12. Juni 2012

Zettels Meckerecke: Schäm dich, "Spiegel"!

Auf dem Titelblatt des aktuellen "Spiegel" finden Sie eine, tja, wie soll man es nennen? Sagen wir: Schlagzeile. Sie besteht aus dem Wort "Schade", dahinter ein Punkt. Darunter klein "Obamas mißglückte Präsidentschaft".

An dieser Schlagzeile ist zweierlei bemerkenswert.

Das eine ist, daß sie nicht informiert, sondern eine emotionale Reaktion ausdrückt, eine affektive Bewertung. Die Redakteure des "Spiegel", die sich das ausgedacht haben, fühlen etwas. Sie teilen uns, den Lesern, dies mit; wollen uns einbeziehen in ihr Gefühl. In der Erwartung offensichtlich, daß wir alle gemeinsam dasselbe fühlen.

Der Informationswert dieser Schlagzeile ist null. Sie soll nicht den Verstand des Lesers ansprechen, sondern sein, wie man heute gern sagt, "Bauchgefühl".

Viele Amerikaner - rund die Hälfte von ihnen, die Romney wählen würden, wenn jetzt Wahlen wären - fühlen aber nicht so. Sie finden es vermutlich gar nicht "schade", daß Obama mit seinen Plänen gescheitert ist; sondern sie sind heilfroh darüber.

Viele hoffen, daß mit Obamas Abwahl der Versuch einer Sozialdemokratisierung der USA beendet sein wird und das Land wieder zu seinen traditionellen Tugenden und Werten - so viel Freiheit des Einzelnen wie möglich, nur soviel Staat, wie nötig - zurückkehrt; daß es damit auch wieder zu seiner alten Stärke zurückfinden wird und aus seiner jetzigen Depression herauskommt, im doppelten Wortsinn.

Schade würde diese Hälfte der Amerikaner es finden, wenn es Obama gelungen wäre, das Land so zu verwandeln - change! -, wie er es sich offenbar vorgestellt hatte.

Die Redakteure des "Spiegel", die für diese Schlagzeile verantwortlich sind - das letzte Wort hat der Chefredakteur, derzeit Georg Mascolo - vertrauen offenbar darauf, daß die meisten Deutschen (jedenfalls von denen, die als Käufer des "Spiegel" in Frage kommen) ihr Bauchgefühl teilen. Unwahrscheinlich, daß sie beispielsweise die ebenfalls von Problemen belastete zweite Amtszeit von George W. Bush mit einem "Schade" kommentiert hätten.



Nun gut, der "Spiegel" ist, wie es schon im Jahr 1957 Hans Magnus Enzensberger erkannte, kein Nachrichtenmagazin (siehe Hans-Magnus Enzensberger zum Achtzigsten; ZR vom 11. 11. 2009). Er bemüht sich nicht, wie die klassischen Nachrichtenmagazine Time, Newsweek und The Economist, um eine sachliche, ausgewogene Berichterstattung.

Diese hatte es in den ersten Jahrgängen des Magazins gegeben, in denen die meisten Artikel keine politische Linie erkennen ließen. Für Meinung war damals der Kommentator "Jens Daniel" zuständig; das Pseudonym, unter dem Rudolf Augstein schrieb. Ansonsten war man politisch neutral.

Augstein wetterte in diesem brillanten Kommentaren gegen Adenauers Politik. Die Stories aber enthielten Reportagen und Analysen, deren Absicht es war, den Leser einen Blick hinter die Kulissen werfen zu lassen, nicht ihm eine Meinung aufzudrängen.

Das änderte sich im Lauf der beiden Jahrzehnte zwischen 1950 und 1970. Sehen Sie sich einmal die Titelbilder des Jahres 1950 an. Keines läßt eine politische Tendenz erkennen. Auch 1960 sind die Titel noch ohne eine politische Wertung. Im Heftinneren allerdings gehen Meinung und Bericht schon in den sechziger Jahren kräftig durcheinander; vor allem, was den Feldzug gegen Franz-Josef Strauß angeht.

Der Wendepunkt war die "Spiegel"-Affäre im Herbst 1962 gewesen. Franz-Josef Strauß hatte den "Spiegel" vernichten wollen. Dessen Reaktion war es, daß er zum Kampfblatt gegen Strauß wurde; bald überhaupt immer mehr zum Meinungsblatt. Es erschienen nun Titelbilder wie dieses, die unverhüllt eine politische Botschaft visualisierten.

Das war 1974. Inzwischen ist es nachgerade der Ehrgeiz der "Spiegel"-Chefredaktion, bereits mit dem Titelbild eine politische Meinung zu transportieren. Insofern ist das jetzige "Schade" nur der vorläufige Höhepunkt einer jahrzehntelangen Entwicklung.



Höhepunkt? Ein Tiefpunkt jedenfalls, was das sprachliche, auch was das grafische Niveau angeht. Und das ist das andere, was an dieser Schlagzeile bemerkenswert ist.

Wenn Sie sich die gegen Helmut Kohl gerichteten Titel beispielsweise des Jahres 1986 oder des Jahres 1992 ansehen, dann war das zwar pure Polemik; aber es hatte doch immerhin Biß und Witz.

Mit dem "Schade" über einem grämlich dreinblickenden Obama hat der "Spiegel" das Niveau von "Bild" erreicht; das Niveau der affektiv aufgeladenen Ein-Wort-Sätze. Kindersprache. Nur noch dumm. Um es in dieser Sprache zu sagen. Und sich damit freilich ganz neue Möglichkeiten erschlossen.

Wie wäre es zum Beispiel mit einem Titel zum Atom-Ausstieg: "Prima! Deutschland zeigt es der Welt"? Oder zum Erfolg der Piratenpartei: "Wunderbar! Die Piraten mischen Deutschland auf"? Oder vielleicht: "Empörend! Wie Assad auf seine eigenen Bürger schießen läßt"?

Schäm dich, "Spiegel"!



Mit dem Thema dieser Titelgeschichte - wie ist die Präsidentschaft Barack Obamas zu bewerten? - werde ich mich in einem getrennten Artikel befassen.
Zettel



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