22. Juni 2012

"Lies nicht mit den Schmuddelkindern!" Sarrazin, seine intellektuellen Gegner und das nationale deutsche Interesse. Ein Gastbeitrag von Juno

An Thilo Sarrazin scheiden sich in Deutschland die Geister. Und zwar buchstäblich: Sage mir, wie du es mit Sarrazin hältst, und ich sage dir, wer du bist! Lesen ist gar nicht nötig, es geht vor allem um Bekenntnis und Gruppenzugehörigkeit: Kaufen oder boykottieren - das ist hier die Frage.

Absurderweise sind es gerade die im eigenen Verständnis linksliberalen Meinungsbildner, die den Boykott zur Pflicht aller Anständigen erklärt haben. Ausgerechnet diejenigen, die sich als die Debattenführer in Politik und Medien sehen, wetteiferten zuletzt darin, Sarrazin bereits vorbeugend aus dem Kreis des Diskussionswürdigen zu verbannen. Motto: "Lies nicht mit den Schmuddelkindern".

Da mobbte ein ganzes Milieu, und wie auf dem Schulhof ging es einzig darum, sich mit dem spektakulärsten Tritt hervorzutun. Sachargumente mussten nicht einmal mehr vorgetäuscht oder auch nur angedeutet werden - man erinnere sich an die üblen persönlichen Beleidigungen Sarrazins durch eine Autorin der "Berliner Zeitung".

Woran liegt es, dass dieser Mann derart heftige Reaktionen auslöst? Seine Thesen und Argumente können es nicht sein, denn die jüngste Erregungswelle fand bereits statt, als Sarrazins Buch überhaupt noch nicht auf dem Markt war. Als es dann endlich vorlag, verdammten es zum Teil dieselben Eiferer mit dem Vorwurf, es stehe überhaupt nichts Neues drin.

An den Formulierungen kann es auch nicht mehr liegen. Diese waren früher manchmal extrem provozierend, im Einzelfall vielleicht sogar beleidigend; aber die "Kopftuchmädchen"-Sätze liegen nun auch schon ein paar Jahre zurück. Aktuell fällt eher auf, wie schwer sich die Mobber tun, auch nur irgendetwas halbwegs Skandalisierbares zu finden - was ihren Furor aber nicht im Geringsten bremst.

Vielleicht liegt es an der Perspektive, die der langjährige hohe Staatsdiener Sarrazin stets wie selbstverständlich einnimmt: Er argumentiert in den Kategorien eines nationalen deutschen Interesses. Diese Sicht leuchtet vielen Bürgern intuitiv ein; sie ist vielen Meinungsbildnern und Intellektuellen aber suspekt, zum Teil sogar geradezu widerlich.

Die Perspektive dieser Eliten ist die eines zutiefst von sich selbst überzeugten Postnationalismus: Für aufgeklärte Menschen gehört es sich einfach nicht, die Migrations-, die europäische Währungspolitik oder überhaupt irgendeine Politik daran zu messen, ob sie gut für Deutschland ist. Wenn sie gut für die Welt oder wenigstens Europa ist, dann muss das reichen.

Das Problem an Sarrazin ist also nicht, dass er falsche Antworten gibt; dass er etwa nach Ansicht seiner Kritiker verkennen würde, wie sehr Zuwanderung und Euro in einem wohlverstandenen deutschen Interesse liegen. Darüber könnte man ja dann im Detail streiten. Die Provokation ist, dass er schon die falschen Fragen stellt - nämlich eben die nach dem nationalen Interesse. Da muss der Kritiker dann tatsächlich gar nichts mehr lesen: Es ist von vorneherein klar, dass hier gefährliche Irrwege aufgemacht werden.

Sarrazin selbst hat diesen Punkt in seinem Euro-Buch kurz angetippt: (Fußnote 29, Seite 459f.). Die wütenden Kritiker seines vorangegangenen Buches hätten es "als illegitim (empfunden), dass der Autor offenbar 'Deutschland' und dem 'Deutschsein' einen eigenen Wert beimaß und Unterschiede bei Einwanderern entdeckte". Tatsächlich war ja schon der Titel dieses Buches - das sich übrigens nur in Teilen mit Migration beschäftigte - in diesem Sinne eine Provokation: "Deutschland schafft sich ab" brachte zum Ausdruck, dass sich hier jemand um einen Gegenstand sorgt, den der gebildete Postnationalist lieber im historischen Abklingbecken liegen lässt. Ein bisschen Jubel über "Schland" ist da das höchste der Gefühle.

Wenn Sarrazin Deutschland einen "eigenen Wert" beimisst, dann wittern seine Gegner sofort das fatale Aufbruchsignal für einen neuen völkischen Chauvinismus, der um jeden Preis gestoppt werden muss. Dazu sind dann alle Mittel recht, auch und gerade die brachiale Bevormundung der verführbaren Masse. Denn es geht ja darum, "den Anfängen zu wehren".

Das ist nun allerdings gleich doppelt absurd: Zum einen muss man Sarrazins Texte schon ziemlich missverstehen, um zu solchen Interpretationen zu kommen. Zum anderen führt die Eurokrise mittlerweile dazu, dass sich fast die ganze Welt den Kopf darüber zerbricht, was denn wohl die Interessen und Absichten der Deutschen sein könnten. Die Schlüsselfrage dieser Tage heißt: "What does Germany want???"

Malte Lehming hat unser psychologisches Problem kürzlich im "Tagesspiegel" unter der Überschrift "Nie wieder Deutschland!" prägnant beschrieben: In der Euro-Krise müssten
die Deutschen lernen, was sie nie lernen wollten: Kritik zu ertragen und Ablehnung zu verkraften. Das erfordert Ich-Stärke und Identität. Wer immer nur geliebt werden will, das weiß jeder Paartherapeut, erzeugt ungleichgewichtige Beziehungsstrukturen. Konflikte erkennen, benennen und eben auch aushalten – das kennzeichnet einen erwachsenen Umgang mit der Realität. Vielen Deutschen ist das fremd. Ihr Grundgefühl ist das Sich-Schämen. Sie haben Angst davor, Spuren in der Welt zu hinterlassen. Daher ihr Hang zum Pazifismus, zur Ökologie, zur Wachstumsphobie.
Aus Sarrazins Buchtitel "Europa braucht den Euro nicht" haben manche seiner Gegner den Kalauer gemacht: "Deutschland braucht den Thilo nicht". Vielleicht behalten sie damit mehr Recht, als ihnen lieb ist. Denn in der Eurokrise ist es für die Deutschen mittlerweile unausweichlich geworden, über ihre wohlverstandenen politischen und wirtschaftlichen Interessen zu diskutieren. Je breiter diese Debatte wird, desto weniger provokant wirkt ein Thilo Sarrazin. Es geht dann in der Tat auch ohne ihn.­
Juno



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