27. Juni 2012

Aufruhr in Arabien (29): Im Machtspiel des Nahen Ostens beginnt mit der Wahl Morsis eine weitere Runde. Eine neue strategische Option für Erdogan

Im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts gab es ein komplexes Machtgefüge, innerhalb dessen der Kanzler Bismarck das Jonglieren "mit fünf Glaskugeln" beherrschte. So jedenfalls schrieb es ihm sein Kaiser Wilhelm I. zu; und Bismarcks Nachfolger Caprivi hat es erwähnt, als er anläßlich von Vertrags­verhandlungen mit Rußland kundtat, daß er selbst dieses Spiel leider nicht beherrsche.

Es gab damals die fünf europäischen Groß­mächte England, Frankreich, Österreich, Rußland und Deutschland, die miteinander um Macht und Einfluß kämpften; mit wechselnden Allianzen, mit einem komplexen System von Verträgen. Ähnlich sieht es, seit die USA sich aus dem Irak zurückgezogen haben, im Nahen Osten aus.

Hier sind allerdings nur vier Kugeln im Spiel: Der Iran, die Türkei, Saudi-Arabien und Ägypten. Auch hier wechseln die Allianzen.

Besonders interessant ist dabei die Allianzpolitik der Türkei; unter Erdogan eine aufstrebende Großmacht, die sich primär nicht mehr nach Europa orientiert, sondern nach der Region in ihrem Süden und Osten (siehe Ahmet Davutoğlus Ideologie und die aufstrebende islamistische Großmacht Türkei; ZR vom 16. 12. 2011; sowie "Die Türkei ist auf dem Weg zur Großmacht"; ZR vom 22. 4. 2012).

Sehen Sie sich bitte einmal diese Karte an (für eine vergrößerte Version zweimal auf die Abbildung klicken):


Sie sehen die vier Akteure - die Türkei im Norden, den Iran im Osten, Saudi-Arabien im Süden und Ägypten im Westen. Dazwischen die umstrittene Region: Syrien, der Libanon, Jordanien und der Irak. Dazu Israel in seiner besonderen Situation; und im Südosten die zweite umstrittene Region, die Golfstaaten. Dort findet die Auseinandersetzung vor allem zwischen dem Iran und Saudi-Arabien statt.

Als die Türkei begann, sich von Europa weg und diesem Raum zuzuwenden, geschah das zunächst in Form eine Annäherung an den Iran und Syrien; bei gleichzeitigem Bruch der bis dahin bestehenden Allianz mit Israel (siehe Jerusalems Kotau vor Ankara. Über die neue Außenpolitik des Tayyep Recip Erdogan; ZR vom 14. 1. 2010, sowie Daniel Pipes: Türkische Ambitionen; ZR vom 18. 4. 2011).

Inzwischen hat der "Arabische Frühling" dazu geführt, daß die Karten neu gemischt werden. Es zeichnet sich das ab, was man seit dem 18. Jahrhundert ein renversement des alliances nennt; eine Umkehrung der Allianzen: Die Türkei hat ihre Unterstützung für Assad brüsk beendet und dringt im Gegenteil jetzt auf dessen Sturz. Zugleich könnte es künftig zu einer Annäherung zwischen der Türkei und Ägypten kommen.



Stratfor hat das gestern analysiert: In Ägypten besteht jetzt, nach der Wahl Mohamed Morsis zum Präsidenten, eine ähnliche Situation wie jahrzehntelang in der Türkei. Eine islamistische Bewegung versucht sich in einem Staat durchzusetzen, der traditionell vom Militär beherrscht wurde. Der Aufstieg der türkischen AKP, der Partei Erdogans, bietet sich für Morsi als Vorbild an.

Die AKP hat das türkische Militär in einem sich über viele Jahre erstreckenden Prozeß allmählich entmachtet, in Form von "decades of steady infiltration", wie Stratfor schreibt, Jahrzehnten einer beständigen Infiltration. Morsi könnte sich in dem jetzt bevorstehenden, vermutlich ebenfalls langen Machtkampf den erfolgreichen Erdogan zum Leitbild nehmen.

Eine Achse Ankara-Kairo könnte damit an die Stelle der bisherigen Linie der Türkei treten, durch eine Annäherung an Teheran und eine Unterstützung Assads ihren Einfluß im Nahen Osten auszubauen.

Dem kommt - als zweite Folge des "Arabischen Frühlings" neben dem Sturz Mubaraks - der Bürgerkrieg in Syrien entgegen.

Anders als bis vor wenigen Monaten besteht inzwischen die Möglichkeit, daß Assad fällt und daß Sunniten die Macht übernehmen; sehr wahrscheinlich dann auch wieder in Syrien unter der Führung der in Ägypten so erfolgreichen Moslembrüder (siehe Israels Dilemma. Dreißig Jahre nach dem Friedensvertrag mit Ägypten ist das Land wieder bedroht; ZR vom 26. 3. 2011).

Ob das ein glatter Machtwechsel werden würde, ist allerdings ganz offen; gut möglich ist nach einem Sturz Assads ein Bürgerkrieg, in dem die Kaida eine wesentliche Rolle spielen würde (siehe Die Lage in Syrien, das Ende des Arabischen Sozialismus und die Chancen der Kaida; ZR vom 19. 2. 2012). Aber dazu muß es nicht kommen; und ähnlich wie die USA vor der Invasion des Irak könnten die Regierenden der Türkei ein solches Szenario als unwahrscheinlich einschätzen.

Stratfor berichtet von "privaten Diskussionen mit türkischen politischen Denkern", die für die Türkei die folgende Strategie entwerfen: Der Iran-Alliierte Syrien steht einer Ausweitung des türkischen Einflusses in der Region im Weg. Fällt Assad und tritt an seine Stelle ein von der Moslem-Bruderschaft geführtes Regime, dann ist der Weg frei für einen Block der von AKP/Moslem­bruderschaft geführten Länder vom Bosperus bis an den Nil.

Von dort aus könnte der Einfluß zum einen nach Westen in Richtung Libyen/Tunesien ausgedehnt werden, zum anderen nach Südosten, wo der Irak jetzt weitgehend vom Iran abhängig ist. Der Türkei würde ein stärkere Stellung gegenüber dem Irak mit seiner starken kurdischen Minderheit die Lösung des eigenen Kurdenproblems erleichtern. Ägypten blickt mit Begehrlichkeit auf den Ölreichtum Libyens.

In diesem Kontext ist, so Stratfor, das jetzige Hochspielen des syrisch-türkischen Flugzeug-Zwischenfalls durch Erdogan zu sehen. Die Türkei versucht, ihre Nato-Mitgliedschaft auszuspielen und sie ihren Machtinteressen nutzbar zu machen (siehe Die Brisanz des syrisch-türkischen Flugzeugzwischenfalls; ZR vom 23. 6. 2012). Die Nato-Staaten, vor allem der Wahlkämpfer Obama, scheinen allerdings wenig Neigung zu zeigen, sich vor den türkischen Karren spannen zu lassen; jedenfalls vorerst.

Auch die erste Affäre des gewählten Präsidenten Morsi könnte mit einem renversement des alliances zusammen­hängen: Morsi hatte am Sonntag der iranischen Nachrichtenagentur Fars ein sehr Iran-freundliches Interview gegeben. Am Montag machte er dann einen Rückzieher - oder wurde zurückgepfiffen (Ägyptens Präsident Morsi hat der iranischen Agentur Fars gar kein Interview gegeben? Hier ist es, in fünf Teilen; ZR vom 26. 6. 2012).

Das muß nicht bedeuten, daß sich Ägypten nun gleich in eine Allianz mit der Türkei stürzt und darauf verzichtet, das Verhältnis zu Teheran zu verbessern. Aber es bedeutet möglicherweise doch immerhin, daß der in der Außenpolitik unerfahrene Morsi es jetzt lernen muß, sein Herz nicht auf der Zunge zu tragen. Jedenfalls solange nicht, wie die Lage im Nahen Osten so unübersichtlich ist wie gegenwärtig; wie offen ist, wer künftig mit wem gegen wen paktieren wird.
Zettel



© Zettel. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Karte vom Autor W123 unter Creative Commons Attribution 3.0 Unported-Lizenz freigegeben (Ausschnitt).