11. Juni 2012

Frankreichs Wahljahr 2012 (13): Die Mehrheit der Wähler hat gegen die Linke gestimmt. Falschmeldung in "Spiegel-Online". Das amtliche Endergebnis

"Frankreich will die politische Wende: Bei den Wahlen zum neuen Parlament erhielten die linken Parteien im ersten Wahlgang die Mehrheit der Stimmen". So steht es seit gestern 23.55 Uhr bei "Spiegel-Online". Eine glatte Falsch­meldung des größten deutschen Nachrichtenportals. Eine, die sich wahrscheinlich in vielen Köpfen festsetzen wird.

Hier können Sie sich das vorläufige amtliche Endergebnis ansehen, veröffentlicht vom französischen Innenministerium. Es zeigt, daß die linken Parteien nicht die Mehrheit der Stimmen erreicht haben.

Wohl aber ist das eingetreten, was Sie am Samstag in diesem Blog lesen konnten (Morgen sind Parlamentswahlen. Die Parteien rechts von der Mitte liegen vorn. Die Linke wird wahrscheinlich gewinnen; ZR vom 9. 6. 2012): Die Linke hat keine Mehrheit der Stimmen. Aber aufgrund des französischen Wahlrechts und der unterschiedlichen politischen Lage auf der Linken und auf der Rechten wird dennoch das Lager Präsident Hollandes nach dem zweiten Wahlgang kommenden Sonntag in der Nationalversammlung eine komfortable Mehrheit der Sitze haben.

Auf der Linken traten bei diesen Wahlen sechs Parteien und Gruppen an. Das Innenministerium listet sie von ganz links zur Mitte hin auf. Ich gebe die offizielle Bezeichnung an und erläutere sie in Klammern:
  • Extrême gauche (Linksextreme, meist Trotzkisten): 0,98%

  • Front de gauche (Kommunisten und ihre Verbündeten): 6,91%

  • Socialistes (die Partei Präsident Hollandes): 29,35%

  • Radical de Gauche (linksliberal, mit den Sozialisten verbündet): 1,65%

  • Divers gauche (linke Einzelkandidaten): 3,40%

  • Europe-Ecologie-Les Verts (Grüne): 5,46
  • Das sind zusammen 47,75 Prozent. Dies ist das Ergebnis der französischen Linken, wenn man den Begriff "links" weit faßt und die Grünen zur Linken rechnet, die in Frankreich weniger weit links stehen als in Deutschland. Bei den Präsident­schaftswahlen haben sie aber im zweiten Wahlgang zur Wahl Hollandes aufgerufen und sind insofern der Linken zuzurechnen. Ebenso wird dieser Wert nur erreicht, wenn man die Linksextremen der Linken zurechnet.

    52,25 der Franzosen haben also eindeutig nicht für die Linke gestimmt. Sie haben überwiegend für Parteien der Rechten oder der extremen Rechten gestimmt; einige für Parteien der Mitte. Hier sind sie, wieder in der Links-Rechts-Reihenfolge des Innenministeriums:
  • Le Centre pour la France (die Partei Bayrous, bisher MoDem): 1,76%

  • Alliance centriste (Rechtsliberale; aus der mit der UMP verbündeten UDF hervorgegangen): 0,60%

  • Parti radical (ebenfalls aus der UDF hervorgegangen) 1,24%

  • Nouveau Centre (die ehemalige UDF, die sich umbenannte, als Bayrou das MoDem gründete): 2,20%

  • Union pour un Mouvement Populaire (die bisher von Sarkozy geführte UMP): 27,12%

  • Divers droite (Rechte Einzelkandidaten): 3,51%

  • Front National (Marine Le Pens FN, der zu diesen Wahlen unter dem Namen Rassemblement Bleu Marine antrat): 13,60%

  • Extrême droite (Einzelkandidaten auf der äußersten Rechten): 0,19%
  • Das sind für Mitte-Rechts (auch hier wieder einschließlich der extremen Parteien und Kandidaten) zusammen 50,22 Prozent; eindeutig die Mehrheit der Stimmen. Die restlichen Stimmen sind keinem der beiden Lager zuzuordnen; es handelt sich um "Regionalisten" (z.B. in Korsika; 0,56%), einzelne unabhängige Ökologisten (0,96%) und "Andere" (0,52%).

    Der Übergang von der Mitte zu Rechts innerhalb des Mitte-Rechts-Lagers ist schwer zu bestimmen. Jedenfalls steht keine dieser Parteien und Gruppen der Linken auch nur nahe. Keine hat zur Wahl Hollandes im zweiten Wahlgang aufgerufen; die meisten zur Wahl Sarkozys, sofern sie nicht zur extremen Rechten gehören.

    Lediglich François Bayrou hat für sich persönlich erklärt, er werde Hollande wählen; was auch im MoDem auf Unverständnis stieß. Jetzt hat er die Quittung erhalten; er ist in seinem Wahlkreis Pyrénées-Atlantiques 2 mit nur 23,6 Prozent als zweiter durchs Ziel gegangen und sieht sich im zweiten Wahlgang einer Kandidatin der Sozialisten und einem Kandidaten der UMP gegenüber. Falls er es - unwahrscheinlich, aber möglich - noch schaffen sollte, wird er vermutlich der einzige Abgeordnete seiner Partei in der Nationalversammlung sein.



    Es ist also schlicht nicht wahr, daß gestern "die linken Parteien im ersten Wahlgang die Mehrheit der Stimmen" erhielten. Es ist eine der Falschmeldungen, wie man sie in "Spiegel-Online" immer wieder findet. (Ich begleite das seit dem Beginn von ZR mit Kommentaren; von Spiegel Online nimmt ernst; ZR vom 28. 11. 2006, bis Die aktuelle Falschmeldung bei "Spiegel-Online"; diesmal Extraklasse; ZR vom 23. 3. 2011).

    Allerdings ändert das nichts daran, daß eine komfortable Mehrheit der Linken in der Nationalversammlung so gut wie sicher ist; aus den Gründen, die ich am Samstag erläutert habe. Es ist nun einmal ein Nachteil des Mehrheitswahlrechts, daß die Stimmen einer Minderheit der Wähler zu einer Mehrheit im Parlament führen können.

    Oder beispielsweise zur Wahl eines US-Präsidenten. Dort hatte im Jahr 2000 Al Gore 50.999.897 Stimmen der Wähler erhalten (48,38 Prozent), George W. Bush 50.456.002 Stimmen (47,87 Prozent). Im Gremium der Wahlleute aber hatte Bush mit 271 zu 266 Stimmen die Mehrheit.­­
    Zettel



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