12. Juni 2012

"Wir sind alle Marsianer" - Zum Tod von Ray Bradbury. Ein Gastbeitrag von Ulrich Elkmann

Zu den "Großen Drei" auf den Gebiet der Science Fiction zählt man in der Vereinigten Staaten Isaac Asimov (1920-1992), Arthur C. Clarke (1917-2008) und Robert A. Heinlein (1907-1987) - Autoren, die den klassischen Themenkomplex dieses Genres umrissen haben und die auch dem Nichtspezialisten ein Begriff sind. Sie haben das nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, daß ihre Bücher zu den ersten gehörten, die nach dem Ende des zweiten Weltkriegs von renommierten Verlagen herausgebracht wurden und diese Literaturgattung aus dem Ghetto bunter Groschenhefte befreiten - jenen pulps, knallige action-Literatur, die man verschämt am Kiosk erstand.

Der Autor, der die meisten Leser gehabt haben dürfte, war aber wohl ein anderer: Ray Bradbury, dessen Bücher The Martian Chronicles (1950, dt.: Die Mars-Chroniken) und The Illustrated Man (1951; dt. Der illustierte Mann) für Millionen amerikanischer Leser eine erste Berührung mit den Themen der Science Fiction waren; vor allem mit der Behandlung des Themas "Zukunft", ob nun optimistisch oder mit dunkler Furcht grundiert.

Anders als die genannten Autoren, die ihre Visionen auf der Grundlage der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten entwarfen, stritt Bradbury immer ab, ein Science-Fiction-Autor zu sein: er sei ein "Fantasy"-Autor. (Der Begriff fantasy deckt im Englischen die Breite des phantastischen Erzählens ab, nicht nur, wie es sich im Deutschen eingebürgert hat, das Werk Tolkiens und J. K. Rowlings.) Bradbury:
I don't write science fiction. I've only done one science fiction book and that's Fahrenheit 451, based on reality. It was named so to represent the temperature at which paper ignites. Science fiction is a depiction of the real. Fantasy is a depiction of the unreal.

Ich schreibe keine Science Fiction. Ich habe nur ein einziges Science-Fiction-Buch geschrieben, und das ist Fahrenheit 451, basierend auf der Wirklichkeit. Der Titel steht für die Temperatur, bei der Papier Feuer fängt. Science Fiction ist die Darstellung des Wirklichen; Fantasy ist die Darstellung des Unwirklichen.
Ray Bradbury wurde 1920 in Waukegan im Bundesstaat Illinois geboren, einer Kleinstadt im Mittelwesten, die sich später in seinem Werk als "Green Town" wiederfindet - ein zeitloses "Main Street, U.S.A." voll endloser Sommer und Wanderzirkusse, die wirkliche Wunder ahnen ließen. Die Familie zog 1934 nach Los Angeles um, wo Bradbury die High School besuchte, ohne allerdings anschließend zu studieren:
Libraries raised me. I don't believe in colleges and universities. I believe in libraries because most students don't have any money.

Ich bin von Bibliotheken erzogen worden. Ich glaube nicht an
Colleges und Universitäten. Ich glaube an Bibliotheken, weil die meisten Studenten kein Geld haben.
Bradbury lebte vom Zeitungsverkauf, während er abends wie besessen Erzählungen schrieb und an seinen stilistischen Möglichkeiten feilte. (Nach eigenen Angaben verbrannte er an seinem 21. Geburtstag eine Million Worte). Sein Mühe wurde belohnt, nachdem er ab 1942 regelmäßig Erzählungen verkaufen konnte; zunächst hauptsächlich in Weird Tales, einem heute legendären Pulp-Magazin, das sich auf Horrorgeschichten spezialisiert hatte, aber auch SF- und Kriminalerzählungen brachte.

Ab 1945 schaffte er dann den Sprung in die slicks genannten anspruchvolleren Illustrierten, die zu jener Zeit noch jede Woche Kurzgeschichten publizierten. (Es liegt eine ziemliche Ironie darin, daß der Modus, eine Erzählung auf weniger als hundert Seiten zu entwickeln - nicht nur die klassische Kurzgeschichte, sondern auch die Novelle, novelette genannt - entweder nur noch als short story in kleinen literarischen Magazinen betrieben wird oder aber in den verbliebenen Genrepublikationen. Die Ausnahme ist die wöchentliche Erzählung im New Yorker; ohne nennenswerte Resonanz beim Lesepublikum).

Bradburys erste Erzählungssammlung erschien 1947 bei Arkham House, einem Kleinverlag, der sich darauf spezialisiert hatte, Texte aus Weird Tales zwischen Buchdeckeln zu bewahren. 1950 kam dann beim angesehenen Verlag Doubleday die Erzählung The Martian Chronicles heraus, eine tour d'horizon über den Versuch und das Scheitern einer Besiedlung des Mars.

Das war allerdings kein Mars, wie ihn die Astronomie von 1950 zeichnete, sondern eine ätherische Vision, in der sich ein fernes Echo der amerikanischen Geschichte zeigt: Die Marsianer werden von irdischen Bakterien ausgerottet. Der Versuch der menschlichen Landnahme scheitert, als auf der Erde ein Atomkrieg ausbricht. Die vielleicht letzten überlebenden Menschen, die es schaffen, auf dem Mars Zuflucht zu finden, brechen alle Brücken zur Vergangenheit ab, sie verbrennen alle Habseligkeiten, die sie an die "alte Welt" erinnern; und der Vater verspricht, seiner Familie die Marsianer zu zeigen. Er führt sie an einen der Marskanäle und läßt sie ins Wasser schauen: "The Martians stared back up at them for a long, long time..." (Die Marsianer zu ihnen empor, eine lange, lange Zeit).

1951 folgte The Illustrated Man, 1953 Fahrenheit 451, mehr als 30 Jahre lang sein einziger Roman und in vieler Hinsicht für sein Werk völlig untypisch. Es ist die Vision einer totalitären Welt, in der jegliche Lektüre zur Ursünde geworden ist und die Feuerwehr alles Gedruckte gnadenlos verbrennt. Man kann durchaus der Ansicht sein, daß François Truffauts Verfilmung des Romans von 1966 zwar Bradburys Intention am Ende verfehlt, aber die beklemmende Vision der menschlichen „Bücher" deutlich macht, die durch Auswendiglernen und endloses Repetitieren versuchen, die Weltliteratur vor dem Untergang zu bewahren, damit den Tod der Literatur aber ebenso endgültig besiegeln.

Anders als die genannten SF-Autoren ist Bradbury in keiner Weise ein analytischer Autor: Es geht ihm nicht um Probleme und ihre Bewältigung, auch nicht darum, den Anschein einer Plausibilität zu erwecken. Seine Gestalten sind Symbole, beinahe Archetypen, ohne allerdings "für etwas anderes" zu stehen als sich selbst: Der Raumfahrer, das Ungeheuer, der Jahrmarkt. Es sind aufgeladene, Fernes und Unerhörtes versprechende Schemen, mit einem naiven Blick gesehen. In mancher Hinsicht gleicht dieser Blick dem des naiven Malers Henri Rousseau, des "Zöllners": Wunderwesen aus tiefen Träumen, deren Anatomie man besser nicht zu genau betrachtet.

Es ist gerade diese Nativität, die auch aus den aufgeladenen Metaphern spricht, die für Leser, die Bradbury in jungem Alter kennenlernen, eine Offenbarung sein kann:
It [the spaceship] was still a thing of beauty and strength. It had moved in the midnight waters of space like a pale sea leviathan; it had passed the ancient moon and thrown itself onward into one nothingness following another." (The Third Expedition)

Es [Das Raumschiff] ... war immer noch etwas Schönes und Starkes. Es hatte sich in den Mitter­nachts­gewässern des Weltraums wie ein bleicher Meerleviathan bewegt; es hatte den alten Mond hinter sich gelassen und sich vorwärts aus einer Leere in die nächste geworfen.
Aber genau darin liegt auch die Schwierigkeit, die sich bei einer Neulektüre Bradburys aus einem Abstand von mehreren Jahrzehnten ergibt: Es ist ein Jugenderlebnis, und man steigt nicht zweimal in diesen Fluß.

Hinzu kommt, daß ab der Mitte der fünfziger Jahre in Bradburys Werk die frühere Schärfe, die es in seinem Blick auf die amerikanischen Zeitumstände durchaus gab, mehr und mehr durch einen Hang zu Sentimentalität, selbst zum Kitsch ersetzt wurde. Für manche Leser kam dieser Bruch mit dem Episodenroman Dandelion Wine (1955; dt. Löwenzahnwein), für viele mit dem Jugendbuch Something Wicked This Way Comes (1962; dt. Das Böse kommt auf leisen Sohlen). Es gab zwar stets einige wohlwollende Kritiken, bis hin zum letzten Erzählungsband We'll Always Have Paris (2010), aber es blieb den früheren Erzählungen vorbehalten, vom Autor abgelöst in den Schatz der oral history einzugehen.

Am vergangenen Mittwoch ist Ray Bradbury in Los Angeles im Alter von 91 Jahren gestorben.­
Ulrich Elkmann



© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette als Werk der NASA gemeinfrei. Bearbeitet