17. April 2008

Über den Unfug, die Anorexie mit einem Gesetz bekämpfen zu wollen

Die Abgeordnete Valérie Boyer hat in der Französischen Nationalversammlung ein Gesetz eingebracht, das am Dienstag mit Ergänzungen angenommen wurde.

In diesem Gesetz, das nur einen Paragraphen umfaßt, steht:
Le fait de provoquer une personne à rechercher une maigreur excessive en encourageant des restrictions alimentaires prolongées ayant pour effet de l’exposer à un danger de mort ou de compromettre directement sa santé est puni de deux ans d’emprisonnement et de 30 000 € d’amende.

Wer jemanden dazu veranlaßt, eine übertriebene Magerkeit anzustreben, indem er über eine längere Zeitspanne die Nahrungsaufnahme derart einschränkt, daß er sich in Lebensgefahr oder in die Gefahr begibt, seine Gesundheit unmittelbar zu schädigen, wird mit zwei Jahren Freiheitsentzug und einer Geldstrafe von 30.000 Euro bestraft.
In der Begründung des Gesetzes durch die Abgeordnete Boyer heißt es:
De fait, certaines personnes incitent directement ou par le biais de différents moyens de communication – tels que les magazines, les sites Internet et les blogs, etc. – les personnes à se priver de nourriture pour se faire maigrir de manière excessive, voire font ouvertement l’apologie de l’anorexie, tels le « mouvement pro-ana » par exemple ou d’autres dérives. Or, ces attitudes ou ces contenus médiatiques, véritable provocation à la maigreur excessive, mettent en danger la santé des personnes fragiles.

Aussi, paraît-il aujourd’hui indispensable de sanctionner l’incitation à la maigreur excessive. Tel est l’objet de la présente proposition de loi qui vise à combattre ces dérives avec des sanctions judiciaires et pénales, à l’instar de certains pays européens comme l’Espagne.

In der Tat gibt es gewisse Personen, die direkt oder durch Beeinflussung auf dem Weg verschiedener Kommunikations- Medien - wie Magazine, Internet- Sites, Blogs usw. - Menschen dazu veranlassen, sich der Nahrungsaufnahme zu enthalten, um in übertriebenem Maß abzunehmen; wenn sie nicht sogar offen die Anorexie rechtfertigen, wie zum Beispiel die "Bewegung Pro-Ana" und andere Entgleisungen. Diese Haltungen nun oder diese Medien- Inhalte, die einen regelrechten Aufruf zur Magerkeit darstellen, gefährden die Gesundheit von labilen Personen.

Folglich erscheint es heute unabdingbar, die Anstiftung zur übertriebenen Magerkeit zu bestrafen. Dies ist der Gegenstand der gegenwärtigen Gesetzesvorlage, deren Ziel es ist, diese Entgleisungen nach dem Vorbild bestimmter europäischer Länder wie Spanien mit juristischen und strafrechtlichen Mitteln zu verfolgen.
Und als wenn das noch nicht genug wäre, hat die Nationalversammlung durch eine Ergänzung das Gesetz auch noch dahingehend verschärft, daß schon Werbung für Mittel, die eine übermäßige Magerkeit bewirken, strafbar ist ("délit de propagande et de publicité").

Und immer noch nicht genug: Die französische Gesundheitsministerin, Roselyne Bachelot, hat angekündigt, daß die französische Ratspräsidentschaft in der EU aktiv werden will, um eine einheitliche europäische Gesetzgebung gegen die Anorexie zu erreichen.



Ja, aber muß man denn eine solche Initiative nicht begrüßen? Ist das denn nicht vernünftig, was die Französische Nationalversammlung da verabschiedet hat?

Da begeben sich Menschen durch ihre Anorexie in Lebensgefahr, und andere stiften sie auch noch dazu an und bestärken sie in dieser Sucht. Das darf doch nicht sein! Da sollte der Gesetzgeber doch einschreiten! So werden viele denken, die von diesem Gesetz gelesen haben. So werden vielleicht auch Sie denken, lieber Leser.

Nur wird Anorexie ungefähr so sehr durch "Anstiftung" hervorgerufen wie eine Lungenentzündung. Nur hilft gegen Anorexie ein Verbot ungefähr so gut wie gegen die Flugangst.



Hier ist die Definition von Anorexie in ICD-10, der Internationalen Klassifikation von Krankheiten. Und in diesem sehr brauchbaren Artikel in der internationalen Wikipedia kann man das Wichtigste über diese psychische Krankheit finden.

Wie viele psychosomatische Erkrankungen wird die Anorexie durch eine Vielzahl von miteinander interagierenden Faktoren ausgelöst.

Zu etwa fünfzig Prozent ist sie genetisch bedingt (d.h. genetische Faktoren klären ungefür fünfzig Prozent der Varianz auf). Tierversuche lassen vermuten, daß dabei einem Gehirnsystem (der HPA-Achese), das der Regulation von Energieverbrauch, Nahrungsaufnahme, Sexualverhalten und Stimmung dient, eine wesentliche Funktion zukommt. Auf der Ebene der Transmitter spielt das Serotonin eine zentrale Rolle.

Auf der psychologischen Ebene geht Anorexie oft mit anderen Störungen einher, bei denen eine Veränderung im Serotonin- Stoffwechsel ebenfalls von zentraler Bedeutung ist; insbesondere Zwangsstörungen und Depressionen.

Wieweit diese Dispositionen durch soziale Faktoren verstärkt werden, ist umstritten. Ein erheblicher Anteil (bei hospitalisierten Patientinnen bis zur Hälfte) derer, die unter Anorexie leiden, berichten über sexuellen Mißbrauch.



Und was ist nun mit der "Anstiftung", die durch das von der Abgeordneten Boyer eingebrachte Gesetz bekämpft werden soll?

Es gibt im Internet viele WebSites, die sich mit Anorexie beschäftigen. Die meisten dienen dem Erfahrungsaustausch, der Selbsthilfe. Und einige darunter haben eine bestimmte, sagen wir, ideologische Ausrichtung: Sie sehen die Anorexie als eine Lebensform an, die man bejahen statt bekämpfen sollte.

Eine kürzliche wissenschaftliche Erhebung hat weltweit zwanzig solche Sites identifiziert. Das Problematische an ihren Inhalten liegt darin, daß sie bei den Patienten die Einsicht in das Krankhafte der Anorexie verringern können, und damit die Bereitschaft, sich einer Therapie zu unterziehen.

Daß irgendwer durch die Lektüre solcher Sites eine Anorexie entwickelt, ist ungefähr so wahrscheinlich, wie daß er sich aus dem Internet einen Schnupfen holt. Aber wenn die Störung vorliegt, ist nicht auszuschiießen, daß solche Sites die Betroffenen zu der Überzeugung bringen, es sei am besten, ihre Anorexie zu bejahen.

Also muß man das verbieten? Nein.

Denn Menschen, die unter einer Anorexie leiden, haben ja Zugang zu unzähligen anderen Informationsquellen, die ihnen die erforderliche Aufklärung anbieten. Wer sich entschließt, dieser wissenschaftlichen Aufklärung nicht zu folgen, sondern seine Anorexie als eine "Lebensform" zu interpretieren, der tut das aus freiem Entschluß und auf eigenes Risiko.

Es wäre unverantwortlich, diese Patienten nicht über das Risiko aufzuklären, das mit einer fortbestehenden, nicht therapierten Anorexie verbunden ist. Aber entscheiden müssen sie selbst. Sie sind ja nicht entmündigt. Der Staat ist ja nicht ihr Hüter.



Aber er spielt sich zunehmend als unser aller Hüter auf, der Staat.

Frankreich mit seiner etatistischen Tradition ist da immer ein Vorreiter gewesen, in Europa nur seinerzeit übertroffen von den Staaten des Sowjetreichs. Und jetzt prägt dieser französische Etatismus zunehmend ganz Europa, weil er die Brüsseler Bürokratie prägt.

Wo soll das eigentlich hinführen, wenn der Staat sich anmaßt, alles zu verbieten, womit Menschen sich selbst unter Umständen schaden könnten? Wann sind die Fettleibigen dran, wann diejenigen, die zu viel oder zu wenig Sex haben, die nicht genügend Sport betreiben, die zu viel am Computer spielen? Die zu viel oder zu wenig lesen, Musik hören, in Urlaub fahren?

Oder wie wäre es, um beim im engeren Sinn Medizinischen zu bleiben, mit einem Verbot der Homöopathie, deren Wirksamkeit noch in keiner einzigen Untersuchung nach wissenschaftlichen Standards (doppelter Blindversuch mit großen Stichproben unter kontrollierten Bedingungen) nachgewiesen worden ist?



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