17. Juni 2012

Frankreichs Wahljahr 2012 (14): Hollande wird eine Mehrheit haben. Trotzdem wird es spannend

Wenn Sie die Folgen 10 bis 13 dieser Serie gelesen haben, dann wissen Sie, daß der Sieg der Linken im heutigen entscheidenden zweiten Wahlgang der Wahlen zur National­versammlung so gut wie sicher ist.

Das liegt nicht daran, daß die Linke bei den Wählern eine Mehrheit hätte; diese hatte sie jedenfalls im ersten Wahlgang am vergangenen Sonntag nicht. Es liegt zum einen am Wahlrecht und zum anderen daran, daß die Sozialisten und die extreme Linke einander helfen, die bürgerliche Rechte und die extreme Rechte aber nicht.

Weil das so ist, wurde bereits aufgrund des Ergebnisses des ersten Wahlgangs am vergangenen Sonntag durchweg eine linke Mehrheit in der Nationalversammlung vorhergesagt. Inzwischen liegen Umfragen vor; sie kommen zum selben Ergebnis. Auch die Affäre Trierweiler hat - so sehr sie die Franzosen gegenwärtig beschäftigt - sich auf das zu erwartende Wahlergebnis offenbar kaum ausgewirkt (zu dieser Affäre siehe Rosenkrieg im Haus François Hollande. Cherchez la femme! Aber es gibt auch einen politischen Hintergrund; ZR vom 14. 6. 2012).

Die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung liegt bei 289 Sitzen. Hier sind die Prognosen der Institute für die Fraktionsstärke der Sozialisten, erstellt aufgrund der jeweils letzten Umfrage: BVA 303 - 325; Ipsos 298 - 331; TNS Sofres 300 - 330; Harris 287 - 325; Opinion-Way 295 - 330; CSA 287 - 330. Bei vier Instituten liegt also die untere Grenze noch oberhalb der absoluten Mehrheit; nur bei zwei ganz knapp darunter.

Und selbst in dem Fall, daß die Sozialisten keine eigene absolute Mehrheit erreichen sollten, wird es eine linke Mehrheit geben. Die Grünen, die bereits zur Wahl Hollandes aufgerufen hatten, werden 10 bis 20 Abgeordnete im Parlament haben; die kommunistische Linksfront, die Hollande auch unterstützen würde, um die 10 Mandate. Es wird also keine Cohabitation geben, keinen rechten Premierminister unter dem linken Präsidenten Hollande.



Immerhin - möglich ist es, daß die Sozialisten die absolute Mehrheit verfehlen. Ob das entgegen den Prognosen vielleicht doch eintritt, das ist die erste spannende Frage des heutigen Abends.

Sollte Hollande auf die Grünen angewiesen sein, dann wird sich das vor allem auf Frankreichs Atompolitik auswirken; denn dort sind nur die Grünen für das Abschalten von Kernkraftwerken. Hollande hat ihnen, weil er ihre Unterstützung für seine Wahl brauchte, das Zugeständnis gemacht, er wolle Fessenheim vom Netz nehmen. Aber zu entscheiden hat das Parlament; und bei den Sozialisten gibt es weiter eine breite Unterstützung für die Kernenergie.

Sollte Hollande auf die Linksfront angewiesen sein - sehr unwahrscheinlich, aber nicht auszuschleßen -, dann würde diese ihn vermutlich zwingen, sein sehr linkes Wahlprogramm Punkt für Punkt in die Tat umzusetzen (zu diesem Programm siehe "Mein wahrer Gegner ist die Finanzwelt"; ZR vom 3. 2. 2012, sowie Eine Debatte auf hohem Niveau. Für Sarkozy ein vernichtendes Unentschieden.; ZR vom 4. 5. 2012). Rente mit 60 also beispielsweise; 60.000 neue Stellen im Bildungsbereich - man könnte dann gespannt sein, wie Hollande das mit Frankreichs kritischer Haushaltslage vereinbaren will.



Die anderen spannenden Fragen beziehen sich auf einzelne Kandidaten; drei Prominente, bei denen es unsicher ist, ob sie es in die Nationalversammlung schaffen:

Im Wahlkreis Charente Maritime 1 (La Rochelle) stehen sich, wie hier im einzelnen beschrieben, die Sozialistin Ségolène Royal und der Ex-Sozialist Olivier Falorni gegenüber. (Er ist, anders als es Stefan Simons in "Spiegel-Online" behauptet, weder ein "PS-Kandidat" noch auch nur ein "PS-Genosse", sondern längst aus der Partei ausgeschlossen. Die Sozialisten würden ihn im Fall seines Siegs nicht einmal in ihrer Fraktion hospitieren lassen).

Es gibt zwei Umfragen in diesem Wahlkreis, die beide einen Sieg Falornis vorhersagen; mit 58 zu 42 Prozent und mit 55 zu 45 Prozent. Royal erhält danach zwar mehr Stimmen von den Wählern der Sozialisten; Falorni wird aber von denjenigen deutlich bevorzugt, die am vergangenen Sonntag die Kandidatin der UMP oder andere rechte Kandidaten wählten.

Der Stern Sélolène Royals wäre damit erst einmal untergegangen. Noch im vergangenen Jahr hatte sie sich Hoffnung auf eine erneute Präsident­schafts­kandidatur gemacht. Jetzt hatte ihr Hollande offenbar zugesagt, daß sie Präsidentin der Nationalversammlung werden dürfe. Sehr wahrscheinlich wird es ihr aber gehen wie dem Milchmädchen in Lafontaines Gedicht, das in Frankreich jedes Schulkind kennt: adieu veau, vache, cochon, couvée - Adieu, Kalb, Kuh, Schwein, Gelege; alles das, was das Milchmädchen sich von seinem Verdienst hatte anschaffen wollen.

Der zweite Prominente, dessen Mandat in der Nationalversammlung auf Messers Schneide steht, ist der Liberale François Bayrou, der es mit seiner Schaukelpolitik zwischen Links und Rechts fertiggebracht hat, die einst bedeutende rechtsliberale Partei UDF zu spalten und jetzt auch noch, indem er sich zur Wahl Hollandes bekannte, die Nachfolgepartei MoDem in die Bedeutungslosigkeit zu führen. Im ersten Wahlgang erhielten deren Kandidaten gerade noch 1,76 Prozent.

Bayrou ist so etwas wie politisches Urgestein in Frankreich. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert - seit 1986 - vertritt er mit kurzen Unterbrechungen den Wahlkreis Pyrénées-Atlantiques 2 seiner Heimatstadt Pau. Jetzt steht er, wie die Lokalzeitung La République des Pyrénées schreibt, "am Rande des Abgrunds".

Denn im ersten Wahlgang wurde er von einer Sozialistin geschlagen, die fast 35 Prozent erhielt. Bayrou kam auf weniger als 24 Prozent. Und schlimmer noch für ihn: Der Kandidat der UMP, Eric Saubatte, schaffte es mit 21,72 Prozent ebenfalls in den heutigen zweiten Wahlgang. Wäre er an der 12,5-Prozenthürde gescheitert, dann wären die Stimmen der UMP-Wähler vermutlich zum größten Teil Bayrou zugute gekommen. Jetzt sind seine Chancen nur noch gering.

Mit seiner Entscheidung für Hollande hat sich Bayrou zwischen die Stühle gesetzt. Hätte er sich, wie einst die UDF, zum Bündnis mit der UMP bekannt, dann hätte deren Kandidat sich wahrscheinlich zu seinen Gunsten zurückgezogen. Das hat dieser jetzt abgelehnt. Und die Sozialisten dachten nicht daran, nur wegen Bayrous Wahlaussage zugunsten von Hollande ihre Kandidatin zurückzuziehen.

Während die Chancen sowohl Royals als auch Bayrous schlecht stehen, kann sich Marine Le Pen in ihrem Wahlkreis Pas-de-Calais 11 (Hénin-Beaumont) Hoffnungen machen. Sie erreichte im ersten Wahlgang mit 42,36 Prozent ein glänzendes Ergebnis. Der Kommunist Jean-Luc Mélenchon, der sich in diesem Wahlkreis eigens hatte aufstellen lassen, um gegen Le Pen anzutreten, kam auf kärgliche 21,48 Prozent; noch hinter dem Sozialisten Philippe Kemel mit 23,50 Prozent. Mélenchon verfehlte damit knapp das Quorum von 12,5 Prozent der Stimmberechtigten und schied aus.

Aus der Sicht Marine Le Pens wäre es besser gewesen, wenn er ihr im zweiten Wahlgang gegenübergestanden hätte, statt des vergleichsweise gemäßigten Kemel. Jetzt wird es darauf ankommen, wie die Wähler der kleineren Parteien sich verhalten. Die Entscheidung dürfte in jedem Fall knapp ausfallen. Nach den Prognosen der Institute könnten es maximal fünf Kandidaten des Front National schaffen. Es ist aber gut möglich, daß diese Partei auch diesmal keinen einzigen Sitz erhält.­­
Zettel



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