Erklärungen und kurzfristigen Interventionen", monieren die Psychiater in ihrem Manifest.
Gewiß, mehr Geld für die Forschung kann man immer brauchen. Wenn die Drittmittel- Finanzierung für ein Forschungsprojekt nicht weiterbewilligt wird, dann liegt das im allgemeinen an negativen wissenschaftlichen Gutachten darüber, und nicht an Politikern. Aber andererseits können Politiker den Topf für Forschungsmittel auffüllen und so die Chance aller erhöhen, etwas zu bekommen.

Aber es wäre falsch, das Motiv für derartige Stellungnahmen allein in der Einwerbung von Forschungsmitteln zu sehen. Wenn es um Jugendkriminalität, wenn es um Kriminalität überhaupt geht, dann nehmen viele Psychiater, Psychologen, auch viele Soziologen die Notwendigkeit wahr, ihrer Sicht gegenüber Denjenigen Geltung zu verschaffen, die andere Sichtweisen vertreten.

Juristen sehen in solchen Taten Verbrechen, die es zu bestrafen gilt. Sie fragen nach der Schuld der Täter. Sie fragen sich, wie es in Menschen aussehen muß, die dazu fähig sind, einen am Boden liegenden alten Mann fast zu Tode zu treten. Sie fragen nach der Höhe der Strafe, die einer solchen Schuld angemessen ist und die andererseits der Generalprävention dient, also der Abschreckung anderer, die vielleicht auch eine solche Tat begehen könnten.

Die Sicht der Psychiater und Sozialpsychologen ist eine ganz andere. Sie fragen danach, was denn in der Entwicklung der Täter schief gelaufen ist, so daß es zu der Tat kommen konnte. Sie fragen nach der Schuld der Gesellschaft, nach den politischen und ökonomischen Verhältnissen, die - so nehmen sie an - dazu führen, daß Menschen straffällig werden.

Sie fragen danach, also versuchen sie es zu erforschen. Sie betreiben Feldforschung in den Familien, sie explorieren und testen die Täter, sie rekonstruieren Biographien. Dann machen sie Vorschläge, was man zur Prävention tun konnte.

Meist sind es Rezepte, die auf ein stärkeres Eingreifen des Staats hinauslaufen. Diese Wissenschaftler möchten gern die Gesellschaft verbessern; in der Erwartung, daß damit auch die Kriminalität geringer werden würde. Sie denken nicht in Kategorien von Schuld und Verantwortung, sondern von Ursache und Wirkung. Sie verstehen sich als Sozialingenieure.

Mit dieser Sichtweise, mit diesen Ergebnissen, Einsichten und Empfehlungen treten sie bei Gelegenheit an die Öffentlichkeit; schreiben sie Manifeste wie jetzt, stellen sie sich der Kamera.

Nicht alle mit demselben hartnäckigen Eifer wie Christian Pfeiffer, dessen spitznasiges Gesicht so regelmäßig auf dem Bildschirm auftaucht wie die Mainzelmännchen. Aber der Einfluß dieser Sozialwissenschaftler auf die Medien, und über sie auf die Öffentlichkeit, ist doch beträchtlich. Sie dominieren den öffentlichen Diskurs.



Weil das so ist, hat es mich doch ein wenig gewundert, von den Autoren des jetzigen Manifests zu erfahren, daß sie sich sozusagen als unbeachtete Mauerblümchen sehen:
Statt populistische Forderungen zu stellen, sollten sich Politiker lieber konstruktiven Programmen zuwenden, so die Psychiater. Schließlich gebe es längst "umfassende wissenschaftliche Ergebnisse zur Entstehung, zur Vorbeugung und zum Verlauf aggressiven und dissozialen Verhaltens". Jugendgewalt lasse sich durchaus verhindern. Aber das "erfordert ein Umdenken".
Ein Umdenken? Das, was diese Autoren offenbar in ihrem Manifest formuliert und/oder dem SZ-Journalisten Schulte von Drach in den Notizblock diktiert haben, ist ungefähr so sehr gängige Meinung wie die Auffassung, daß bei Sonnenschein das Wetter schön ist.

Ein "Umdenken" ist in dem, was Schulte von Drach berichtet, allenfalls bei den Autoren selbst zu erkennen, und zwar in zwei Punkten, die freilich - von ihnen oder von Drach - ganz, ganz vorsichtig formuliert werden: Daß Kriminalität auch genetische Ursachen haben könnte, und daß Jugendkriminalität gehäuft unter Einwanderern und Kindern von Einwanderern vorkommt.

Dazu lesen wir in dem Artikel (Hervorhebungen von mir):
Die Experten gehen heute auch davon aus, dass eine Neigung zur Aggression teilweise vererbt sein kann. Damit sie sich bemerkbar macht, müssen allerdings nachteilige soziale Faktoren hinzukommen.
Und zur Kriminalität jugendlicher Ausländer und Einwanderer:
Manche der gewaltauslösenden Faktoren treten in Migrantenfamilien offenbar häufiger auf. Denn Kinder aus diesen Familien gehören tatsächlich etwas häufiger zu den Intensivtätern als der Nachwuchs deutscher Eltern.
Eine gewiß vorsichtige Formulierung angesichts des Ergebnisses einer kürzlichen Untersuchung, zitiert im Sachstandsbericht 2008 des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags WD 7 - 007/08 über die Gewaltkriminalität von Jugendlichen. Unter anderem wurden in dieser Untersuchung zur Dunkelziffer 19.000 Schüler der 9. Klasse anonym befragt, ob sie im vergangenen Jahr eine Körperverletzung begangen hätten. Das bejahten 19 Prozent der deutschen und 37,5 Prozent der türkischstämmigen Jugendlichen. Die Letzteren also "etwas häufiger".



Keine Frage, die Kriminologie und die sie tragenden Wissenschaften sind nützliche, ja unverzichtbare Unternehmungen. Sie liefern Einsichten in die Ursachen und Bedingungen des Verbrechens; sie geben damit vielleicht Ansatzpunkte für das, was man zu dessen Bekämpfung tun kann.

Nur kann sich diese sozialwissenschaftliche Betrachtung ja gewiß nicht über mangelende Resonanz beklagen; sie ist im Gegenteil dominant.

Hingegen tritt eine andere, ebenso berechtigte Sichtweise immer mehr in den Hintergrund: Daß es die freie Entscheidung des Einzelnen ist, ein Verbrechen zu begehen. Daß er dafür verantwortlich ist; daß er dafür eine Strafe verdient hat. Daß es böse ist, ein Verbrechen zu behen, und nicht einfach der Schlußpunkt einer Kausalkette.

Auf dem allgemeinen Bewußtsein, daß das so ist, beruht jede funktionierende Rechtsordnung. Die sozialwissenschaftliche Betrachtungsweise, wie sie in dem Artikel von Schulte von Drach propagiert wird, klammert diese Aspekte des Moralischen, der freien Selbstverantwortung des Täters, der Schuld und Strafe aus; sie hat in empirischen Wissenschaften ja auch nichts verloren.

Nur wird in dem Maß, in dem diese letztere Betrachtungsweise zur allein selbstverständlichen wird, das Bewußtsein für Recht und Unrecht sich reduzieren. Wer als Täter auf alle die ungünstigen Faktoren hinweisen kann, die zu seiner Tat geführt hätten, der braucht keine Schuld anzuerkennen.

Er, das Opfer der Gesellschaft, hatte - so kann er es leicht sehen, im doppelten Sinn "leicht" - nur das Pech, sich erwischen zu lassen. Vor Gericht wird er den Reuigen spielen. Nicht, weil er in Kategorien von Schuld und Verantwortung denken gelernt hätte, sondern weil er verstanden hat, daß das zur Rolle eines Opfers der Gesellschaft dazugehört.

Die beiden Täter vor München bitten jetzt, vor Gericht, ihr Opfer um Verzeihung. Vor Tisch las man's anders: "Zum Motiv sagte einer der Schläger: 'Wir waren besoffen, da sind doch alle aggressiv'. Von Reue keine Spur." So stand es drei Tage nach der Tat, am 23. Dezember 2007, in "Spiegel Online".



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