27. Juni 2012

Marginalie: Religiöse Beschneidung erlauben oder verbieten? Was im Kölner Urteil steht. Warum ich dazu keine Meinung habe

Heute hat mich jemand, sichtlich engagiert, danach gefragt, ob ich schon von dem Urteil zur Beschneidung gehört hätte.

Ja, das hatte ich; es ging ja gestern durch die Medien. Kaum eine Zeitung oder ein Sender, die nicht über das Urteil des Landgerichts Köln berichteten, nachdem zuerst die "Financial Times Deutschland" darauf aufmerksam gemacht hatte; bereits vorgestern.

Ich übrigens hatte, wie es der Zufall wollte, zuerst in der Jerusalem Post davon gelesen, wo ich gestern wegen der israelischen Reaktion auf die Wahl Morsis recherchiert hatte. Dort wurde im wesentlichen der Bericht der FTD referiert, ergänzt allerdings durch eine Stellungnahme von Rabbi Aryeh Goldberg, Vizepräsident des Rabbinical Centre of Europe, der die Gerichtsentscheidung "inakzeptabel" nannte; sie stelle eine schwere Verletzung der Religionsfreiheit dar.

Wie war es zu dem Urteil gekommen? Die FTD:
Im Kölner Fall hatte ein muslimischer Arzt an einem vierjährigen Jungen auf Wunsch der Eltern eine Beschneidung vorgenommen. Zwei Tage später kam es zu Nachblutungen, die Mutter brachte den Jungen in die Kindernotaufnahme. Die Staatsanwaltschaft erhielt Kenntnis davon und erhob Anklage gegen den Beschneider. Nachdem das Amtsgericht den Eingriff für rechtens befand, legte sie Berufung ein. Das Landgericht wertete ihn jetzt als "schwere und irreversible Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit".
Danach also war ich heute gefragt worden, mit sichtlichem Engagement. Und obwohl ich den Gesprächspartner, der mich das fragte, recht gut kenne, wußte ich nicht, in welche Richtung sein Engagement ging: War er froh, daß jetzt endlich die Beschneidung verboten wurde; jedenfalls bis zur höchstrichterlichen Klärung? Oder empörte ihn dieses Urteil gerade?

Meine Reaktion war, daß ich dazu keine Meinung hätte. Ich kannte ja noch nicht einmal die Urteilsbegründung. Inzwischen habe ich mir die zugehörige Pressemitteilung des Landgerichts Köln angesehen. Aus ihr geht zu meiner (angesichts dessen, was ich dazu gelesen hatte) Verwunderung hervor, daß das Landgericht den Freispruch des angeklagten Arztes durch das Amtsgericht bestätigt hat; und zwar deshalb, weil dieser sich
in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunde habe. Er habe angenommen, dass sein Handeln rechtmäßig gewesen sei. Dieser Irrtum sei für ihn unvermeidbar gewesen, da die zugrunde liegenden Rechtsfragen in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beantwortet würden.
Das Gericht ließ aber, unabhängig von diesem Freispruch, seine eigene Rechtsauffassung wissen, wonach:
der äußere Tatbestand der einfachen Körperverletzung ... erfüllt sei. Dieser Eingriff sei insbesondere nicht durch die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt, weil sie nicht dem Wohl des Kindes entspreche. Denn im Rahmen einer vorzunehmenden Abwägung überwiege das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit vorliegend die Grundrechte der Eltern. Ihre Religionsfreiheit und ihr Erziehungsrecht würden nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten seien abzuwarten, ob sich das Kind später selbst für eine Beschneidung entscheidet.
Auch nachdem ich diese Begründung des Urteils gelesen hatte, wollte sich bei mir keine Meinung einstellen.

Denn es geht eben um einen klassischen Wertekonflikt. Die islamische, die jüdische Religion gebieten die Beschneidung. Sie ist andererseits zweifellos eine Körperverletzung; wie auch jeder chirurgische Eingriff, dem deshalb der Patient ausdrücklich zustimmen muß. Das Kind kann aber nicht gefragt werden, ob es zustimmt. Genügt dann also die Zustimmung der Eltern? Oder ist es der Staat, der über das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit zu wachen verpflichtet ist?

Und weiter: Überwiegt hier das Recht auf freie Religionsausübung gegenüber dem Recht auf körperliche Unversehrtheit? Welche Rolle spielt das Wohl des Kindes?

Aber worin besteht dieses eigentlich? Zum einen aus dem Recht auf körperliche Unversehrtheit. Aber dem Wohl des Kindes - dies war die Argumentation des Amtsgerichts gewesen - dient ja möglicherweise auch die Beschneidung,
da die Zirkumzision als traditionelle Handlungsweise der Dokumentation der kulturellen und religiösen Zugehörigkeit diene, womit auch einer Stigmatisierung des Kindes entgegengewirkt werde.
Der junge Jude, der junge Moslem könnte also darunter leiden, wenn er anders als die männlichen Mitglieder seiner Familie, seiner peer group, nicht beschnitten wäre; so ist das wohl zu übersetzen.

Schwierige Fragen.

Aus meiner Sicht ist es seltsam arachaisch, an einem Kind zum Zeichen seiner Religionszugehörigkeit eine körperliche Veränderung vorzunehmen. Als jemand, der im Zweifelsfall der Position der Aufklärung zuneigt, bin ich gegen alle archaischen Praktiken. Ich finde es wünschenswert, daß auch moderne Juden und Moslems das einsehen und auf die Beschneidung von Kindern verzichten.

Andererseits: Wer bin ich, daß ich diese meine Haltung anderen, nämlich den Betroffenen, aufdrängen darf? Und wie steht es mit dem Elternrecht? Ist der Staat befugt, sich gegenüber den Eltern als Hüter des Kindeswohls aufzuspielen?

Das sind Fragen auch an meinen liberal-konservativen Vermittlungsausschuß (siehe Mein liberalkonservativer Vermittlungsausschuß; ZR vom 6. 1. 2007). Er hat bisher noch keine Entscheidung verkündet.­
Zettel



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