4. Juni 2012

Eine militärische Intervention in Syrien? Hollandes Vorstoß und warnende Worte von Henry Kissinger

Sollte der Westen in Syrien militärisch intervenieren? Das Thema ist auf dem Tisch, seit vergangene Woche der neue französische Staatspräsident Hollande eine solche Option ausdrücklich nicht ausgeschlossen hat.

Man reibt sich die Augen. Wie war das doch gleich bei der Invasion des Irak vor neun Jahren? Kein Land hat sich damals so massiv gegen sie gestellt wie Frankreich; mit diplomatischen Vorstößen bis buchstäblich zur letzten Minute. Und ausgerechnet Frankreich bringt jetzt ein militärisches Eingreifen gegen eine ähnlich blutige Diktatur im Nachbarland des Irak offiziell ins Spiel?

Weiter: In Frankreich, in Deutschland und weltweit war es vor allem die Linke, die gegen die Invasion des Irak Front gemacht hat. Jetzt ist es der erste linke Präsident Frankreichs seit Mitterrand, der von der Möglichkeit eines Eingreifens in Syrien spricht. Verkehrte Welt, so scheint es.

Zu fragen ist zum einen, was es mit dieser doppelten Rochade auf sich hat. Wichtiger ist die zweite Frage, wie denn eine solche Option zu beurteilen ist.



Die Rochade Frankreichs, die Rochade der französischen Linken ist relativ einfach zu erklären:

Es waren keine Anflüge von Pazifismus gewesen, auch keine Scheu vor dem Angriff auf ein souveränes Land, die Frankreich 2003 veranlaßten, sich so heftig gegen die Invasion des Irak zu stellen. Es war ein Schachzug in einem Machtspiel, in dem es dem damaligen Präsidenten Chirac vor allem darum ging, eine deutsch-französische Allianz gegen die USA zu schmieden; ein lange gehegter Traum des Gaullismus (siehe Marginalie: Chirac, der Irak - und die Rolle Gerhard Schröders; ZR vom 24. 5. 2007). Noch im Sommer 2002 hatte Frankreich erwogen, sich an einer eventuellen Invasion des Irak zu beteiligen.

Was die französische Linke angeht, so hat sie ein ganz anderes Verhältnis zum Militär als beispielsweise die deutsche. Das geht zurück bis zur Französischen Revolution. Die Marseillaise ist bekanntlich ein Soldatenlied, in dem den Feinden angedroht wird, die Furchen der französischen Felder mit ihrem Blut zu füllen. Im Kampf gegen die Gegenrevolution hat Frankreich die erste europäische Armee des ganzen Volks geschaffen.

Frankreichs Kolonialkriege wurden auch von linken Regierungen geführt. Unter dem sozialistischen Präsidenten Mitterrand hat Frankreich mehrfach in Afrika militärisch interveniert; unter anderem in der Zentralafrikanischen Republik (1981), im Tschad (1983), in Togo (1986), in Ruanda (1990-1993), in Zaire (1993) und auf den Komoren (1989 und 1995).

Insofern ist es nicht verwunderlich, daß jetzt ein französischer Präsident, und diesmal ein linker, eine Intervention in einem arabischen Land erwägt; nachdem bereits sein Vorgänger Sarkozy die treibende Kraft bei der Intervention in Libyen gewesen war (siehe Ein "gerechter Krieg" gegen Libyen? Welche Interessen stecken hinter der Intervention Frankreichs und Großbritanniens?; ZR vom 27. 3. 2011). Auch jetzt ist Bernard-Henri Lévy wieder aktiv, dem schon damals ein wesentlicher Anteil an Sarkozys Libyen­politik zugeschrieben wurde.

Warum prescht Hollande zum jetzigen Zeitpunkt vor? Man kann das nur vermuten. Naheliegend sind zwei Motive:

Erstens stehen die Wahlen zur Nationalversammlung am 10. und 17. Juni vor der Tür. In Deutschland käme kein Kanzler auf den Gedanken, mit einem möglichen deutschen Militär­einsatz Wahlkampf zu machen; aber in Frankreich ist das eben anders.

Zweitens darf man nicht vergessen, daß in der jetzt angelaufenen Auseinandersetzung zwischen Hollande und der deutschen Kanzlerin, in der es um den künftigen Kurs Europas geht, Deutschland zwar wirtschaftlich weit im Vorteil ist; daß aber die Atommacht Frankreich militärisch und also auch in der Außenpolitik in einer ungleich stärkeren Position ist. Daran zu erinnern kann aus französischer Sicht nicht schaden.



Wichtiger als die Motive Hollandes ist die Frage nach den Folgen einer solchen Invasion. Dazu hat am Wochenende Henry Kissinger in der Washington Post einen bemerkens­werten Artikel geschrieben. Wenn sich in den USA der fast 90jährige Kissinger zu Wort meldet, dann findet das ungefähr soviel Beachtung wie bei uns eine Stellungnahme von Helmut Schmidt. Und Kissinger äußert sich inzwischen nur noch dann, wenn er es für erforderlich hält, mit seiner Autorität als elder statesman in eine Debatte einzugreifen.

Schon der Titel des Aufsatzes ist als eine Warnung formuliert: "Syrian intervention risks upsetting global order" - Eine Invasion Syrians birgt die Gefahr, die Weltordnung zu erschüttern. Ich fasse die wesentlichen Punkte zusammen:

Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 gilt das Prinzip der staatlichen Souveränität und der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten; als Lehre aus dem Dreißigjährigen Krieg, der eine zum Schrecken gewordene Serie von Einmischungen gewesen war. Dieses "westfälische Prinzip" hat es ermöglicht, in vielen Fällen die Diplomatie an die Stelle der Konfliktlösung mit Waffengewalt zu setzen.

Aus dem Arabischen Frühling ist nun aber etwas hervorgegangen, das diesem Prinzip zuwiderläuft, eine generalized doctrine of humanitarian intervention, wie Kissinger es nennt - eine zum Prinzip erhobene Doktrin humanitärer Intervention. Auswärtige Mächte mischen sich in die gewaltsamen Konflikte innerhalb von Ländern ein und verlangen ein Ende der Kämpfe. Da es aber für beide Seiten in einem solchen Kampf ums Überleben geht, kommen sie dieser wohlmeinenden Aufforderung nicht nach. Das führte in Libyen zur militärischen Intervention als dem nächsten Schritt; in Syrien könnte dasselbe passieren.

Kissinger fragt, welche Strategie eigentlich hinter diesem Prinzip steht. Soll der Westen überall eingreifen, wo ein Bürgerkrieg tobt? Was wäre beispielsweise bei einem Aufstand in Saudi-Arabien? Und was geschieht nach dem Sturz der jeweiligen Diktatur? Sind gesetzlose Zustände zu erwarten, wie sie bereits jetzt im Jemen, in Somalia, in Teilen Malis und Libyens herrschen? Wer würde das Machtvakuum füllen?

Und wie würde eine amerikanische Intervention zu der US-Politik eines Rückzugs aus dem Irak und demnächst auch aus Afghanistan passen? Was müßten die USA möglicherweise unternehmen, um mit der Situation fertig zu werden, die sie durch ihr Eingreifen herbeigeführt hätten? Derartige Fragen stellt Kissinger. Es ist die Warnung: Tut nichts Unüberlegtes, bevor ihr die Folgen durchkalkuliert habt.

Kissinger schließt mit einer Passage, in der er noch einmal auf die allgemeine Frage der Weltordnung zurückkommt:
In reacting to one human tragedy, we must be careful not to facilitate another. In the absence of a clearly articulated strategic concept, a world order that erodes borders and merges international and civil wars can never catch its breath. A sense of nuance is needed to give perspective to the proclamation of absolutes.

Wir müssen aufpassen, daß wir nicht, indem wir auf die eine menschliche Tragödie reagieren, eine andere begünstigen. Wenn ein klar formuliertes strategisches Konzept fehlt, dann kann eine Weltordnung, die Grenzen aufweicht und internationale Kriege mit Bürgerkriegen vermengt, nie zu einer Verschnaufpause kommen. Es bedarf eines Sinns für Nuancen, um der Proklamation von Absolutheiten eine Perspektive zu geben.
Weise Worte. Es gehe bei dieser Frage in den USA nicht um Demokraten oder Republikaner, meint Kissinger am Schluß. Man wird das wohl als die Warnung an Präsident Obama verstehen können, er möge der Versuchung widerstehen, sich in der Rolle des Kriegshelden die Wiederwahl zu sichern.­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Henry Kissinger auf dem Weltwirtschaftsforum 2008 in New Delhi. Vom Inhaber des Copyrights, dem Weltwirtschaftsforum, unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic-Lizenz freigegeben (bearbeitet).