27. Juni 2008

Fußball-EM und Transitivität. Was passiert, wenn zwei hartgekochte Eier gegeneinander gestoßen werden?

Es kommt bei jedem Turnier vor, aber diesmal ist es besonders drastisch: Kaum wurde eine Mannschaft in den Olymp gehoben, da knallt sie schon wieder auf den Boden der Realität.

Die Niederlande galten nach ihren Siegen über den Weltmeister Italien und den Vize- Weltmeister Frankreich als der fast schon sichere Europameister - und wurden dann von den Russen erbarmungslos entzaubert.

Jenen Russen, die daraufhin ihrerseits als der kommende Meister gehandelt wurden; hatten sie doch schon gegen Griechenland und Schweden tollen Fußball gespielt. Gestern gingen sie gegen die Spanier unter.

Auch Portugal war einmal für die Medien der große Favorit, nach den Traumsiegen über die Türkei und Tschechien. Bis die Deutschen kamen.

Die nun freilich gleich zweimal diese Berg- und Talfahrt erlebt haben: Hervorragend gegen Polen; dann - rrrums! - von den Kroaten besiegt. Wieder rauf in den Olymp beim Sieg über Portugal, und dann nur ein glücklicher Arbeitssieg über die Türkei.

Was ist da los? Können droben über den Wolken die Götter sich nicht einig werden, wem sie ihre Gunst zuteil werden lassen?

Das ist wahrscheinlich die rationalste Erklärung. Ich nennen jetzt die zweitrationalste.



In der Mathematik gibt es den Begriff der Transitivität. Ist eine Relation transitiv, dann gilt: Wenn diese Relation zwischen A und B besteht sowie zwischen B und C, dann besteht sie auch zwischen A und C. Wenn Max größer ist als Moritz und Moritz größer als Achmed, dann ist Max größer als Achmed. "Größe" ist eine transitive Relation.

Im Richtigen Leben gilt aber Transitivität oft nicht; eine Sammlung von Beispielen für Intransitivät findet man hier.

Das, was wir in diesem EM-Turnier erlebt haben, war eine sozusagen chronische Verletzung der Transitivität: Mannschaft A ist besser als Mannschaft B, Mannschaft B ist besser als Mannschaft C - aber wie ein Spiel A gegen C ausgeht, können wir daraus keineswegs vorhersagen.



Stellen Sie sich das folgende einfache, ja ein wenig dümmliche Spiel vor: Zwei Leute sitzen oder stehen sich gegenüber. Jeder hat ein hartgekochtes Ei in der Hand, der eine ein rotes und der andere ein blaues. Auf ein Kommando stoßen sie die Eier kräftig gegeneinander, sehr kräftig. Was passiert?

Wenn sie kräftig genug gestoßen haben, gibt es Bruch. Da beide Eier fragil sind, könnte man meinen, daß sie auch beide den Zusammenstoß nicht heil überstehen. Aber so ist das nicht.

Was passiert - Sie probieren es am besten aus - ist dies: Ein Ei geht zu Bruch, und das andere bleibt heil.

Warum? Die beiden Eier sind natürlich ein klein wenig verschieden in ihrer Festigkeit (das hängt z.B. vom Alter der Henne ab, die sie gelegt hat). Ist nun das rote Ei, wenn auch geringfügig, stabiler als das blaue Ei, dann erzeugt es in dessen Schale - wenn hinreichend fest gestoßen wurde - in den ersten Millisekunden des Kontakts einen kleinen Riß. Und sobald der da ist, hat das blaue Ei keine Chance mehr.

Es verliert schlagartig seine Festigkeit, fällt in sich zusammen und kann dem roten Ei nichts mehr antun. (Der Vorgang muß nicht unbedingt durch die Stabilität der Schale determiniert sein; vielleicht auch durch die Richtung des Stoßes oder dergleichen; aber jedenfalls bleibt ein Ei heil, und das andere geht zu Bruch).

Das ist ein klassisches Beispiel für ein nichtlineares System: Eine winzige Ursache - der kleine Unterschied in der Stabilität - hat eine massive Wirkung: Ein Ei bleibt völlig heil, das andere zerbricht.



Auch die Dynamik eines Fußballspiels ist diejenige eines nichtlinearen Systems. Hier kann nicht nur ein kleiner Faktor sich in seiner Wirkung potenzieren, sondern es kommt noch hinzu, daß sehr viele Faktoren wirken und miteinander interagieren, daß vor allem der Zufall eine große Rolle spielt.

Diese Faktoren, die jeweils die eine oder die andere Mannschaft begünstigen (und die sich im Tabellenstand ausdrücken, oder in den vorausgegangenen Erfolgen oder Mißerfolgen in einem Turnier), addieren sich nicht linear, sondern im Spiel entsteht eine Dynamik, in der kleine, in der oft auch zufällige Faktoren eine sehr große Wirkung entfalten können. Das Verhalten eines solchen Systems ist schwer zu prognostizieren.

In den Spielen dieses Turniers schien oft der Spielbeginn eine große Rolle zu spielen.

Gegen die Türkei war es zum Beispiel so, daß die deutsche Mannschaft in der ersten Viertelstunde "nicht zu ihrem Spiel fand" und danach verunsichert wirkte. Das mag zunächst an Zufällen gelegen haben - an ein paar Pässen, die nicht ankamen; Spielern, die zufällig ungünstig standen -, aber es wirkte auf die Spieler zurück und machte es wahrscheinlicher, daß sie erneut solche Fehler produzierten. Spieler, die eine schlechte Tagesform hatten, verunsicherten durch ihre Fehler die anderen.

So jedenfalls könnte es gewesen sein; so ähnlich wird es gewesen sein: Aus kleinen Ursachen werden große Wirkungen. Faktoren, die für sich selbst unbedeutend sind, können entscheidend werden, wenn sie sich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken. Das ist eben die Dynamik eines nichtlinearen Systems.

Die Folge ist Intransitivität. Hinge das Ergebnis eines Spiels allein von der "Papierform" ab, dann würde Transitivität herrschen: Wenn Mannschaft A die Mannschaft B schlägt und B die Mannschaft C, dann wird auch A die Mannschaft C schlagen. Wegen der Dynamik des nichtlinearen Systems gilt das aber halt nicht.

Leider nicht, aus der Sicht guter Mannschaften. Zum Glück nicht, aus der Sicht der im Rang weiter unten Stehenden und des Zuschauers, der seine Spannung haben möchte.

Habe ich jetzt etwas anderes gesagt als Sepp Herberger mit seinem unsterblicnen Satz "Der Ball ist rund"? Nein.



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