22. März 2012

Marginalie: Merah sprang aus dem Fenster. Sarkozys Wahlkampf und die Chancen der Kandidaten (zweite aktualisierte Fassung)

Warum griff die Polizei in Toulouse so lange nicht ein? Nach dem, was die französischen Medien berichten, dürfte es zwei Gründe für das Zögern geben.

Erstens ist, anders als bei Geiselnahmen, keine Eile geboten. Ein Nicht-Eingreifen bringt niemanden in Gefahr. Die Zeit arbeitet für die Polizei, die weiter auf Zermürbung setzt (siehe "Frankreich in die Knie gezwungen". Aktuelle Informationen zu den Morden von Toulouse und Montauban; ZR vom 21. 3. 2012).

Zweitens dürfte das Abwarten aber auch einen politischen Hintergrund gehabt haben. Der Sender France24 hat ehemalige leitende Polizeibeamte dazu befragt, wie in einem solchen Fall die Entscheidungsabläufe sind. Formal ist bei Gefahr im Verzug der Einsatzleiter vor Ort verantwortlich; sonst die vorgesetzte Polizeibehörde. Faktisch sei es aber so, daß in einem Fall wie diesem die Enscheidung "ganz weit oben" getroffen werden dürfte; also vom Präsidenten selbst oder dem Innenminister Guéant. Der Wahlkämpfer Sarkozy möchte, wie man vermuten kann, eine Lösung ohne Blutvergießen erreichen.

Im Augenblick gibt es Anzeichen dafür, daß die Wohnung von Mohammed Merah jetzt doch gestürmt werden könnte; man warte nur noch auf die Zustimmung von Guéant, heißt es. Der Innenminister befindet sich seit eineinhalb Stunden vor Ort; wie auch der Staatswanwalt François Molins und Frédéric Péchenard, der Leiter der Nationalen Polizei.



Was Sarkozys Wahlkampf angeht, scheint der Präsident in den Umfragen inzwischen Hollande eingeholt zu haben. Das gilt allerdings nur für den ersten Wahlgang am 22. April. Alle aktuellen Umfragen zeigen die beiden Kandidaten dort faktisch gleichauf. Das Institut CSA hat für Sarkozy sogar einen Vorsprung von 30 zu 28 Prozent ermittelt.

Sarkozys Aussichten, Präsident zu bleiben, sind damit aber kaum besser geworden. Denn entscheidend ist der zweite Wahlgang am 6. Mai; und für ihn sind die Daten unverändert: Hollande liegt deutlich vorn. Seit Januar ist sein Vorsprung allenfalls minimal geschrumpft (siehe Sarkozy am Ende? Frankreich steht vor einem beispiellosen Linksrutsch; ZR vom 2. 1. 2012).

Sarkozys jetziger bescheidener Aufschwung im ersten Wahlgang geht fast ausschließlich auf Kosten von Marine Le Pen, die einmal in der Nähe von 20 Prozent gesehen worden war. Aktuell geben ihr die Institute 16 (OpinionWay), 15 (Ipsos), 14,5 (LH2), 16 (Harris), 13,5 (CSA) und 17 (Ifop) Prozent. Es scheint, daß Sarkozy besonders bei den Arbeitern gegenüber Le Pen aufgeholt hat. In dieser Gruppe liegen jetzt er, Hollande und Le Pen ungefähr gleichauf.

Die auffälligste Veränderung der letzten Wochen ist der Aufstieg des kommunistischen Kandidaten Jean-Luc Mélenchon, der inzwischen die Zehn-Prozent-Marke hinter sich gelassen hat. Er liegt nur noch knapp hinter dem Kandidaten der Mitte François Bayrou, der unverändert mit 12 bis 13 Prozent rechnen kann. Mélenchon scheint vor allem bei linksextremen Wählern zuzulegen, die vor fünf Jahren den Trotzkisten Olivier Besancenot gewählt hatten.

Wie sich die Morde in Toulouse und Montauban auf den Wahlkampf auswirken werden, ist derzeit noch offen. Marine Le Pen hatte gestern mehrere TV-Auftritte und war auch bei der Trauerfeier für die erschossenen Soldaten anwesend. Die meisten Kommentatoren gehen davon aus, daß das Thema Einwanderung jetzt in den Mittelpunkt des Wahlkampfs rückt. Das könnte ihr nützen; möglicherweise auch Sarkozy.­



Nachtrag um 11.38 Uhr: France24 meldet, daß Mohammed Merah beim Eindringen der Beamten des Sondereinsatz­kommandos RAID sofort das Feuer eröffnete und erschossen wurde.

Nachtrag um 12.08 Uhr: Innenminister Guéant hat jetzt den Ablauf geschildert: Das Kommando durchsuchte die scheinbar leere Wohnung. Plötzlich sprang Merah aus dem Badezimmer und begann wild um sich zu schießen. Ein Beamter sagte, er habe noch nie ein so heftiges Gewehrfeuer erlebt. Merah sei dann, weiter um sich schießend, zum Fenster gelaufen und hinausgesprungen. Ob er an den Folgen von Schüssen der Beamten oder durch den Sturz starb, ist offenbar noch unklar.
Zettel



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