5. Juni 2012

Aktuelles zum Krieg der Dschihadisten (11): Die Kaida ist besiegt? Keineswegs. Im Jemen kontrolliert sie bereits "Emirate"

Seit der Tötung Osama Bin Ladens ist die Kaida weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden. Das liegt zum einen an der seither weit­ver­breiteten Meinung, die Dschihadisten seien durch diesen Schlag derart entscheidend geschwächt, daß von ihnen kaum noch eine Gefahr ausgehe. Zum anderen richtet sich seit dem Beginn der tunesischen Revolution im Dezember 2011 die Aufmerksamkeit zunehmend auf die politischen Umbrüche in Arabien; weniger auf den Kampf der Dschihadisten.

Auch an den Berichten in diesem Blog können Sie diese Verlagerung der Aufmerksamkeit sehen. Der vorausgehende Artikel in dieser Serie "Aktuelles zum Krieg der Dschihadisten" liegt schon eineinhalb Jahre zurück. Er erschien im November 2010; kurz bevor mit den ersten Unruhen im tunesischen Sidi Bouzid nach der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi der "Arabische Frühling" begann (Aktuelles zum Krieg der Dschihadisten (10): Der Krieg ändert sein Gesicht; ZR vom 11. 11. 2010).

Die seitherige Entwicklung dieser Umbrüche zeichne ich in der Serie "Aufruhr in Arabien" nach, deren aktuelle Folge sich mit der Wahl des ägyptischen Präsidenten befaßte und richtig vorhersagte, daß Shafiq und Morsi in den zweiten Wahlgang einziehen würden (Aufruhr in Arabien (28): Die Christen könnten den Wahlausgang in Ägypten entscheiden; ZR vom 24. 5. 2012).

Aber diese Verlagerung der Aufmerksamkeit bedeutet - leider - nicht, daß die Kaida nicht weiter eine Gefahr wäre. Ihre Möglichkeiten haben sich im Gegenteil durch die Ereignisse des "Arabischen Frühlings" erweitert; beispielsweise in Libyen, in dem es seit dem Sturz Gaddafis faktisch keine staatliche Macht mehr gibt ("Libyen ist von Waffen überschwemmt"; ZR vom 24. 8. 2011) und in Syrien (Die Lage in Syrien, das Ende des Arabischen Sozialismus und die Chancen der Kaida; ZR vom 19. 2. 2012).

Auch im Irak ist die Kaida seit dem Abzug der US-Truppen wieder eine Kraft im Machtspiel ("Al Kaida erlebt hier ein großes Comeback". Die Folgen der Irak-Politik von Präsident Obama; ZR vom 11. 8. 2010). Und besonders gute Chancen hat sie im Jemen.




Mit der Kaida im Jemen befaßte sich in einem gestern erschienen Artikel Stratfor (siehe auch El Kaida im Jemen; ZR vom 31. 12. 2009). Im folgenden stütze ich mich teilweise auf diesen Artikel.

Dieser jetzige Stratfor-Artikel, dem zwei weitere folgen werden, setzt eine Analyse fort, die ich vor einem Jahr dokumentiert habe (Wenn Sie den Konflikt im Jemen verstehen wollen, dann lesen Sie diese Analyse von Stratfor; ZR vom 26. 4. 2011). Diesem früheren Artikel ist auch die obige Karte entnommen (für eine vergrößerte Version bitte zweimal auf die Abbildung klicken).

Um die Kaida im Jemen verstehen zu können, muß man sich zunächst klarmachen, daß die hierarchisch strukturierte Kaida, wie sie zur Zeit der Anschläge vom 11. September 2001 existiert hatte, zum Zeitpunkt des Todes von Bin Laden schon längst nicht mehr bestand. Sie war bereits in der Operation Enduring Freedom des Jahres 2002, der Invasion des Afghanistan der Taliban, zerschlagen worden.

Es gab zwar danach noch eine Zentrale; wie man jetzt weiß, in Pakistan. Aber sie war hauptsächlich für das Ideologische und die allgemeine strategischen Linie zuständig. Auf der operativen Ebene sind seither die einzelnen Regional­organisationen immer bedeutsamer geworden - die Kaida des Irak beispielsweise oder die des Maghreb, die gegenwärtig vor allem in Nordmali und Ostlibyen aktiv ist.

Unterhalb dieser regionalen Ebene befindet sich die Ebene der weitgehend autonom agierenden Einzeltäter, die von der Kaida allenfalls ausgebildet wurden; manchmal aber auch überhaupt nur durch deren Propaganda, vor allem im Internet, zu ihren Taten motiviert werden (siehe Die Kaida und ihr Umfeld im Jahr 2010. Neue organisatorische Strukturen, neue Taktik; ZR vom 9. 1. 2010).

Zu den Regionalorganisationen gehört die Kaida der Arabischen Halbinsel (Qaeda in the Arabian Peninsula, AQAP), die ihren Sitz im Jemen hat.



Der Jemen spielte von Anfang an für die Kaida eine zentrale Rolle. Die Familie Osama Bin Ladens stammt aus der Ostprovinz des Jemen, Hadhramout. In der Stadt Aden fand im Dezember 1992 der überhaupt erste Anschlag der Kaida statt; auf das Gold Mohur Hotel, in dem Angehörige der US-Streitkräfte wohnten.

Daß der Jemen heute ein bevorzugtes Operations­gebiet der Kaida ist, liegt aber nicht nur an dieser historischen Verankerung. Eine wesentliche Rolle spielen auch die Wirren in diesem Land, das sich seit einem Jahrhundert in politischer Instabilität befindet.

Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war der Jemen formal Teil des Osmanischen Reichs gewesen, wenn auch der Sultan in Konstantinopel weit weg war. Der südliche Teil gehörte zum Britischen Empire, für das Aden die Rolle eines Stützpunkts auf dem Seeweg nach Indien spielte. Eine Reihe angrenzender Kleinstaaten faßten die Briten zu einem Protektorat zusammen; später wurde eine Kronkolonie Aden gegründet.

Nach dem Ende des Osmanischen Reichs wurde der Norden selbständig, aber es kam dort immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Stämmen. 1962 fand - wie in jenen Jahren in vielen arabischen Ländern - ein Putsch junger Offiziere statt, die in Gamal Abd-el Nasser ihr Vorbild sahen.

Es resultierte ein Bürgerkrieg im Norden. Zugleich bemühten sich die Briten im Rahmen der Entkolonialisierung, ihre Kronkolonie Aden in die Selbständigkeit zu entlassen. Auch dort kam es zu kriegerischen Wirren, die mit der Machtübernahme durch eine kommunistisch orientierte Guerrilla­organisation endeten. Das Ergebnis waren zwei jemenitische Staaten: der kommunistische Südjemen und der nasseristische Nordjemen.

Ihre Vereinigung fand 1990 statt, nachdem der Südjemen durch den Fall der Sowjetunion seinen wichtigsten Unterstützer verloren hatte. Präsident des vereinigten Jemen wurde Ali Abdullah Saleh, der bereits seit 1978 im Nordjemen geherrscht hatte.



Das ist jener Saleh, der Anfang dieses Jahres als Folge des "Arabischen Frühlings" gestürzt wurde; zur Zeit führt sein bisheriger Vizepräsident Abd Rabbuh Mansur Al-Hadi eine Übergangsregierung, die freie Wahlen vorbereiten soll.

Auf den Übergang zu einem demokratischen Rechststaat ist freilich der Jemen denkbar schlecht vorbereitet. Wenn Sie einen Blick auf die Karte werfen, dann sehen Sie im Nordwesten rot eingefärbte Provinzen. Dort tobt ein Stammeskrieg gegen die Al Houthi-Rebellen. In Deutschland erfuhr man von ihnen, als sie im Juni 2009 eine deutsche Familie entführten. Die braun eingefärbten südlichen und östlichen Provinzen sind das Gebiet der Kaida.

Zunächst operierte sie nach Guerrilla-Manier in den Bergen. Inzwischen kontrolliert die AQAP bereits eine Reihe von Städten. Sie hat damit eine Bedeutung erreicht wie die Kaida des Irak auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen, als sie - bevor der surge die Wende brachte - die Provinz Anbar faktisch unter ihre Kontrolle gebracht hatte.

Wie damals die Orte Anbars wurden jetzt diese Städte von der Kaida nicht nur erobert, sondern sie werden von ihr regelrecht regiert; mit dem Status von "Emiraten" wie Shaqra, Jaar, Azzan und Zinjibar, alle in der südlichen Küstenregion gelegen.

Gegründet war die AQAP erst im Jahr 2009 worden, und zwar von Nasir al-Wahayshi, der sie auch heute noch führt. Zuvor war er der persönliche Sekretär Osama bin Ladens gewesen. Er ist jetzt schon fast so etwas wie der Präsident eines Kaida-Staats. Die Kaida kontrolliert nicht nur die genannten sowie zahlreiche kleinere Städte, sondern sie betreibt auch Schulen, Krankenhäuser und soziale Einrichtungen. Die Wohl­tätigkeits­organisationen Al-Islah und Dar al-Hikma al-Yemenia sammeln Geld und geben es an die Kaida weiter.

Dies ist ein wesentlicher Durchbruch für die Kaida. Seit dem Scheitern im Irak konnte sie nirgends mehr regieren. Jetzt entsteht im Ostjemen wieder eine von ihr beherrsche islamistische politische Ordnung, komplett mit einer eigenen Justiz, der Ansar al-Sharia. Wie seinerzeit in Anbar bemüht sich die Kaida dabei, mit den örtlichen Stämmen zu kooperieren.

Nachdem die Regierung in Sanaa lange Zeit mit den Auseinandersetzungen des "Arabischen Frühlings" beschäftigt gewesen war und die Kaida weitgehend gewähren ließ, scheint sie jetzt die Bedrohung erkannt zu haben. Nach der Beurteilung von Stratfor würde die Kaida ihre "Emirate", wenn erst einmal entschlossen militärisch gegen sie vorgegangen wird, wohl nicht halten können.



Bei uns neigt man dazu, sich die Kaida als eine Organisation vorzustellen, der es vorrangig um Anschläge gegen den Westen geht. Die Strategie solcher Anschläge verfolgt sie zwar nach wie vor. Aber sie waren nie Selbstzweck. Das Ziel der Kaida ist es, die Macht in islamischen Ländern zu gewinnen, mit dem Fernziel einer Errichtung des Kalifats; eines Gottesstaates.

Der Krieg gegen den Westen ist lediglich der Weg, auf dem sie die Massen hinter sich bringen und die arabischen Regierungen stürzen will.

Insofern wird jetzt im Jemen die eigentlich Kaida sichtbar - islamistische Eiferer ähnlich den Taliban, die eine Herrschaft der Frommen unter dem Banner der Scharia errichten wollen.­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: NSF. Als Werk der US-Regierung in der Public Domain. Übernahme der Karte mit Erlaubnis von Stratfor.