Die heutige Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten ist in mancherlei Hinsicht etwas Besonderes, eine Premiere. Und auf ihre Weise verspricht sie durchaus spannend zu werden.
Noch nie trat jemand in einem so hohen Alter erstmalig als Kandidat an; Gauck wurde im Januar 72. Theodor Heuss war 63 Jahre, als er zum Präsidenten gewählt wurde, Heinrich Lübke 66 und Gustav Heinemann 69. Karl Carstens wurde mit 61 Jahren Bundespräsident. Richard von Weizsäcker war im Monat vor seiner Wahl 64 Jahre geworden und Roman Herzog 60. Johannes Rau war 68 Jahre, als er gewählt wurde, und Horst Köhler 61.
Eine interessante Gleichförmigkeit - zwischen 60 und 70 scheint man lebenserfahren genug für das Amt des Bundespräsidenten zu sein; aber auch noch hinreichend fit. Jünger waren nur Walter Scheel (gewählt mit 54 Jahren) und unser letzter Präsident, der kurz vor seinem 51. Geburtstag gewählt wurde. Beide fielen aus dem Rahmen; Scheel durch seinen rheinischen Frohsinn ("Hoch auf dem gelben Wagen"), Wulff auf andere Weise.
Gauck ist - nun endlich - auch der erste Ostdeutsche, der Präsident wird; 22 Jahre nach der Wiedervereinigung. Es hätte schon viel früher so weit sein können, im Jahr 1994. Für die damalige Wahl des Bundespräsidenten hatte Helmut Kohl einen ausgezeichneten Kandidaten vorgeschlagen, den sächsischen Justizminister Steffen Heitmann.
Heitmann war wie Gauck in der DDR ein Pfarrer mit größter Distanz zum Regime gewesen, hatte sich wie dieser in der Wendezeit in der Opposition aktiv engagiert und vertrat wie Gauck liberalkonservative Ansichten; vielleicht ein wenig ausgeprägter konservativ als Gauck. Das genügte, um ihn zum Opfer einer Medienkampagne zu machen, der dieser aufrechte, freilich nicht mit allen Wassern des Berufspolitikers gewaschene Mann nicht standhalten konnte. Er verzichtete auf die Kandidatur.
Die Ansichten, deretwegen Heitmann damals diffamiert wurde, lohnt es sich zu zitieren:
Gauck beherrscht heute die Klaviatur des Mediengeschäfts; Heitmann scheiterte damals an einer Kampagne vor allem derer, die den Untergang des sozialistischen Deutschland als eine Niederlage der Linken empfunden hatten und die mit dieser Kampagne ein Stück linker Deutungshoheit zurückzugewinnen suchten.
Er ist der Älteste, der Bundespräsident wird, der Theologe Gauck; er ist der erste Ostdeutsche. Er wird als erster Bundespräsident sein Amt mit einer "Frau an seiner Seite" antreten, mit der er nicht verheiratet ist. Er kandidiert im zweiten Anlauf innerhalb von weniger als zwei Jahren; damals wie heute als ein zugleich ungemein beliebter und in gewisser Weise doch auch ungeliebter Kandidat.
Beliebt war er schon damals in der Bevölkerung, vor zwei Jahren; heute ist er es noch mehr. Nach einer Umfrage von Infratest dimap für die heutige Sendung "Günter Jauch" halten 80 Prozent der Deutschen Gauck für glaubwürdig. Seine Nominierung nannten Anfang März 67 Prozent eine "gute Wahl"; nur 22 Prozent verneinten das. Wohl nie ist ein Bundespräsident mit so vielen Vorschußlorbeeren, mit so vielen positiven Erwartungen in sein Amt gestartet.
71 Prozent der Befragten sagten Anfang März, Gauck werde den "Parteien in Berlin deutlich seine Meinung sagen". Hier vor allem liegen die Hoffnungen der Deutschen. Noch kein Bundespräsident wurde so sehr als überparteilich gesehen; und das zu Recht.
Denn Gauck ist in der Tat der erste Präsident, der überhaupt keine parteipolitische Vergangenheit hat. Die meisten seiner Vorgänger waren vor ihrer Wahl aktive Parteipolitiker gewesen; viele in höchsten Ämtern:
Lübke, Heinemann und Scheel waren Bundesminister gewesen; Weizsäcker, Rau und Wulff Regierungschefs eines Bundeslandes. Theodor Heuss und Roman Herzog waren Landesminister gewesen; Heuss außerdem Gründungsmitglied von zwei Parteien: 1948 der FDP und bereits 1918 der DDP, einer Vorläuferpartei der FDP.
Karl Carstens war politischer Beamter gewesen, bevor er Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag wurde. Lediglich Horst Köhler hatte nie ein Amt als Parteipolitiker innegehabt; immerhin aber war er Mitglied der CDU und als langjähriger Staatssekretär ein politischer Spitzenbeamter gewesen, bevor er zum Internationalen Währungsfonds (IWF) wechselte.
Gauck ist nicht einmal einfaches Mitlied einer Partei und das nie gewesen; er ist lediglich über seine Mitgliedschaft in der Bürgerbewegung "Neues Forum" 1990 zum "Bündnis 90" gekommen, das damals aber noch keine Partei war. Mit diesem fehlenden parteipolitischen Hintergrund spielt er wirklich in einer anderen Liga als alle seine Vorgänger. Ein Ersatzkaiser, der keine Parteien kennt, sondern nur Deutsche. "Die Deutschen leiden noch immer darunter, dass ihnen der Kaiser abhanden gekommen ist", sagt Roman Herzog (siehe Roman Herzog über Katholiken und Protestanten; ZR vom 17. 3. 2012). Jetzt bekommen sie wieder einen; wenn auch einen dezidiert bürgerlichen.
An der Oberfläche sieht es so aus, als werde Gauck nicht nur von einer breiten Zustimmung in der Bevölkerung getragen, sondern auch von einer - fast - Allparteienkoalition. Alle unterstützen den Kandidaten Gauck, außer den Kommunisten, den Rechtsextremen und vielleicht einigen "Sonstigen".
Stimmen alle Wahlleute der ihn unterstützenden Parteien für Gauck, dann müßte er im ersten Wahlgang genau 1100 der nominell 1240 Stimmen bekommen (486 von der Union, 136 von der FDP, 331 von der SPD und 147 von den Grünen).
Er wird darunter bleiben. Wie sehr, das ist eine der beiden spannenden Fragen dieser Wahl. Die andere ist, wie sich diejenigen verhalten, die nicht für Gauck stimmen: Ob sie sich enthalten oder ihre Stimme Beate Klarsfeld geben.
Der Vielgeliebte ist ja andererseits ein Ungeliebter. Als die SPD und die Grünen ihn im Juni 2010 nominierten, taten sie das nicht, weil sie politisch mit diesem in der Wolle gefärbten Liberalen übereingestimmt hätten, sondern aus taktischen Gründen. Jürgen Trittin, der als Kommunist einst den zynischen Umgang mit Wahlen gelernt hatte, war die Idee gekommen: Ein Kandidat Gauck werde auch Stimmen aus dem bürgerlichen Lager auf sich ziehen, und das werde die Koalition schwächen.
Was ja auch eintrat; Christian Wulff wurde erst mühsam im dritten Wahlgang gewählt. "Mit der Wahl Christian Wulffs zum zehnten Bundespräsidenten mit absoluter Mehrheit, aber erst im dritten Wahlgang hat das ohnehin schon lichtarme Regierungsbündnis seine eigene Zukunft weiter verdunkelt" schrieb damals Berthold Kohler in der FAZ.
Man hatte 2010 Gauck nominiert; wohl wissend, daß er nicht gewählt werden würde, daß man mit dieser Nominierung aber der Regierung Merkel schaden konnte. Aber das konnte man ja nicht gut laut sagen. Als jetzt Gauck als Kandidat erneut ins Spiel kam, hatten die Rotgrünen kaum eine andere Wahl, als bei ihrer alten Entscheidung zu bleiben.
Mehr ans Herz gewachsen dürfte ihnen Gauck heutzutage nicht sein; zumal er sich inzwischen mit mutigen Äußerungen seiner liberalen Gesinnung hervorgetan hat. Manche aus dem rotgrünen Lager werden ihm, da es denn heute geheim bleibt, ihre Zustimmung verweigern. Wie viele es sein werden, ist recht ungewiß; vor allem aber, ob das durch Stimmenthaltung geschieht oder durch die Stimme für Beate Klarsfeld.
Auch von den Wahlleuten der Union dürfte Gauck bei weitem nicht alle Stimmen bekommen.
Die Kanzlerin hatte Gauck bekanntlich auf keinen Fall haben wollen und war darüber gar "laut" geworden; wie laut, ist umstritten (siehe Joachim Gaucks Nominierung: Sieg für die Freiheit, Erfolg der FDP. Eine List der Vernunft; ZR vom 19. 2. 2012, sowie Toben und schreien; ZR vom 21. 2. 2012). Die Union mußte sich der FDP beugen, weil diese standfest blieb und die besseren Karten hatte; denn mit der SPD und den Grünen hätte sie Gauck auch ohne die Union wählen können. Aber wer sich bei einer offenen Entscheidung beugt, der muß das noch lange nicht in der Einsamkeit der Wahlkabine wiederholen.
Zahlreiche Enthaltungen also; oder mehr Stimmen für Beate Klarsfeld als die 124, die sie maximal von den kommunistischen Wahlleute bekommen könnte? Schwer zu sagen.
Erhält Beate Klarsfeld mehr als 124 Stimmen, dann hat sie sehr wahrscheinlich Stimmen von Rotgrün bekommen, vielleicht dazu auch Stimmen aus der Union; dort etwa von Wahlleuten, die ihr Engagement gegen Nazis und für Israel bewundern.
Bekommt sie weniger als 124 Stimmen, dann weiß man nur eines: Daß nicht alle Wahlleute der Kommunisten für sie gestimmt haben. Was nicht überraschend wäre. Zum einen eben just wegen jenes Engagements für Israel; auch wegen ihres Eintretens für Nicolas Sarkozy. Zum anderen dürften auch offene innerparteiliche Rechnungen ins Spiel kommen; manche haben Lötzschs Vorpreschen zugunsten von Klarsfeld nur zähneknirschend akzeptiert.
Wie viele der kommunistischen Wahlleute nicht für ihre eigene Kandidatin gestimmt haben, bleibt dann freilich ungewiß; weil man ja nicht weiß, ob und wieviele Stimmen Klarsfeld auch aus anderen Parteien bekommen haben wird.
Auch wenn es so gut wie sicher ist, daß irgendwann heute am frühen Nachmittag ein strahlender Joachim Gauck bereits im ersten Wahlgang gewählt ist - so ganz langweilig ist diese Wahl demnach doch nicht. Es würde mich nicht überraschen, wenn es bei der Zahl der Enthaltungen eine Überraschung gäbe.
Noch nie trat jemand in einem so hohen Alter erstmalig als Kandidat an; Gauck wurde im Januar 72. Theodor Heuss war 63 Jahre, als er zum Präsidenten gewählt wurde, Heinrich Lübke 66 und Gustav Heinemann 69. Karl Carstens wurde mit 61 Jahren Bundespräsident. Richard von Weizsäcker war im Monat vor seiner Wahl 64 Jahre geworden und Roman Herzog 60. Johannes Rau war 68 Jahre, als er gewählt wurde, und Horst Köhler 61.
Eine interessante Gleichförmigkeit - zwischen 60 und 70 scheint man lebenserfahren genug für das Amt des Bundespräsidenten zu sein; aber auch noch hinreichend fit. Jünger waren nur Walter Scheel (gewählt mit 54 Jahren) und unser letzter Präsident, der kurz vor seinem 51. Geburtstag gewählt wurde. Beide fielen aus dem Rahmen; Scheel durch seinen rheinischen Frohsinn ("Hoch auf dem gelben Wagen"), Wulff auf andere Weise.
Gauck ist - nun endlich - auch der erste Ostdeutsche, der Präsident wird; 22 Jahre nach der Wiedervereinigung. Es hätte schon viel früher so weit sein können, im Jahr 1994. Für die damalige Wahl des Bundespräsidenten hatte Helmut Kohl einen ausgezeichneten Kandidaten vorgeschlagen, den sächsischen Justizminister Steffen Heitmann.
Heitmann war wie Gauck in der DDR ein Pfarrer mit größter Distanz zum Regime gewesen, hatte sich wie dieser in der Wendezeit in der Opposition aktiv engagiert und vertrat wie Gauck liberalkonservative Ansichten; vielleicht ein wenig ausgeprägter konservativ als Gauck. Das genügte, um ihn zum Opfer einer Medienkampagne zu machen, der dieser aufrechte, freilich nicht mit allen Wassern des Berufspolitikers gewaschene Mann nicht standhalten konnte. Er verzichtete auf die Kandidatur.
Die Ansichten, deretwegen Heitmann damals diffamiert wurde, lohnt es sich zu zitieren:
So widerfuhr es Steffen Heitmann; er wurde in eine bestimmte Ecke gestellt. Fast alles das, was man ihm an Äußerungen vorwarf, hätte so ähnlich auch Joachim Gauck sagen können. Nur hätte er es gewinnender, souveräner gesagt."Eine multikulturelle Gesellschaft kann man nicht verordnen, sie kann allenfalls wachsen". "Mich schreckt der Begriff nicht, mich schreckt nur sein Mißbrauch" (zum Begriff der Nation). "Ich glaube, daß der organisierte Tod von Millionen Juden in Gaskammern tatsächlich einmalig ist – so wie es viele historisch einmalige Vorgänge gibt. Wiederholungen gibt es in der Geschichte ohnehin nicht. Ich glaube aber nicht, daß daraus eine Sonderrolle Deutschlands abzuleiten ist bis ans Ende der Geschichte". "Das Merkwürdige ist in der Bundesrepublik Deutschland, daß es ein paar Bereiche gibt, die sind tabuisiert. (...) Ich glaube, daß man diese Debatten auch aufbrechen muß, selbst auf die Gefahr hin, daß man in bestimmte Ecken gestellt wird, in denen man sich gar nicht wohl fühlt".
Gauck beherrscht heute die Klaviatur des Mediengeschäfts; Heitmann scheiterte damals an einer Kampagne vor allem derer, die den Untergang des sozialistischen Deutschland als eine Niederlage der Linken empfunden hatten und die mit dieser Kampagne ein Stück linker Deutungshoheit zurückzugewinnen suchten.
Er ist der Älteste, der Bundespräsident wird, der Theologe Gauck; er ist der erste Ostdeutsche. Er wird als erster Bundespräsident sein Amt mit einer "Frau an seiner Seite" antreten, mit der er nicht verheiratet ist. Er kandidiert im zweiten Anlauf innerhalb von weniger als zwei Jahren; damals wie heute als ein zugleich ungemein beliebter und in gewisser Weise doch auch ungeliebter Kandidat.
Beliebt war er schon damals in der Bevölkerung, vor zwei Jahren; heute ist er es noch mehr. Nach einer Umfrage von Infratest dimap für die heutige Sendung "Günter Jauch" halten 80 Prozent der Deutschen Gauck für glaubwürdig. Seine Nominierung nannten Anfang März 67 Prozent eine "gute Wahl"; nur 22 Prozent verneinten das. Wohl nie ist ein Bundespräsident mit so vielen Vorschußlorbeeren, mit so vielen positiven Erwartungen in sein Amt gestartet.
71 Prozent der Befragten sagten Anfang März, Gauck werde den "Parteien in Berlin deutlich seine Meinung sagen". Hier vor allem liegen die Hoffnungen der Deutschen. Noch kein Bundespräsident wurde so sehr als überparteilich gesehen; und das zu Recht.
Denn Gauck ist in der Tat der erste Präsident, der überhaupt keine parteipolitische Vergangenheit hat. Die meisten seiner Vorgänger waren vor ihrer Wahl aktive Parteipolitiker gewesen; viele in höchsten Ämtern:
Lübke, Heinemann und Scheel waren Bundesminister gewesen; Weizsäcker, Rau und Wulff Regierungschefs eines Bundeslandes. Theodor Heuss und Roman Herzog waren Landesminister gewesen; Heuss außerdem Gründungsmitglied von zwei Parteien: 1948 der FDP und bereits 1918 der DDP, einer Vorläuferpartei der FDP.
Karl Carstens war politischer Beamter gewesen, bevor er Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag wurde. Lediglich Horst Köhler hatte nie ein Amt als Parteipolitiker innegehabt; immerhin aber war er Mitglied der CDU und als langjähriger Staatssekretär ein politischer Spitzenbeamter gewesen, bevor er zum Internationalen Währungsfonds (IWF) wechselte.
Gauck ist nicht einmal einfaches Mitlied einer Partei und das nie gewesen; er ist lediglich über seine Mitgliedschaft in der Bürgerbewegung "Neues Forum" 1990 zum "Bündnis 90" gekommen, das damals aber noch keine Partei war. Mit diesem fehlenden parteipolitischen Hintergrund spielt er wirklich in einer anderen Liga als alle seine Vorgänger. Ein Ersatzkaiser, der keine Parteien kennt, sondern nur Deutsche. "Die Deutschen leiden noch immer darunter, dass ihnen der Kaiser abhanden gekommen ist", sagt Roman Herzog (siehe Roman Herzog über Katholiken und Protestanten; ZR vom 17. 3. 2012). Jetzt bekommen sie wieder einen; wenn auch einen dezidiert bürgerlichen.
An der Oberfläche sieht es so aus, als werde Gauck nicht nur von einer breiten Zustimmung in der Bevölkerung getragen, sondern auch von einer - fast - Allparteienkoalition. Alle unterstützen den Kandidaten Gauck, außer den Kommunisten, den Rechtsextremen und vielleicht einigen "Sonstigen".
Stimmen alle Wahlleute der ihn unterstützenden Parteien für Gauck, dann müßte er im ersten Wahlgang genau 1100 der nominell 1240 Stimmen bekommen (486 von der Union, 136 von der FDP, 331 von der SPD und 147 von den Grünen).
Er wird darunter bleiben. Wie sehr, das ist eine der beiden spannenden Fragen dieser Wahl. Die andere ist, wie sich diejenigen verhalten, die nicht für Gauck stimmen: Ob sie sich enthalten oder ihre Stimme Beate Klarsfeld geben.
Der Vielgeliebte ist ja andererseits ein Ungeliebter. Als die SPD und die Grünen ihn im Juni 2010 nominierten, taten sie das nicht, weil sie politisch mit diesem in der Wolle gefärbten Liberalen übereingestimmt hätten, sondern aus taktischen Gründen. Jürgen Trittin, der als Kommunist einst den zynischen Umgang mit Wahlen gelernt hatte, war die Idee gekommen: Ein Kandidat Gauck werde auch Stimmen aus dem bürgerlichen Lager auf sich ziehen, und das werde die Koalition schwächen.
Was ja auch eintrat; Christian Wulff wurde erst mühsam im dritten Wahlgang gewählt. "Mit der Wahl Christian Wulffs zum zehnten Bundespräsidenten mit absoluter Mehrheit, aber erst im dritten Wahlgang hat das ohnehin schon lichtarme Regierungsbündnis seine eigene Zukunft weiter verdunkelt" schrieb damals Berthold Kohler in der FAZ.
Man hatte 2010 Gauck nominiert; wohl wissend, daß er nicht gewählt werden würde, daß man mit dieser Nominierung aber der Regierung Merkel schaden konnte. Aber das konnte man ja nicht gut laut sagen. Als jetzt Gauck als Kandidat erneut ins Spiel kam, hatten die Rotgrünen kaum eine andere Wahl, als bei ihrer alten Entscheidung zu bleiben.
Mehr ans Herz gewachsen dürfte ihnen Gauck heutzutage nicht sein; zumal er sich inzwischen mit mutigen Äußerungen seiner liberalen Gesinnung hervorgetan hat. Manche aus dem rotgrünen Lager werden ihm, da es denn heute geheim bleibt, ihre Zustimmung verweigern. Wie viele es sein werden, ist recht ungewiß; vor allem aber, ob das durch Stimmenthaltung geschieht oder durch die Stimme für Beate Klarsfeld.
Auch von den Wahlleuten der Union dürfte Gauck bei weitem nicht alle Stimmen bekommen.
Die Kanzlerin hatte Gauck bekanntlich auf keinen Fall haben wollen und war darüber gar "laut" geworden; wie laut, ist umstritten (siehe Joachim Gaucks Nominierung: Sieg für die Freiheit, Erfolg der FDP. Eine List der Vernunft; ZR vom 19. 2. 2012, sowie Toben und schreien; ZR vom 21. 2. 2012). Die Union mußte sich der FDP beugen, weil diese standfest blieb und die besseren Karten hatte; denn mit der SPD und den Grünen hätte sie Gauck auch ohne die Union wählen können. Aber wer sich bei einer offenen Entscheidung beugt, der muß das noch lange nicht in der Einsamkeit der Wahlkabine wiederholen.
Zahlreiche Enthaltungen also; oder mehr Stimmen für Beate Klarsfeld als die 124, die sie maximal von den kommunistischen Wahlleute bekommen könnte? Schwer zu sagen.
Erhält Beate Klarsfeld mehr als 124 Stimmen, dann hat sie sehr wahrscheinlich Stimmen von Rotgrün bekommen, vielleicht dazu auch Stimmen aus der Union; dort etwa von Wahlleuten, die ihr Engagement gegen Nazis und für Israel bewundern.
Bekommt sie weniger als 124 Stimmen, dann weiß man nur eines: Daß nicht alle Wahlleute der Kommunisten für sie gestimmt haben. Was nicht überraschend wäre. Zum einen eben just wegen jenes Engagements für Israel; auch wegen ihres Eintretens für Nicolas Sarkozy. Zum anderen dürften auch offene innerparteiliche Rechnungen ins Spiel kommen; manche haben Lötzschs Vorpreschen zugunsten von Klarsfeld nur zähneknirschend akzeptiert.
Wie viele der kommunistischen Wahlleute nicht für ihre eigene Kandidatin gestimmt haben, bleibt dann freilich ungewiß; weil man ja nicht weiß, ob und wieviele Stimmen Klarsfeld auch aus anderen Parteien bekommen haben wird.
Auch wenn es so gut wie sicher ist, daß irgendwann heute am frühen Nachmittag ein strahlender Joachim Gauck bereits im ersten Wahlgang gewählt ist - so ganz langweilig ist diese Wahl demnach doch nicht. Es würde mich nicht überraschen, wenn es bei der Zahl der Enthaltungen eine Überraschung gäbe.
Zettel
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild vom Autor Sebastian Hillig unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic-Lizenz freigegeben.