15. März 2012

Neuwahlen in NRW: Die Lage der Parteien, die Chance der FDP

Ob das Scheitern der Regierung Kraft nun gezielt betrieben worden war (und wenn ja: von wem?), oder ob man in die Situation hineinschlitterte, weil niemand die juristischen Folgen der Ablehnung eines Einzeletats in zweiter Lesung gekannt hatte, das sei dahin­gestellt.

Es ist ja auch egal. Man kann ein Land wie NRW, das mehr Einwohner hat als Holland und fast doppelt so viele wie Schweden, nicht ohne eine parlamentarische Mehrheit regieren. Das hatte auch Hannelore Kraft gewußt; und sie hat es gegen ihre Überzeugung, auch gegen ihr Versprechen, dennoch versucht (siehe Hannelore Krafts Scheitern, Hannelore Krafts Erfolg. Versprochen, gebrochen, wahrscheinlich gewonnen; ZR vom 14. 3. 2012). Jetzt ist das eingetreten, was früher oder später eintreten mußte.

Die Ausgangslage für die Neuwahlen wahrscheinlich am 6. oder am 13. Mai ist klar: Wenn es bis dahin nicht ein politisches Beben gibt, dann wird Rotgrün weiterregieren, jetzt aber mit einer eigenen Mehrheit im Düsseldorfer Landtag. Dennoch ist ein spannender Wahlkampf zu erwarten, mit einem Ergebnis, das politische Auswirkungen haben wird. Dies in allen Parteien, außer der roten und der grünen:


Die CDU. Der agile Norbert Röttgen hat, kaum war die Nachricht von den Neuwahlen heraus, mit Eifer seinen Hut in den Ring geworfen. Nicht, weil er in Düsseldorf regieren will (jedenfalls jetzt nicht), sondern weil die Bewerbung um das Amt des Ministerpräsidenten eine Sprosse auf seiner Karriereleiter sein soll.

"Die Frage nach einem Koalitions-Wunschpartner stelle sich derzeit nicht", hat Röttgen gesagt. Freilich nicht. In der Opposition gibt es keine Koalition.

Dennoch hat Röttgen etwas zu verlieren: Bliebe die CDU noch unter ihrem miserablen Ergebnis von 34,6 Prozent vom Mai 2010, dann würde man das ihm anlasten. Das dürfte er freilich bedacht und das Risiko als kalkulierbar beurteilt haben; denn damals war die CDU um mehr als zehn Prozent gegenüber 2005 abgerutscht. Ein wenig von diesem Verlust dürfte sich wohl wieder kompensieren lassen; und Röttgen wird sich das als Feder des Erfolgs an den Hut stecken, der einmal der Kanzlerhut werden soll, schwarz und grün gestreift.


Die Kommunisten. Das erste westdeutsche Bundesland, in dem man einen Fuß in die Tür zur Macht bekommen wollte, hatte für die Partei "Die Linke" einst Hessen sein sollen. Das ist damals, nachdem Andrea Ypsilanti Ende 2008 bereit gewesen war, ihr Wahlversprechen zu brechen und sich von dieser Partei tolerieren zu lassen, allein an der Standfestigkeit von vier SPD-Abgeordneten gescheitert (siehe Die vier hessischen SPD-Dissidenten bei Reinhold Beckmann. Wie glaubwürdig sind sie? Über Gewissensentscheidungen; ZR vom 11. 11. 2008).

Nun sollte es vor zwei Jahren NRW sein, wo die Kommunisten den Sprung in die Regierung schaffen wollten. Hannelore Kraft hatte es klüger gemacht als ihre Genossin Andrea Ypsilanti - man kann auch sagen, sie hatte aus deren Schicksal gelernt - und sich vor den Wahlen im Mai 2010 nicht festgelegt, was eine mögliche Zusammenarbeit mit den Kommunisten anging. Als es nach den Wahlen am 6. Mai nicht für Rotgrün gereicht hatte, zögerte sie nicht lange, und man traf sich mit einer Delegation der Kommunisten, um über eine mögliche Koalition zu reden.

Als die SPD-Leute und Grünen bei einem ersten Gespräch Diejenigen näher beschnuppert hatten, mit denen gemeinsam man eventuell regieren wollte, kehrte freilich schnell Ernüchterung ein:
Dann, nach viereinhalb Stunden, traten Kraft und Löhrmann um 18.35 Uhr vor die Kameras. (...)

Es sei in der Diskussion um Demokratieverständnis sowie das Verhältnis zur DDR und um Verfassungsfestigkeit gegangen. Dort habe es "sehr viele" relativierende Äußerungen gegeben, "die uns zu der Einschätzung gelangen lassen, dass dies ein wesentlicher Punkt ist, der für eine Koalition ein großes Hindernis darstellen würde".
So "Welt-Online" am 20. Mail 2010; ich habe es damals zitiert und kommentiert ("... und steigt, fast möcht man sagen, heiter und vollbefriedigt von der Leiter". Düsseldorfer Koalitions-Turnübungen; ZR vom 21. 5. 2010).

Da waren sie also wieder einmal die Schmuddelkinder geblieben, diese elf Kommunisten im Düsseldorfe Landtag, von denen nicht weniger als zehn nach damaligen Recherchen des SWR in extremistischen Organisationen oder deren Umfeld tätig waren (siehe Auf dem Weg in die Volksfront? Über die Mitglieder der Fraktion von "Die Linke"; ZR vom 13. 5. 2010).

Man hatte den Fuß erst einmal nicht in die Tür bekommen. Umso mehr werden die Kommunisten jetzt bestrebt sein, bei den Neuwahlen wieder in den Landtag zu zurückzukehren. Mit dem Mitregieren wird es zwar auch diesmal nichts werden; aber der Brückenkopf in Westdeutschland sollte doch zumindest gehalten werden.


Die Partei "Die Piraten". Mit ihrem spektakulären Wahlerfolg in Berlin am 18. September 2011 sprangen sie in die deutsche Parteienlandschaft hinein wie Ziethen aus dem Busch. Sie schien es selbst kaum fassen zu können, diese Partei, welche Rolle ihr unversehens zugewachsen war. In der deutschen Öffentlichkeit herrschte zunächst Neugier und ein Rätselraten darüber, was die "Piraten" denn eigentlich wollen; außer das bisherige Urheberrecht abschaffen, das hatte sich schnell herumgesprochen.

Allmählich lichtete sich der Nebel. Sichtbar wurde eine neue linke Partei, die nicht nur für die kostenlose Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs eintritt, sondern beispielsweise auch für ein bedingungsloses Grundeinkommen (siehe Falls Sie als Liberaler erwägen, die "Piratenpartei Deutschland" zu wählen, dann lesen Sie bitte dies; ZR vom 4. 12. 2011).

Sichtbar wurde eine neue Generationspartei, wie sie ähnlich 1980 aus allerlei alternativen Bewegungen der siebziger Jahre unter dem Namen "Die Grünen" hervorgegangen war. Eine Partei also von jungen Leuten, die ihre Ansprüche an das Leben, an die Welt, an die Gesellschaft in eine politische Form gießen.

"Wir wollen alles, und zwar sofort" war einer der legendären Slogans des Mai 1968 in Paris gewesen. "Alles" - das hieß damals eine neue, gerechte Gesellschaft; die Phantasie an der Macht; Freiheit, Zärtlichkeit und Solidarität; kurz das Paradies, hier auf Erden etabliert.

Auch die Partei "Die Piraten" will alles, und zwar sofort. Nur ist "alles" für sie kostenlose Musik und kostenlose Lektüre aus dem Internet, kostenlose Benutzung von Bussen und U-Bahnen, Einkommen für alle ohne Arbeit und ein Papa Staat, der allen ein sorgenfreies Leben ermöglicht (siehe Generation Flatrate. All inclusive, Nulltarif, Frühstücksbuffet. Auf dem Weg in die Schlaraffenland-Gesellschaft; ZR vom 16. 2. 2012; sowie Mal wieder ein kleines Quiz: Welche Partei ist das?; ZR vom 12. 3. 2012).

An die Stelle der verstiegenen Ideologie ist pragmatisches Begehren getreten. Man ist bei den "Piraten" realistischer als die beiden Generationen zuvor. Hedonistisch ist man eher noch mehr.

Die Neuwahlen in NRW sind jetzt die erste Probe darauf, ob der Erfolg in Berlin ein regionales Kuriosum war, oder ob sich hier wirklich eine neue politische Kraft etablieren wird; eine - soweit man es der bisherigen Programmatik entnehmen kann - öko-libertär-sozialistische Partei.

Die Bundesrepublik wäre dann bei einer Zersplitterung des Parteiensystems angekommen, wie es sie in der Weimarer Republik gegeben hatte, mit - CDU, CSU, FDP, SPD, "Die Grünen", "Die Linke", "Die Piraten", NPD - acht überregionalen Parteien, die mindestens in einem Landtag vertreten sind. Die Älteren werden sich mit Nostalgie an den "Trend zum Dreiparteiensystem" in der alten Bundesrepublik erinnern, der vor einem halben Jahrhundert als nachgerade sicher gegolten hatte.



Die FDP. Für die bisher besprochenen Parteien sind die Neuwahlen in NRW von erheblicher politischer Bedeutung. Für die FDP sind sie von einer immensen Bedeutung. Es mag übertrieben sein, zu sagen, daß sich in ihnen ihr politisches Schicksal entscheidet. Aber ob sie weiter auf denkbar niedrigem Niveau stagniert oder aber den Wiederaufstieg einleiten kann - das könnte sich Anfang oder Mitte Mai in NRW sehr wohl entscheiden.

Die Ausgangslage ist denkbar einfach: Zwei Prozent. Das sagen übereinstimmend die aktuellen Umfragen. Weiter nach unten geht es nicht mehr. Numerisch natürlich schon; aber für die politische Durchschlagskraft ist es bedeutungslos, ob eine Partei am Wahlabend bei 2,2 Prozent oder bei 1,4 Prozent steht.

Das bedeutet, daß die FDP in diesem anstehenden Wahlkampf etwas riskieren kann, etwas riskieren muß. Sie muß unbedingt versuchen, aus der Abwärtsspirale herauszukommen, die sie in die jetzige Bredouille geführt hat. Ich habe diesen Abstieg immer wieder kommentiert und zu analysieren versucht, zuletzt Ende Januar (Gingrichs Aufstieg, Wulffs Affäre, der Niedergang der FDP - drei Beispiele für rückgekoppelte Prozesse. Was folgt für das Los der FDP? Gutes! (Teil 2); ZR vom 30. 1. 2012).

Natürlich wird das nicht leicht werden. Zum einen, weil die FDP in Nordrhein-Westfalen, diesem traditionell vom katholisch-konservativen und vom Gewerkschaftsmilieu geprägten Bundesland, nie besonders stark gewesen ist. Sie war dort immer eine Nischenpartei.

Zweitens wird der FDP der publizistische Wind kräftig ins Gesicht blasen. Denn auch in den linksgrün beherrschten Medien ist natürlich bekannt, welche Bedeutung diese Wahl für die FDP haben wird. Also wird man auf sie schießen, aus allen Rohren. Ist die FDP erst einmal eliminiert, und mit ihr der politische Liberalismus, dann gibt es gegen die Errichtung einer formierten ökosozialistischen Gesellschaft kaum noch ein ernsthaftes Hindernis.

Zur Jagd ist bereits geblasen, und zwar vom Leitmedium selbst; genauer von einem der Leiter des Leitmediums: Roland Nelles, Chef des Hauptstadtbüros und Mitglied der Chefredaktion von "Spiegel-Online".

Unter der Überschrift - man könnte sie mies nennen, diese Überschrift - "NRW-Neuwahl - Die miesesten Zocker Deutschlands" zieht Nelles über die Parteien in NRW her. Über die FDP schreibt er:
Nun könnte man sagen, es ist löblich, dem rot-grünen Schuldenhaushalt die Zustimmung zu verweigern. Doch übrig bleibt letztlich doch nur das Bild einer konfusen Partei, die von den Usancen des Haushaltsrechts völlig überrascht wurde und beim Taktieren den Überblick verloren hat. Das haben zwar auch die anderen nicht kapiert, aber die FDP hat den größten Schaden.
Ja, wat denn nu? sagt der Berliner. Die FDP benimmt sich "löblich", indem sie standhaft gegen einen Schuldenhaushalt stimmt. Das aber ist auch wieder "konfus". Konfus waren zwar auch die anderen, aber der FDP wirft Nelles vor, daß sie "den größten Schaden" hätte. Und Nelles weiter:
Rösler und die Seinen wollen sich als letzte aufrechte Kämpfer gegen Schuldenwahn und wirtschaftliche Unvernunft aufspielen. Das ist schön. Nur, wer soll der FDP diese Nummer noch abnehmen?
Da haben wir dann alles beieinander: Die FDP ist, wenn sie gegen einen Kurs der Verschuldung stimmt, a) konfus und b) unglaubwürdig. Was immer sie tut, die FDP - es kann ab sofort gegen sie verwendet werden.

Denn es geht ja Journalisten wie Nelles gar nicht um das, was die FDP tut, sondern um das, was sie ist, nämlich liberal. Sie ist ein Störfaktor in der Harmonie der deutschen Volksgemeinschaft (siehe Unsere neue deutsche Volksgemeinschaft; ZR vom 9. 3. 2012).

Die FDP wird also diesen Wahlkampf aus einer schwierigen Situation heraus führen, mit dem Rücken zur Wand. Aber sie hat für diesen Kampf andererseits ein gar nicht so schlecht gefülltes Arsenal zur Verfügung; über ihr Eintreten gegen den Schuldenstaat hinaus, das die jetzige Krise ausgelöst hat:
  • Erstens ihr Personal. Landesvorsitzender ist seit dem November 2010 der ausgezeichnete Daniel Bahr, seit dem Revirement im Mai 2011 Bundes­­gesundheits­­minister; ein Mann von anderem Kaliber als jener taktierende und finassierende Andreas Pinkwart, den er als Vorsitzenden ablöste (zu Pinkwart siehe zum Beispiel Es ampelt wieder in NRW. Andreas Pinkwart wird zur Witzfigur; ZR vom 18. 6. 2010).

    Ebenfalls aus Nordrhein-Westfalen kommt Frank Schäffler; er ist dort Vorsitzender des Bezirksverbands Ostwestfalen-Lippe. Wie immer man seinen europapolitischen Kurs beurteilt - jedenfalls hat Schäffler mit seiner Geradelinigkeit und Standfestigkeit viel für das Ansehen der FDP getan; er ist das Gegenteil eines Umfallers (siehe zum Beispiel "Die individuelle Freiheit nach vorn stellen". Frank Schäffler über den "Liberalen Aufbruch"; ZR vom 20. 9. 2010).

  • Zweitens gibt es gerade in NRW genug Themen, in denen die FDP sich von den anderen Parteien abheben könnte und mit denen sie, wenn sie es im Wahlkampf geschickt anstellt, bei vielen Bürgern punkten kann. Sie muß sich allerdings trauen, bewußt und prononciert eine Minderheitsmeinung zu vertreten, statt sich konformistisch hinten an den Geleitzug der jeweils dominierenden Meinung anzuhängen; wie sie es leider bei der kollektiven Besoffenheit des "Ausstiegs" aus der Atomenergie getan hat.

  • Beispielsweise wird die FDP sicherlich die Gewerkschaften nicht für sich gewinnen können, wenn sie sich konsequent für die Beibehaltung liberaler Regelungen beim Ladenschluß einsetzt. Aber die Minderheit derer, die aus beruflichen oder anderen Gründen darauf angewiesen sind, auch einmal abends einzukaufen, wird sie damit ansprechen können. Beispielsweise wird die FDP bei vielen Angehörigen der Universitäten punkten können, wenn sie sich dezidiert für die Erhaltung der (in NRW unter Schwarzgelb eingeführten) Autonomie der Hochschulen einsetzt. Diese ist inzwischen dadurch gefährdet, daß die Kompetenzen der Hochschulräte eingeschränkt werden sollen.

  • Die FDP ist nun einmal eine Nischenpartei, gerade auch in NRW. Das gilt ganz besonders für die neue deutsche Staatsreligion "Umweltschutz". Hier beginnt sich eine Nische zu entwickeln, die rasch wachsen könnte - bevölkert von allen denjenigen, die mittlerweile Zweifel daran hegen, daß der "Ausstieg" richtig war; die sich fragen, ob angesichts der wissenschaftlichen Unkenntnis darüber, wie sich das Klima entwickeln wird, der CO2-Reduktion wirklich der Stellenwert zukommen sollte, der ihr gegenwärtig gegeben wird.
  • Auch damit würde die FDP gegen den Strom schwimmen. Sie würde die Minderheit derer ansprechen, die sich darüber ärgern, daß ihnen der Kauf von Glühbirnen unmöglich gemacht wurde; daß sie einer unsinnigen Flaschenpfand-Verordnung unterworfen sind; daß Windräder die Landschaft verschandeln und daß wir Stromkunden für den Profit der Solarindustrie zahlen müssen.

    Aber es müßten ja nur etwas mehr als fünf Prozent sein, die zu diesen Minderheiten zählen und die sich überzeugen lassen - und die FDP hätte in NRW einen großen Erfolg errungen.

    Ein Erfolg, der - lassen Sie es mich noch ein wenig weiterdenken - weitere Erfolge nach sich ziehen könnte. Denn die jetzige tiefe Krise der FDP ist ja keine strukturelle Krise (siehe Die CDU rückt nach links. Warum verliert sie dadurch nicht Wähler an die FDP? Ein Paradox, eine These. Und eine Hoffnung; ZR vom 17. 11. 2011). Der Liberalismus ist nicht obsolet geworden; die liberale Partei gibt lediglich derzeit ein schlechtes Bild ab. Sie spielt ihre Rolle schlecht, aber diese Rolle ist ja deshalb nicht aus dem politischen Drehbuch gestrichen.

    Spätestens seit dem "Ausstieg" gibt es in Deutschland ein politisches Einheitsdenken, das Platz für Widerspruch, für eine sich dieser Konformität nicht fügende Minderheit schafft. Strukturell sind die Chancen für eine FDP, die diese Lage zu nutzen weiß, sogar gut. Sie muß sich nur trauen, diese Rolle zu übernehmen, statt dem jeweils gerade herrschenden Zeitgeist hinterherzuhumpeln.­
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Landtag in Düsseldorf. Vom Autor Thomas Rosenau unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.5 Generic-Lizenz freigegeben.