9. März 2012

Marginalie: Unsere neue deutsche Volksgemeinschaft. Nebst einer Anmerkung zu Feminismus und Antifeminismus

An der Oberfläche ist Deutschland ein Land, in dem ständig und intensiv politisch diskutiert wird.

Kein Tag ohne politische Talkshow im Fernsehen. Die Presse hat zu einem erheblichen Teil den Charakter einer politischen Meinungspresse; politisch neutrale Magazine und Zeitungen, wie sie anderswo eine bedeutende Rolle spielen (in den USA zum Beispiel Time Magazine und die Washington Post), gibt es so gut wie nicht. Auch die elektronischen Medien bieten überwiegend Meinungsjournalismus.

Aber das ist eben nur die Oberfläche. Sieht man genauer hin, dann findet man das Deutschland von heute charakterisiert durch einen Mangel an wirklichen politischen Debatten.

Deutlich wird das, wenn man den Blick nach außen richtet. In den USA wird gegenwärtig innerhalb des Vorwahlkampfs leidenschaftlich diskutiert. Die Republikaner propagieren ihr Gesellschaftsmodell, das auf der Freiheit des Einzelnen und auf konservativen Werten basiert, als Gegenentwurf zu Barack Obamas Projekt einer sozialdemokratisierten Gesellschaft. Innerhalb der Republikanischen Partei gibt es wiederum heftige Auseinandersetzungen darüber, wie radikal dieser Gegenentwurf sein sollte und ob mehr die Freiheit oder mehr die konservativen Werte im Vordergrund zu stehen haben (siehe die Serie US-Präsidentschaftswahlen 2012).

Ähnlich ist es in Frankreich. Dort versucht Präsident Sarkozy es - freilich sehr spät - mit einem Programm der Liberalisierung, während sein aussichtsreicherer Gegenkandidat François Hollande dieses ohnehin etatistische Land noch umfassender unter die Kuratel der staatlichen Regulierungen stellen will (siehe Wahlen in Rußland, Frankreich, dem Iran: Welches ist die Ausgangslage? (Teil 1: Frankreich und Rußland); ZR vom 2. 3. 2012).

Solche Grundsatzdebatten finden in Deutschland, bei allem ständigen politischen Geplauder und Gerede, nicht statt.

Im Grunde ist man sich in fast allem einig - man ist für (noch!) mehr soziale Gerechtigkeit, für noch mehr Kampf gegen die Klimakatastrophe, für noch mehr Gleichstellung von Frauen; man ist einhellig für noch bessere Integration von Einwanderern und selbstverständlich für immer mehr Schutz in allen Lebensbereichen - vom Verbraucherschutz über den Nichtraucherschutz bis zum Schutz vor den schädlichen Auswirkungen falscher Ernährung.

Die Diskussion dreht sich nur noch um den besten Weg dorthin; die Ziele haben - so wird es jedenfalls dargestellt - alle Deutschen gemeinsam.

Alternative politische Zielvorstellungen, die in Ländern wie den USA und Frankreich mit Leidenschaft diskutiert werden, spielen kaum eine Rolle - liberale Werte wie weniger Staat und mehr Rechte des Einzelnen, konservative Werte wie Schutz von Traditionen und Erhaltung von Institutionen; der Familie beispielsweise. Traditionen kommen allenfalls dann ins Spiel, wenn es sich um Traditionen von Einwanderern handelt, die es zu respektieren gilt. Von Freiheit wird noch am ehesten in Begriffsverbindungen wie Demonstrations­freiheit gesprochen



Deutschland schließt damit jetzt wieder an seine Vergangenheit an; an das schon im neunzehnten Jahrhundert herrschende Gemeinschaftsdenken. Die Nazis hatten deshalb mit ihrer "Volksgemeinschaft" leichtes Spiel, die DDR-Kommunisten mit der "sozialistischen Menschengemeinschaft".

Nach der Gründung der Bundesrepublik hatte sich dann allerdings vieles verändert. In der Adenauerzeit wurde beispielsweise heftig über die Westintegration gestritten; anfangs auch über Plan- oder Marktwirtschaft. Ab Ende der sechziger Jahre und durch die ganzen siebziger Jahre hindurch gab es später die tiefgreifenden Auseinandersetzungen darüber, wie das (so ein SPD-Wahlslogan von 1976) "Modell Deutschland" aussehen sollte. "Freiheit statt Sozialismus" lautete das Motto der CDU; in der Version der CSU sogar "Freiheit oder Sozialismus".

Wann diese Bereitschaft zur grundsätzlichen gesellschaftlichen Debatte zu Ende ging, ist schwer zu sagen. Jedenfalls stieß nach 1998 das rot-grüne "Projekt" eines, wie man es formulierte, "ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft" kaum noch auf ernsthaften Widerstand. Bereits damals gab es den Konsens in nahezu allen Grundfragen, der sich dann über die Große Koalition bis in die heutige christlich-liberale Koalition hinein fortgesetzt hat.

Ja, bis in sie hinein. Zwar hat im Vorfeld der Bundestagswahlen 2009 die FDP sogar den Slogan "Freiheit statt Sozialismus" noch einmal wiederbelebt; aber zu einer gesellschaftlichen Debatte zu diesem Thema, wie es sie in den siebziger Jahren gegeben hatte, reichte es jetzt nicht mehr. Man wollte bei den Wahlen 2009 den Wechsel, aber keinen Neubeginn.

Als es die Union und die FDP an die Regierung geschafft hatten, fehlte damit das gesellschaftliche Klima für eine Umgestaltung, wie sie Willy Brandt 1969 ("Mehr Demokratie wagen"), wie sie Helmut Kohl 1982 ("Geistig-moralische Wende") versucht hatten. In ihrer glänzenden Analyse "Angela Merkel - ein Irrtum" hat Cora Stephan im einzelnen gezeigt, wie sehr die zweite Regierung Merkel die Hoffnungen auf eine solche Reformierung der Gesellschaft enttäuscht hat.

Ob es hätte anders werden können, gegeben das gesellschaftliche Klima eines allumfassenden Konsenses - darüber mag man freilich streiten. Cora Stephans Bestandsaufnahme jedenfalls ist pointiert, prägnant und auch ein Jahr nach Erscheinen des Buchs noch unbedingt lesenswert.



Es gibt zwei Anlässe für diese Marginalie.

Der eine ist der Umgang mit dem Buch von Vahrenholt und Lüning, zu dem gestern hier wieder ein Artikel zu lesen war. Die Autoren stellen einen weitgehenden gesellschaftlichen Konsens in Frage - nämlich den, daß eine Klimakatastrophe unausweichlich ist, wenn wir nicht auf allen Ebenen unseres Handelns etwas dagegen tun. Aber die Debatte, die das eigentlich hätte auslösen müssen, findet bisher nicht statt. Die Medien verweigern sie einfach; so, wie vor eineinhalb Jahren das Buch Sarrazins nicht wirklich diskutiert, sondern exorziert worden war.

Der zweite Anstoß zu dieser Marginalie war ein Interview, das vorgestern - offenbar zum gestrigen Weltfrauentag - in "Zeit-Online" erschien. Die Journalistin Tina Groll interviewte darin Hinrich Rosenbrock, der im Vorspann des Artikels als Soziologe, andernorts als "von Haus aus Sozialpsychologe und Sozialanthropologe mit dem Schwerpunkt Gender Studies" bezeichnet wird. Eine Universität, an der er forscht, habe ich nicht finden können.

Was dieser Soziologe, Sozialpsychologe oder Sozial­anthropologe sagt, wirft ein Schlaglicht darauf, wie weit unsere Konsensgesellschaft schon fortgeschritten ist.

Rosenbrock befaßt sich mit Männern, die nicht mit dem Feminismus einverstanden sind und die er "Antifeministen" nennt.

Der Feminismus ist eine kämpferische Bewegung mit sehr einseitigen gesellschaftlichen Zielsetzungen; es ist in einer demokratischen Gesellschaft nachgerade selbstverständlich, daß so etwas Kritik auslöst und Gegenbewegungen hervorbringt. Aus der Sicht von Rosenbrock ist das aber höchst bedenklich. Er sieht im Feminismus und diesen zu ihm alternativen Strömungen keineswegs zwei gleichberechtigte gesellschaftspolitische Ansätze. Die Gegner des Feminismus sind ihm vielmehr nur noch eine sie herabwürdigende Etikettierung wert:
Die Anhänger haben keine geschlossene Ideologie. Einige haben eine konservativ-reaktionäre Weltsicht, andere sind eher neo-liberal eingestellt, wieder andere vertreten rechtsextreme Weltanschauungen. Sie wollen sachliche Diskussionen über Gleichstellung behindern, aber sie bieten keine alternativen Rollenbilder für Männer an.
Ja, das ist freilich schlimm. Über eine Gruppe namens Agens heißt es weiter:
Agens tritt nach außen für Geschlechterdemokratie und Gleichberechtigung ein, aber dahinter steht ein biologistisches Denkmodell mit konservativen bis reaktionären Vorstellungen. (...) Agens gibt sich einen wissenschaftlichen Anstrich, die Sprecher des Vereins versuchen mit wissenschaftlichen Veranstaltungen wie etwa beim Max-Planck-Institut oder am Wissenschafts­zentrum Berlin öffentlich zu punkten.
Wenn jemand "konservative bis reaktionäre Vorstellungen" hat, dann kann derjenige natürlich keine ordentliche Wissenschaft betreiben. Wenn er für Gleichberechtigung eintritt, dann natürlich nur "nach außen hin". Wenn er forscht, dann gibt er sich nur einen wissenschaftlichen "Anstrich". Und wenn das so ist, dann muß man sich am Ende auch ernsthaft fragen, ob das überhaupt noch Demokraten sind:
Das Engagement für Männerrechte ist wichtig, aber wenn es auf frauen- und menschenfeindliche Weise geschieht, wie es die Antifeministen tun, stellt dies eine Gefahr für die Demokratie dar.
Da haben wir es. Wer den Feminismus nicht bejaht, der gehört aus der Sicht Rosenbrocks gar nicht mehr zu den Demokraten.

Wäre Rosenbrock ein extremistischer Einzelgänger, dann könnte man über diese intolerante, freiheitsfeindliche Einstellung gegenüber Andersdenkenden hinweggehen. Aber sein Denken spiegelt ja nur das wider, was ich oben zum Konsensdenken allgemein geschrieben habe: Wer vom jeweils verordneten Konsens abweicht, der wird ausgegrenzt. Seine Positionen werden nicht mehr diskutiert, sondern nur noch soziologisierend oder - wie es Rosenbrock tut - psychologisierend "erklärt".

Feministinnen hat man früher bekanntlich gern zugeschrieben, daß sie dies geworden seien, weil sie keine Chancen bei Männern gehabt hatten, weil sie sexuell verklemmt und frustriert seien; dergleichen. Das war und ist indiskutabel. Exakt auf dieser Ebene argumentiert Rosenbrock jetzt, wenn er Gegnern des Feminismus unterstellt, viele hätten ein "emotionales Schlüsselerlebnis" gehabt, fühlten sich "als Opfer", könnten "Gefühle nicht zulassen" und so fort.

Daß es auch vernünftige Gründe geben könnte, nicht mit dem Feminismus einverstanden zu sein, kommt Rosenbrock offenbar gar nicht in den Sinn. Das Soziologisieren, das Psychologisieren der Meinungen Andersdenkender ist ein untrügliches Zeichen für ein Weltbild, das nur noch eine einzige Wahrheit kennt. Eine Wahrheit, der sich jeder in der Volksgemeinschaft anzuschließen hat. Und wer sich nicht anschließen will, der wird ausgeschlossen.



Ich bin übrigens kein Gegner des Feminismus, der ja auch gar nichts Einheitliches ist, sondern sehr unterschiedliche Strömungen umfaßt.

Natürlich haben die gesellschaftlichen Veränderungen in der Moderne die Frage nach der Rolle der Frauen - wie auch derjenigen der Männer - auf die Tagesordnung gesetzt. Solche Umbrüche bringen immer auch Ideologien hervor; die einen extremer, die anderen gemäßigter. Und in einer freien Gesellschaft führt das auch zu Gegenideologien, wie jede Ideologie sie zur Folge hat.

Es geht mir überhaupt nicht darum, in dieser Debatte Stellung zu beziehen. Es geht mir um das Recht derer, die den Feminismus ablehnen, ebenso ernst genommen zu werden wie Feministinnen; statt daß man sie verunglimpft und politisch diffamiert. Und es ging mir darum, an diesem Beispiel zu zeigen, wie wenig an Abweichung von der vorherrschenden Meinung in Deutschland inzwischen schon genügt, um als "Gefahr für die Demokratie" gebrandmarkt zu werden.­
Zettel



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