2. Juni 2012

Gehört der Islam zu Deutschland? Wunschdenken und Wirklichkeit


Christian Wulff würde allmählich in Vergessenheit geraten, wäre da nicht dieser eine Satz, den er am 3. Oktober 2010 gesagt hat; in seiner Bremer Rede zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit. Hier ist er, im Kontext des offiziellen Wortlauts der Rede:
Natürlich spielt es eine Rolle, woher einer kommt. Es wäre schade, wenn das nicht so wäre. Aber die entscheidende Botschaft dieses Appells lautet: Wir sind Deutschland! (...)

Zu allererst brauchen wir aber eine klare Haltung. Ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.
Wie ist diese Passage in Wulffs Rede gekommen? Man konnte es gestern in der FAZ lesen:
Wie Wulff zu seiner Formulierung gekommen sei, hat im Februar – nach Wulffs Rücktritt – der Journalist Hans-Ulrich Jörges in der Zeitschrift "Stern" mitgeteilt. Er, Jörges, habe "im Weggehen" nach einem Staatsbankett zu Ehren des Emirs von Qatar damals dem Pressesprecher von Bundespräsident Wulff, Olaf Glaeseker, von der Anregung eines muslimischen Kollegen erzählt: Er wünsche sich, dass Wulff in seiner Rede zur deutschen Einheit diesen "befreienden" Satz wage. Per SMS habe der Sprecher ihm später eröffnet, der Satz sei nun in der Rede.
Daran ist zweierlei bemerkenswert:

Erstens ist dieser Satz also nicht einfach so in die Rede hineingeschrieben worden, sondern er sollte eine "befreiende" Funktion haben; jedenfalls aus der Sicht Desjenigen (wer immer es war), auf dessen Anregung hin er in die Rede kam.

Zweitens geht aus dem Kontext hervor, daß es Wulff nicht um Moslems als Mitbürger ging, sondern um den Islam als Religion. Er erwähnt "unsere christlich-jüdische Geschichte"; diese will er gleichsam fortschreiben mit dem Satz "Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland". Er hat eben nicht gesagt: "Seit langem leben Christen und Juden in diesem Land. Inzwischen leben auch Muslime in Deutschland. Sie sind uns willkommen".

Vermutlich hätte niemand diesen Satz beanstandet. Aber Wulff sprach von der deutschen Geschichte. In Bezug auf sie stellte er den Islam auf dieselbe Stufe wie das Christentum und das Judentum. Dies ist es, was er ausdrücklich als sein "Verständnis von Deutschland" bezeichnet.



Was daran zu beanstanden ist, das habe ich in verschiedenen Artikeln aus meiner Sicht erläutert; zuletzt gestern ("Leute, bitte einmal tief durchatmen". Der Bundespräsident, der Islam, die Moslems; ZR vom 1. 6. 2012). Zwei der älteren Artikel sind Kommentare zu den sehr klaren Analysen von Monika Maron zu diesem Thema:
  • "Wulff vermischt kulturelle Prägung und Religion". Nachbemerkung zu der seltsamen Rede des Bundespräsidenten. Ach ja, und Goethe ...; ZR vom 7. 10. 2010

  • "Ich will keine Bio-Deutsche sein". Monika Maron über die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört; ZR vom 24. 4. 2012.
  • Der dritte der früheren Artikel ist der zweite Teil einer Auseinandersetzung mit einem Thesenpapapier von fünf FDP-Abgeordneten (darunter Christian Lindner), das einige Monate nach Wulffs Rede veröffentlicht wurde:
  • Islam und christlich-jüdische Tradition. Einwanderung und Republikanismus. Fünf FDP-Politiker stoßen eine überfällige Debatte an (Teil 2); ZR vom 17. 12. 2010
  • Ich fasse einige Punkte der Argumentation zusammen, die Sie in diesen Artikeln ausführlich finden:

    Die Integration von Einwanderern ist ein Problem nicht der Religion, sondern der kulturellen Anpassung; der Assimilation an die Werte der Gesellschaft, in die sie einwandern. Das ist die Integrationsleistung, die von allen Einwanderern erwartet werden muß.

    Wer nach Frankreich einwandert, von dem erwartet dieses Land, daß er die republikanischen Werte übernimmt und sich an die französische Kultur assimiliert. Von Einwanderern in die USA wird erwartet, daß sie sich die Werte der amerikanischen Verfassung zu eigen machen, in deren Mittelpunkt die Freiheit und die Rechte des Einzelnen stehen. Ebenso muß Deutschland von seinen Einwanderern erwarten, daß sie sich an die Werte der deutschen Kultur anpassen.

    Die Religion spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Wer aus einem christlichen Land wie Äthiopien nach Deutschland einwandert, der muß weitgehend dieselbe Integrations­leistung erbringen wie ein moslemischer Einwander aus der Türkei oder ein Atheist, der aus Vietnam eingewandert ist.

    Sie spielt eine untergeordnete Rolle, die Religion; aber es wäre falsch, zu sagen, daß sie irrelevant ist. Die Werte unserer Kultur, an die sich die Einwanderer assimilieren müssen, sind wesentlich durch die christlich-jüdische Tradition geprägt. Gerade auch die säkulare, freie Gesellschaft, die durch die Aufklärung geschaffen wurde, ist eine Leistung der christlich-abendländischen Kultur; keine andere Kultur hat Vergleichbares geschaffen.

    Diese Herkunft unserer Werte hindert einen Moslem nicht, sie zu übernehmen; aber er muß sich dafür von bestimmten Traditionen seiner Religion lösen. Die Scharia ist nicht vereinbar mit unserer Kultur. Religiöse Vorschriften, die beispielsweise den Austritt aus dieser Religion bei Strafe verbieten, sind nicht mit den Werten unserer Kultur vereinbar.

    Diese Anpassung ist kein leichter Prozeß. Aber wenn er nicht gelingt, dann wird der Islam eben gerade nicht zu Deutschland gehören. Dann wird er zwangsläufig ein Fremdkörper in unserer Kultur bleiben; gewissermaßen ein kultureller Staat-im-Staate.

    Nicht dieses leichtfertige "Der Islam gehört zu Deutschland" hätte Wulff sagen sollen. Sondern beispielsweise: "Wir müssen und wollen daran arbeiten, daß in unserem Land ein Islam entsteht, der Teil unserer deutschen Kultur sein kann. Das ist eine gemeinsame Aufgabe für die Deutschen islamischen Glaubens und für uns andere Deutsche".



    Ja, natürlich, Wulff hätte diesen Satz niemals gesagt. Er hätte damit einen Sturm der Entrüstung ausgelöst; und sehr wahrscheinlich denkt er auch nicht so.

    Sein Denken ist - anders als das Gaucks, soweit es bisher sichtbar geworden ist - Wunschdenken. Das Ziel, das auch der Islam Teil Deutschlands sein kann, wird als schon erreicht deklariert.

    Aber Wunschdenken verändert ja die Wirklichkeit nicht. Ein fundamentalistischer Islam kann nicht zu Deutschland gehören. Ein aufgeklärter, moderner Islam könnte es. Die Frage ist, ob es in Deutschland überhaupt das Bestreben gibt, zu seinem Entstehen beizutragen.

    Bisher ist wenig davon zu sehen; anders als beispielsweise in Frankreich. Dort sagen immerhin 42 Prozent der Moslems, daß sie sich in erster Linie als Franzosen fühlen und erst in zweiter Linie als Moslems. In Deutschland sind es ganze 13 Prozent, die sich in erster Linie als Deutsche verstehen. 66 Prozent sehen sich in erster Linie als Moslems.

    Noch beeindruckender ist der Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich, wenn gefragt wird, ob man sich den Sitten und Gebräuchen des Landes anpassen wolle. 78 Prozent der Franzosen islamischen Glaubens wollen das. In Deutschland sind es gerade einmal 30 Prozent. 52 Prozent sagen, daß sie von den übrigen Deutschen verschieden bleiben wollen. Nur 21 Prozent der Moslems wollen in Frankreich von den anderen Franzosen verschieden bleiben.

    Das ist die Realität. Nicht, daß der Islam zu Deutschland gehört.
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    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelbild: Mohammed im Himmel; türkische Darstellung aus dem 18. Jahrhundert.