18. April 2008

Zitat des Tages: "Irritierende Gewalterfahrungen"

Zu den gegenwärtig irritierendsten Gewalterfahrungen gehört die grassierende Rede über Gewalt, ob in Wissenschaft, Medien oder Politik. Dabei leben wir, worauf Reemtsma hinwies, in historisch beispielloser Friedlichkeit: Unsere selbstverständlich Degen tragenden Ahnen sahen hingegen täglich die Leichen an den Galgen und in Folterkäfigen, haben natürlich ihre Kinder und Frauen geprügelt und bei einer Wirtshausschlägerei niemals die Polizei gerufen. Es ist die Gewöhnung an die friedliche Normalität der Gesellschaft, die uns erst so viel empfindlicher macht für die unfriedlichen Regelbrüche, für blutige Fernsehbilder oder Springmesser auf Schulhöfen.

Über diese Anmerkung Jan Philipp Reemtsmas im Potsdamer Einsteinforum berichtet Alexander Cammann in der heutigen FAZ.

Kommentar: In der Tat gehörte bis zur Aufklärung zu allen Formen menschlicher Kultur ein Maß an Gewalt, das wir uns heute kaum noch vorstellen können; von der Gewalt Krimineller über die willkürliche Gewalt des Staats gegenüber seinen Bürgern bis hin zur Gewalt im Krieg, die die Zivilbevölkerung nicht nur nicht verschonte, sondern die sich wesentlich und gezielt gegen sie richtete.

Die friedliche Gesellschaft, in der wir in den kapitalistischen, demokratischen Rechtsstaaten heutzutage leben, ist ein historischer Glücksfall; man könnte auch sagen: eine historische Anomalie. Sie geht wesentlich darauf zurück, daß in der amerikanischen Verfassung die Ideen der Aufklärung in die politische Praxis umgesetzt wurden und daß dies auf Europa zurückwirkte.

In diesen Tagen wird viel über die Achtundsechziger diskutiert; Maybritt Illner hatte sie gestern wieder zum Thema. Diese "Bewegung" war - jedenfalls ab dem Jahr 1968 - einer der immer noch wiederkehrenden Versuche, die fundamentale Errungenschaft des staatlichen Gewalt- Monopols in Frage zu stellen.

Sie stand insofern keineswegs, wie manche ihrer Vertreter glaubten oder glauben machen wollten, in der Tradition der Aufklärung.

Sie war im Gegenteil, nach der Hitlerei und dem Kommunismus in der DDR, der dritte große Versuch im Deutschland des Zwanzigsten Jahrhunderts, wieder hinter das Staats- und Gesellschafts- Verständnis der Aufklärung zurückzugehen. Nicht nur, aber wesentlich auch, was die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung der eigenen politischen Ziele angeht.

Das ist leider nicht so Geschichte, wie das die vielen "Rückblicke" auf die Achtundsechziger Zeit leicht suggerieren. Vor noch nicht einmal einem Jahr haben wir erlebt, wie breit die Unterstützung für politische Gewalttäter in Deutschland noch immer ist; nämlich anläßlich des G-8-Gipfels in Heiligendamm. Die damaligen Bilder aus Rostock zeigen, daß die Mentalität, die in den siebziger Jahren den Terrorismus in Deutschland möglich gemacht hat, noch durchaus nicht überwunden ist.



Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.