30. Juni 2012

Überlegungen zur Freiheit (13): Tugendrepublik Deutschland. Die Ergebnisse von "Freiheitsindex Deutschland 2011", im Detail betrachtet (Teil 1)

Darüber, was an einer wissenschaft­lichen Untersuchung aufregend, was mitteilenswert und diskussionswürdig ist, kann man sehr unterschiedlicher Meinung sein.

Als ich zu der Untersuchung "Freiheits­index Deutschland 2011" am vergangenen Montag eine vorläufige Notiz in Form eines Zitats des Tages schrieb, folgte ich der Sicht von Michael Miersch in der "Achse des Guten" und in "Focus", der herausgestellt hatte, wieviel Prozent der Deutschen für das Verbieten seien - daß beispielsweise 32 Prozent dafür seien, es solle verboten sein, zu sagen "Frauen gehören an den Herd".

Jetzt habe ich mir die Untersuchung genau angesehen. Der Teil, in dem danach gefragt wurde, was zu sagen verboten werden sollte, ist der uninteressanteste; methodisch so fragwürdig, daß man diese Daten besser vergißt. Ich komme darauf im zweiten Teil zurück.

Zunächst aber zu den interessanteren Daten; zu denjenigen, genauer gesagt, die ich selbst interessant finde. Die Untersuchung ist so umfangreich, daß ich nicht auf alles eingehen kann.



Eines der beiden Kernstücke der Untersuchung ist eine repräsentative Umfrage, die Allensbach durchgeführt hat. Mit einer großen Stichprobe (1.792 Personen) und dem aufwendigen Verfahren des mündlich-persönlichen Interviews ("face-to-face"). 420 geschulte Interviewer waren dafür im Einsatz. Kein Vergleich also mit den vielen heutigen Umfragen, in denen oft eine Aushilfskraft am Telefon ihre Fragen herunterliest.

Die Fragen kreisten um das Verständnis von Freiheit und ihren Stellenwert im Vergleich zu Gleichheit, Sicherheit, Gerechtigkeit; darum, wie frei sich die Deutschen fühlen und wie sie die Rolle des Staats auf der einen und des selbstverantwortlichen Bürgers auf der anderen Seite sehen.


Ost und West. Ein erstes frappierendes Ergebnis ist, wie unterschiedlich auch mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung diese Themen noch in Ost- und West­deutschland gesehen werden.

Auf die Frage "Was bedeutet Freiheit?" wählten beispielsweise mehr als ein Drittel (36 Prozent) der Ostdeutschen die klassische kommunistische Antwort: "Freiheit bedeutet, frei zu sein von sozialer Not, frei von Armut, Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit".

Nur wenige mehr (42 Prozent) entschieden sich in ihrer Antwort für eine freie Gesellschaft, nämlich für die Alternative:
Freiheit bedeutet, für sich selbst verantwortlich zu sein, sich frei für einen bestimmten Beruf zu entscheiden, für ein Land, eine Stadt, in der man leben möchte, und sich für ein Ziel einsetzen zu können, das man erreichen möchte.
Von den Westdeutschen hingegen wählten 55 Prozent diese Antwort, nur 21 Prozent die kommunistische.

Noch krasser ist der Unterschied bei der Frage, was man im Zweifel vorziehe - Freiheit oder Gleichheit. 48 Prozent der Westdeutschen entschieden sich für die Freiheit, 37 Prozent für die Gleichheit. Die Ostdeutschen wählten mit großer Mehrheit (55 Prozent zu 33 Prozent) die Gleichheit.

Es gibt in diesem Punkt auch keine allmählich Angleichung. Allensbach stellt diese Frage jährlich. Seit 1998 hat sich an den Antworten der Ost- und Westdeutschen faktisch nichts geändert.

Kommentar: Ein erschreckendes Ergebnis. Nur ein Drittel der Menschen in den Neuen Ländern möchte in einem freien Land ohne Gleichheit leben; mehr als die Hälfte würden lieber in einem unfreien Land leben, in dem Gleichheit herrscht. In einer DDR 2.0 also. Und das würden auch 37 Prozent der Westdeutschen vorziehen; noch nicht einmal die Hälfte würde sich für die Freiheit entscheiden.


Wie frei fühlt man sich, seine Meinung sagen zu können? Eine Frage, die Allensbach seit den 50er Jahren stellt, lautet:
Haben Sie das Gefühl, daß man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann, oder ist es besser, vorsichtig zu sein?
Anfang der 50er Jahre lag der Anteil der (West-)Deutschen, die sich für "Kann frei reden" entschieden, bei etwas über 60 Prozent. Er stieg dann an, bis auf mehr als 80 Prozent Anfang der 70er Jahre, und hielt sich bis Mitte der 90er Jahre auf diesem Niveau. Seither sinkt er kontinuierlich und liegt derzeit bei ungefähr 70 Prozent.

Spiegelbildlich wuchs der Anteil derer, die sagen, es sei bei Meinungsäußerungen "besser, vorsichtig zu sein". In den frühen 50er Jahren lag dieser Wert mit etwas mehr als 20 Prozent am höchsten. Heute ist dieses gute Fünftel bereits wieder erreicht; seit 2010 liegt der Wert wieder über der 20-Prozent-Marke, unter die er ab 1960 gefallen war (nur einmal hatte er dazwischen knapp darüber gelegen, im Jahr des RAF-Terrors 1977).

In den Neuen Ländern sind es seit der Wiedervereinigung rund ein Drittel, die es besser finden, mit Meinungsäußerungen vorsichtig zu sein, und knapp zwei Drittel, die den Eindruck haben, ihre Meinung frei sagen zu können. In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung lag der Prozentsatz der ersteren Gruppe etwas oberhalb eines Drittels, fiel dann leicht ab und zeigt seit der Jahrtausendwende wieder eine leicht ansteigende Tendenz; im Gleichklang mit dem Trend im Westen.

Kommentar: Die Menschen fühlen sich heute weniger frei, ihre Meinung zu sagen, als irgendwann seit der späten Adenauerzeit. An die Stelle der konservativ-katholischen Meinungsdominanz in den 50er Jahren tritt zunehmend eine ökologisch-linke Meinungsdominanz.

Eine Dominanz, aber selbstredend keine totale Herrschaft über die öffentliche Meinung. Nur fehlt eine liberale Gegenöffentlichkeit; so, wie es zur Zeit Adenauers eine linke Gegenöffentlichkeit gab - die Stimmen der Links­intellekt­uellen, der Gewerkschaften, großer Teile der SPD. Die Bandbreite der Meinungen, die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wurden, war damals größer als heute.


Wo liegen die Tabuthemen? In einer Frage später im Interview wurde nach Tabuthemen gefragt:
Es gibt ja einige Aussagen, mit denen man aneckt, wenn man sie in der Öffentlichkeit äußert. Bei welchen davon würden Sie sagen, das sind besonders heikle Aussagen, bei denen man sich leicht den Mund verbrennen kann?
An der Spitze lagen die folgenden Aussagen:
  • Was über Konzentrationslager berichtet wird, ist übertrieben (72 Prozent)

  • Es gibt zu viele Moslems in Deutschland (68 Prozent)

  • Die Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg (67 Prozent)
  • Bemerkenswerterweise wurde auch den folgenden Aussagen von vielen der Befragten ein Tabu-Charakter zugesprochen:
  • Die Todesstrafe sollte wieder eingeführt werden (57 Prozent)

  • Homosexualität ist eine Krankheit (52 Prozent)

  • Atomkraft ist eine gute Sache (46 Prozent)
  • Das ist keine vollständige Liste; diese finden Sie in der Publikation auf den Seiten 16 und 17.

    Kommentar: Etwas als Tabuthema zu bezeichnen ist im Prinzip unabhängig davon, wie man zu der betreffenden Frage steht. Wenn jemand "zu viele Moslems in Deutschland" als ein Tabuthema nennt, dann muß das nicht bedeuten, daß er selbst diese Meinung vertreten würde.

    Immerhin ist es erstaunlich, wie sehr das Thema der Einwanderung aus islamischen Ländern, das überall in Europa offen und oft leidenschaftlich diskutiert wird, in Deutschland als ein Tabu-Thema wahrgenommen wird; selbst noch ein Jahr nach der Sarrazin-Debatte (die Interviews wurden im August 2011 durchgeführt).

    Wenn eines der zentralen gesellschaftlichen Themen, und eines, das die Zukunft des Landes unmittelbar betrifft, nach Wahrnehmung einer Mehrheit der Bevölkerung nicht frei in der Öffentlichkeit diskutiert werden kann, dann ist Gefahr für die Freiheit im Verzuge.

    Hier läge ein großes Potential für eine liberale Partei; eine Partei, die beispielsweise in der Sarrazin-Debatte die Position bezogen hätte: Wir teilen nicht unbedingt die Meinung Sarrazins; aber er hat Anspruch darauf, daß man ihn fair und mit Respekt behandelt und daß seine Thesen sachlich diskutiert werden.

    Daß die Zahl derer, die mit Meinungsäußerungen in der Öffentlichkeit vorsichtig sind, zunimmt, ist ein Alarmzeichen für eine freiheitliche Demokratie. Eine FDP, die das erkennt und darauf reagiert, würde nicht nur Zustimmung im liberalen Teil der Wählerschaft finden (der ja nicht verschwunden ist), sondern sich, ein wenig pathetisch gesagt, auch um unsere Demokratie verdient machen.



    Im zweiten Teil befasse ich mich mit den Fragen zu dem Themenkomplex "Der Einzelne und der Staat", mit einer Inhaltsanalyse von Leitmedien und damit, was es mit der angeblichen Forderung nach einem Verbot von Aussagen wie "Frauen gehören an den Herd" auf sich hat.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Märzrevolution 1848 in Berlin. Zeitgenössische Darstellung (Ausschnitt)