26. März 2012

Der deutsche Nationalstaat und das Problem der Einwanderung. George Friedman über Nation und Staatsbürgerschaft


Ist das Thema Nationalstaat überhaupt noch aktuell?

Viele Deutsche würden das vermutlich verneinen, wenn man sie danach fragte: Der Nationalstaat, das ist doch, so sehen sie es, tiefstes neunzehntes Jahrhundert. Außerdem, gerade wir mit unserer Geschichte ...

Und ist denn der Nationalstaat nicht auch durch die Globalisierung überholt?

In einem kürzlich erneut publizierten Artikel vom Juli 2010 schreibt George Friedman:
Geopolitics is central to Stratfor's methodology, providing the framework upon which we study the world. The foundation of geopolitics in our time is the study of the nation-state, and fundamental to this is the question of the relationship of the individual to the nation-state. Changes in the relationship of the individual to the nation and to the state are fundamental issues in geopolitics, and thus worth discussing.

Im Mittelpunkt der Methodik von Stratfor steht die Geopolitik. Sie liefert den Rahmen, innerhalb dessen wir uns mit der Welt befassen. Die Grundlage der Geopolitik ist in unsrer Zeit die Beschäftigung mit dem Nationalstaat, und hierfür grundlegend ist die Beziehung des Einzelnen zum Nationalstaat. Änderungen in der Beziehung des Einzelnen zum Staat sind Grundfragen der Geopolitik und es deshalb wert, diskutiert zu werden.
Aus der Sicht Friedmans sind Geopolitik und Nationalstaat kein Gegensatz, sondern die Geopolitik vollzieht sich zwischen Nationalstaaten. Wenn das richtig ist, dann haben wir Deutschen nicht die Wahl, ob wir einen Nationalstaat wollen oder nicht. Wir haben allenfalls die Wahl, ob wir die Notwendigkeit eines deutschen Nationalstaats akzeptieren oder nicht.

Daß unser Verhältnis zum Nationalstaat problematischer ist als dasjenige der meisten anderen Nationen, liegt nicht nur an der Zeit des Nationalsozialismus.

Historisch ist Deutschland, wie man mit dem Titel eines Buchs des Soziologen Helmut Plessner gern sagt, eine "verspätete Nation". Die Geburtswehen erstreckten sich über mehr als ein halbes Jahrhundert; von den Befreiungskriegen gegen Napoleon (1813 - 1815) bis zur Reichsgründung 1871. Als Deutschland endlich seinen Nationalstaat hatte, befand sich der britische auf dem Höhepunkt seiner Macht; ihre Zeit größter Machtentfaltung lag für den portugiesischen und den spanischen, für den französischen und den holländischen Nationalstaat damals schon in der Vergangenheit.

Auch unser gegenwärtiges Verhältnis - unser weit­verbreitetes Nichtverhältnis - zum deutschen National­staat ist mehr als nur eine Reaktion auf die Nazizeit.

Die Zeit der deutschen Teilung spielt dabei eine wesentliche Rolle; die Hoffnung auf ein Vereintes Europa, in dem die Nationalstaaten sich auflösen würden; und schließlich auch die Einwanderung nach Deutschland, die inzwischen Manche nachgerade dazu bringt, nicht mehr von uns Deutschen zu sprechen, sondern von den "Menschen in Deutschland", nicht vom deutschen Volk, sondern von der in Deutschland lebenden "Bevölkerung".

Von außerhalb betrachtet, ist das alles recht seltsam. Am seltsamsten mag es den Menschen im Ausland erscheinen, daß viele Deutsche gar noch stolz auf ihren Mangel an Nationalbewußtsein sind. Sie erheben ein Defizit zur Tugend; wollen aus einem Problem, mit dem sie geschlagen sind, eine Quelle ihres Stolzes machen.

Einst war dem Ausland der überzogene deutsche Nationalismus unheimlich; heute ist es dieser ostentative Mangel an einem normalen Nationalbewußtsein. Mancher mag befürchten, daß diese Tendenz wieder umschlagen könnte; daß bei den Deutschen so etwas wie eine Wiederkehr des Verdrängten eintreten wird. Es war diese Sorge, die beispielsweise François Mitterand und Margaret Thatcher zögern ließ, vor 22 Jahren der Wiedervereinigung zuzustimmen.



Was macht eine Nation aus? Friedman weist darauf hin, daß es Nationen in vielen Formen gibt - alte und neuere, bewußt geschaffene wie die USA und allmählich entstandene; solche mit einer komplizierten Struktur wie Belgien. Gemeinsam sei ihnen aber
... "love of one's own," a unique relationship with the community in which an individual is born or to which he chose to come. That affinity is the foundation of a nation.

If that dissolves, the nation dissolves, something that has happened on numerous occasions in history. If a nation disappears, the international system begins to behave differently. And if nations in general lose their identity and cohesion, massive shifts might take place.

... die "Liebe zum Eigenen", eine einzigartige Beziehung zu der Gemeinschaft, in die der Einzelne hineingeboren ist oder in die einzutreten er sich entscheidet. Diese Affinität ist die Grundlage einer Nation.

Wenn dies sich auflöst, dann löst sich die Nation auf; etwas, das in der Geschichte vielfach geschehen ist. Wenn eine Nation verschwindet, dann ändert sich das Verhalten des internationalen Systems. Und wenn generell Nationen ihre Identität und ihren Zusammenhalt verlieren, könnte es zu massiven Verschiebungen kommen.
Wenn eine Nation sich nicht auflösen soll, dann muß sie darauf bestehen, daß ihre Bürger - gerade auch die eingewanderten und ihre Nachkommen - zu ihr diese "einzigartige Beziehung" eingehen, die Friedman schildert.

Die USA sind in dieser Hinsicht rigoros. Erwirbt ein Einwanderer die US-Staatsbürgerschaft, dann muß er einen Eid leisten, mit dem er schwört,
... that I absolutely and entirely renounce and abjure all allegiance and fidelity to any foreign prince, potentate, state, or sovereignty of whom or which I have heretofore been a subject or citizen; that I will support and defend the Constitution and laws of the United States of America against all enemies, foreign and domestic; that I will bear true faith and allegiance to the same.

... daß ich jeder Treue und Verpflichtung gegenüber einem anderen Fürsten, Potentaten, einem Staat oder einer Herrschaft entsage und abschwöre, deren Untertan oder Bürger ich bisher war; daß ich die Verfassung und die Gesetze der Vereinigten Staaten von Amerika gegen alle Feinde innerhalb und außerhalb des Landes verteidige; daß ich denselben mein ganzes Vertrauen und meine Treue entgegenbringe.
Friedman weist darauf hin, daß die USA als Einwanderungsland nur existieren können, wenn sie diese strikten Anforderungen an die Einwanderer stellen. Das Land würde "ins Chaos fallen", wenn man in die USA einwandern könnte, ohne die Verpflichtungen gegenüber dem Herkunftsland aufzugeben und die neuen Verpflichtungen einzugehen, die der Eid verlangt.

Friedman sieht es als einen Widerspruch, eine "Anomalie" an, daß Einwanderern in die USA einerseits dieser Eid abverlangt wird, daß sie andererseits aber doch ihre frühere Staatsbürgerschaft zusätzlich zur amerikanischen behalten dürfen.

Er sieht darin vor allem eine Gefahr, die er als "pull of the old country" bezeichnet; als die Zugkraft des Herkunftslands: Die Herkunftsländer sind meist nicht selbst Einwanderungsländer und haben dadurch eine weniger schwierige, weil historisch gewachsene nationale Identität. Das begründet die Gefahr, daß im Konfliktfall die Loyalität des Einwanderers bei seinem Herkunftsland liegt und nicht der Nation, der er durch die Einwanderung neu angehört.



Dies sei ein Problem nicht nur der USA, schreibt Friedman abschließend. In der Tat nicht. Es ist ein Problem auch Englands, auch Frankreichs und Hollands - von Ländern mit ebenfalls einem hohen (und wachsenden) Anteil von Einwanderern. Aber kein Land hat dieses Problem im selben Maß wie Deutschland; weil kein Einwanderungsland eine derart schwache nationale Identität hat wie Deutschland.

Das Problem wird verdrängt. Viele leugnen, daß es überhaupt existiert. Wie sie sich ein Land vorstellen, dessen Bevölkerung keine gemeinsame nationale Identität hat, sagen sie allerdings nicht.

Wenn Friedman recht hat, dann kann es ein solches Land auch nicht geben. Es wird zerfallen; sich in eine Ansammlung von Bevölkerungsgruppen auflösen, die jeweils ihre eigene Identität haben. Regierbar mag ein solches Land noch eine Zeitlang sein, solange es ihm gut geht. Schwierigkeiten - äußeren Herausforderungen und inneren Konflikten - wird es nicht gewachsen sein. ­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Das Hambacher Fest vom 27. bis 30. Mai 1832. Kolorierte Federzeichnung von Erhard Joseph Brenzinger.