20. Juni 2012

Zitat des Tages: "Noch nie stand eine Gesellschaft, die keine Diktatur ist, so unter Kontrolle". Martenstein über die Tugendrepublik Deutschland

Wir, die Deutschen von heute, glauben, freier zu sein als alle Generationen vor uns, in gewisser Hinsicht stimmt das auch. Wir dürfen unsere Regierungen kritisieren, die meisten leiden nicht unter materieller Not, wir leben lang und haben einige Krankheiten besiegt. Wenn wir unsere Sexualität jenseits der heterosexuellen Monogamie entfalten möchten, dann geht das. Gleichzeitig aber stand noch nie eine Gesellschaft, die keine Diktatur ist, so sehr unter Kontrolle.
Harald Martenstein in einem Artikel in der "Zeit" (24/2012 vom 6. 6. 2012), der jetzt auch bei "Zeit-Online" zu lesen ist. Titel: "Der Terror der Tugend".

Kommentar: Als Maximilien Robespierres, des Tugendfanatikers, Sieg sieht Harald Martenstein das an, was er in diesem Artikel an vielen Beispielen demonstriert; nicht nur aus Deutschland stammend, wenn auch überwiegend. Offenbar hat er sein Archiv von Themen und Meldungen geplündert, die er für seine Kolumne im "Zeit-Magazin" hätte verwenden können, und daraus einen mehr analytischen, nicht glossenhaften Artikel gemacht.

Viele der Beispiele sind im Kern bekannt, aber Martenstein offeriert Details, die man nicht unbedingt kennt. Beispielsweise ging die Meldung durch die Presse, daß in New York die großen Coca-Cola-Trinkbecher verboten werden sollen. Jetzt las ich bei Martenstein, daß ein deutscher Medizinprofessor das mit den Worten kommentiert hat: "Der Mensch brauche Leitlinien, auch der erwachsene Mensch". Martenstein meint dazu, auch Kim Il Sung habe das nicht besser sagen können.

Anderes war mir entgangen, zum Beispiel der "Hamburger Negerpuppen-Skandal", der Sarah Kuttner, einer Autorin, rund tausend Haßkommentare auf ihrer Facebook-Seite eingebracht hat. Falls Sie nicht Martensteins ganzen Artikel lesen wollen, dann lesen Sie bitte diese Geschichte; sie steht auf Seite 4.

Und wenn Sie sich nicht für die Beispiele interessieren, sondern nur für die Analyse, dann finden Sie deren Kern auf Seite 2:
In der Tugendrepublik verschmelzen drei geistige und politische Tendenzen der letzten Jahre. Erstens die Tendenz zur Transparenz, die neue Geheimnislosigkeit. Zweitens die Idee, dass ein moralisch einwandfreies Leben des Individuums staatlich durchsetzbar sein könnte. Drittens der Gedanke der möglichst vollständigen Risikovermeidung, wobei die Entscheidung über individuelle Risiken nicht etwa im Ermessen des Individuums steht.
Drei Tendenzen, ja. Aber alle drei doch Ausdruck derselben Grundtendenz: Einer Abkehr vom Individualismus.

Das Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft, mit seinen Wurzeln in Renaissance und Humanismus, wie es später in der Aufklärung, vor allem dann bei Kant theoretisch gefaßt wurde - dieses Individuum, dem unsere heutige Freiheit und unser Wohlstand zu danken sind, war erstens durch seine Privatheit gekennzeichnet. Ihre Auflösung in der allumfassenden Transparenz ist die erste der Tendenzen, die Martenstein nennt. Der politische Träger dieser Tendenz ist in Deutschland neuerdings die Piratenpartei; die vermutlich dem Individuum feindlichste Partei, die es außer den Kommunisten je in der Bundesrepublik gegeben hat.

Zweitens gehört zum bürgerlichen Individuum - und das geht wesentlich auf die Reformation zurück -, daß es für sein moralisches Verhalten selbst verantwortlich ist; daß ihm dieses weder eine Kirche noch die Gesellschaft vorschreiben kann. Der Mensch folgt seinem Gewissen, seinem inneren Kompaß - das war die Maxime. Gegen sie richtet sich die zweite Tendenz.

Drittens gehört zum bürgerlichen Individuum nicht nur moralische Selbstverantwortung, sondern auch die Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns, wie sie sich beispielsweise im unternehmerischen Risiko ausdrückt. Gegen diesen Aspekt der Eigenverantwortung richtet sich die dritte Tendenz.

Mit diesem Kommentar gehe ich ein Stück über Martenstein hinaus. Vielleicht bin ich damit ein wenig zu abstrakt geworden. Lesen Sie Martenstein und seine konkreten Beispiele! ­
Zettel



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