7. Juni 2012

Marginalie: 53 Prozent der Deutschen sind dafür, bei steigenden Strompreisen den "Ausstieg" zu verschieben. Nur 42 Prozent wollen das nicht

Gestern Abend um 22.45 Uhr veröffentlichte der WDR die Ergebnisse des aktuellen Deutschlandtrends, der regel­mäßigen Umfrage von Infratest dimap im Auftrag des Senders. Inzwischen liegen dazu Schlagzeilen vor; und wie meist findet das eine Medium dieses, das andere jenes Befragungsergebnis so wichtig, daß es in den Titel des Artikels gehoben wird. Zum Beispiel:
  • "Neues Beliebtheits-Ranking: Gauck schlägt sie alle!" ("Bild.de")

  • "Deutschlandtrend - Die Sehnsucht nach der D-Mark" ("Welt-Online")

  • "Aktuelle Umfrage - Die Linke auf Talfahrt" ("Spiegel-Online")

  • "ARD-DeutschlandTrend - SPD legt zu, Piraten klar im Minus" ("SWR.de")
  • Andere große Medien - die FAZ, die "Süddeutsche", das "Handelsblatt", die "Tageszeitung" und "Focus" zum Beispiel - haben die Meldung zu dem Zeitpunkt, wo ich dies schreibe, noch nicht. Vielleicht findet ja eine von deren Redaktionen das eine Schlagzeile wert, was Sie als Titel dieses Artikels lesen. Die Pressemitteilung des WDR jedenfalls tut es auch nicht, obwohl ihre Überschrift von barocker Ausführlichkeit ist:
  • "ARD-DeutschlandTrend Juni 2012: SPD legt bei Sonntagsfrage nach Landtagswahlen zu / Linke mit schlechtestem Wert seit sieben Jahren. Deutschland Favorit bei der Fußball-Europameisterschaft"



  • Vielleicht liegt es ja daran, daß die betreffende Frage von Infratest-dimap (Umfragezeitraum 4. bis 5. Juni 2012, 1501 Befragte für die Sonntagsfrage, 1001 für die anderen Fragen) als vorletzte gestellt wurde. Danach kam nur noch die beiden Fragen, wer Fußball-Europameister wird (47 Prozent tippen auf Deutschland, 16 auf Spanien; alle anderen liegen unter 5 Prozent) und wo man "das Deutschland-Spiel schaut" (die meisten "zu Hause im kleinen Kreis").

    Und davor diese Frage:
    Frage: Regierung und Opposition sind sich einig, dass die Energiewende, die den Ausstieg aus der Atomkraft möglich machen soll, nicht so schnell voran kommt, wie es nötig wäre. Sollte die Bundesregierung alle denkbaren Maßnahmen ergreifen, damit der Ausstieg aus der Atomkraft gelingt, selbst wenn dadurch die Strompreise steigen? Oder sollte sie den Ausstieg aus der Atomenergie im Zweifel lieber verschieben, damit die Strompreise nicht so stark steigen?
    Das Ergebnis, aus meiner Sicht ein sensationelles Ergebnis:
  • 42 Prozent sind für "Alle Maßnahmen ergreifen, auch wenn Preise steigen"

  • 53 Prozent sagen: "Ausstieg verschieben, damit Preise nicht so stark steigen".
  • Die Frage ist - zuständig für den Wortlaut ist der WDR, nicht Infratest dimap - etwas unklar formuliert.

    Denn einerseits wird im Eingangs-Statement festgestellt, daß der Ausstieg nicht schnell genug vorankommt. Der nächste Satz ("alle denkbaren Maßenahmen ..., selbst wenn dadurch die Strompreise steigen") impliziert, daß der Ausstieg nur bei steigenden Strompreisen gelingen kann.

    Der nächste Satz enthält aber ein "im Zweifel", das in diesem Kontext keinen Sinn macht. Logisch wäre gewesen: "Oder sollte sie den Ausstieg aus der Atomenergie lieber verschieben, damit die Strompreise nicht so stark steigen?" Oder aber man hätte das "im Zweifel" auf beide Optionen beziehen müssen; also:
    Sollte die Bundesregierung im Zweifel alle denkbaren Maßnahmen ergreifen, damit der Ausstieg aus der Atomkraft gelingt, selbst wenn dadurch die Strompreise steigen? Oder sollte sie den Ausstieg aus der Atomenergie im Zweifel lieber verschieben, damit die Strompreise nicht so stark steigen?
    Die Fragestellung des WDR enthält also eine - ob nun beabsichtigte oder versehentliche - Schieflage (der Fachausdruck ist Bias) zu Ungunsten der Antwortalternative ""Ausstieg verschieben, damit Preise nicht so stark steigen". Dennoch hat sich eine deutliche Mehrheit der Befragten für sie entschieden.

    Nicht wahr, das ist eine Meldung vom Typ "Mann beißt Hund"? Eine kleine Sensation. Denn bisher ging ja die Politik davon aus, daß die Deutschen so einhellig für einen schnellen "Ausstieg" eintreten, wie ihn der Bundestag am am 30. Juni 2011 fast einhellig beschlossen hatte.

    Offenbar schwant inzwischen vielen Deutschen, was diese in kollektiver Besoffenheit gefällte Entscheidung sie noch kosten wird; was sie für die Zukunft unseres Wohlstands bedeutet. Zu diesen Kosten siehe Kurioses, kurz kommentiert: Ein Satz zum Netzausbaubeschleunigungsgesetz. Wann rebelliert der Bürger?; ZR vom 30. 5. 2012, sowie die dort zitierten vorausgehenden Artikel zu diesem Thema.­
    Zettel



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