6. November 2011

Neues aus der Forschung (13): Ein Fall von Wissenschaftsbetrug. Nebst Anmerkungen zur Sozialpsychologie

In den Wissenschaften, jedenfalls den experimentellen Wissenschaften, wird ziemlich selten betrogen. Der Grund liegt auf der Hand: Wenn jemand gefälschte Daten publiziert, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder beachtet sie niemand. Dann hat ihm die Fälschung wenig eingebracht. Oder er findet mit diesen Daten Beachtung in der Fachwelt. Dann wird in der Regel früher oder später damit begonnen, die betreffenden Daten nachzuprüfen. Andere, die auf demselben Gebiet arbeiten, versuchen sie, wie man im Jargon sagt, zu "replizieren". Scheitert das, dann bringt das allerdings dem Fälscher etwas ein; nämlich Schmach und Schande.

Daten zu fälschen ist also dumm. Da die meisten Wissenschaftler nicht dumm sind, werden Daten selten gefälscht. Aber natürlich gibt es auch dumme Wissenschaftler. Früher oder später fliegen sie auf.

So ist es jetzt geschehen. Am vergangenen Montag hat die Universität Tilburg in Holland den Vorläufigen Bericht einer Kommission vorgelegt, die sich mit den Forschungen des an dieser Universität bisher tätigen Sozialpsychologen Prof. Dr. Diederik Stapel befaßte.

Inzwischen ist er nicht mehr Professor an dieser Universität. Denn die Wissenschaftler, die diese Kommission bildeten (der Psychologe W.J.M. Levelt, der Kriminologe M.S. Groenhuijsen und der Methodiker der Sozialwissenschaften J.A.P. Hagenaars) waren sich in ihrem Urteil einig:
The Committee has established that Mr Stapel has committed fraud with data. He has at any rate fabricated datasets in several dozen studies. The preparation for these studies proceeded normally. Stimuli and questionnaires were developed following comprehensive discussion. In the end, however, the questionnaires were not administered. Mr Stapel created his own datasets, which generally confirmed the expectations. (...)

The fact is that the fraud with data has been on a large scale and has persisted for a lengthy period, so that people, and in particular young researchers entrusted to him, have been affected profoundly at the start of their careers. This conduct is deplorable, and has done great harm to science, and the field of social psychology in particular. To the best of our knowledge, misconduct of this kind by a full professor in his position is unprecedented.

Das Komitee hat festgestellt, daß Stapel Daten fälschte. Er hat in jedenfalls mehreren Dutzend Untersuchungen Datensätze erfunden. Die Vorbereitungen für diese Untersuchungen verliefen normal. Die Reize [stimuli, ein Fachbegriff der Psychologie für Materialien, die man den Versuchspersonen vorlegt; Zettel] und die Fragebögen wurden nach umfassenden Diskussionen entwickelt. Aber die Fragebögen wurden dann nicht benutzt. Stapel erfand seine eigenen Datensätze, die in der Regel die Erwartungen bestätigten. (...)

Tatsache ist, daß dieser Datenbetrug in großem Stil stattfand und über längere Zeit ging, so daß Personen, vor allem ihm anvertraute Nachwuchswissenschaftler, zu Beginn ihrer Karriere zutiefst davon betroffen waren. Dieses Verhalten ist zu verurteilen. Es hat der Wissenschaft, speziell der Sozialpsychologie, großen Schaden zugefügt. Nach unserer Kenntnis ist ein Fehlverhalten dieser Art seitens eines Ordentlichen Professors ohne Beispiel.
Stapel hat am Montag alles zugegeben und eine larmoyante Reue-Erklärung publiziert, in der er schreibt:
In de moderne wetenschap ligt het ambitieniveau hoog en is de competitie voor schaarse middelen enorm. De afgelopen jaren is die druk mij te veel geworden. Ik heb de druk te scoren, te publiceren, de druk om steeds beter te moeten zijn, niet het hoofd geboden. Ik wilde te veel te snel. In een systeem waar er weinig controle is, waar mensen veelal alleen werken, ben ik verkeerd afgeslagen. Ik hecht eraan te benadrukken dat de fouten die ik heb gemaakt, niet zijn voortgekomen uit eigenbelang.

In der modernen Wissenschaft liegt die Meßlatte hoch und ist der Kampf um die knappen Mittel enorm. In den vergangenen Jahren ist der Druck für mich zu stark geworden. Ich habe dem Druck, erfolgreich zu sein, zu publizieren, dem Druck, stets besser sein zu müssen, nicht die Stirn geboten. Ich wollte zu viel zu schnell. In einem System, in dem es wenig Kontrolle gibt, in dem Menschen meist allein arbeiten, bin ich den falschen Weg gegangen. Ich lege Wert darauf, hervorzuheben, daß die Fehler, die ich gemacht habe, nicht aus Eigennutz entstanden.
Sondern als Dienst an der Wissenschaft?



Der Mann ist - oder sollte man sagen: war? - Sozialpsychologe. Er arbeitete damit auf einem Gebiet, das einige Besonderheiten hat. Besonderheiten, die es trivialerweise nicht rechtfertigen, daß ein Wissenschaftler betrügt; die hierfür aber doch gute Voraussetzungen bieten:
  • Die Sozialpsychologie befaßt sich mit Fragen, auf die oft auch der gesunde Menschenverstand die richtige Antwort weiß.

    Die meisten experimentellen Wissenschaften untersuchen das, was überhaupt nicht auf der Hand liegt, mit Methoden, die weit von der Alltagserfahrung wegführen. Man blickt mit Teleskopen ins Weltall; man untersucht das Verhalten von Partikeln wie den Neutrinos. Die Sozialpsychologie fragt, wie sich denn Menschen in sozialen Situationen verhalten und wie sie von diesen beeinflußt werden.

    Nun, das erleben wir ja alle ständig. Wir wissen, daß wir dazu neigen, uns der vorherrschenden Meinung in einer Gruppe, zu der wir gehören, anzupassen. Die Sozialpsychologie hat das zu einem Forschungsgebiet gemacht, der Forschung zur Konformität. Wir wissen, daß wir dazu neigen, "den Franzosen", "den Türken" usw. bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben. Die Sozialpsychologen nennen das Stereotype und untersuchen es mit großem Aufwand.

  • Die Sozialpsychologie läßt zuweilen die wissenschaftliche Objektivität vermissen. Stereotype mit emotionaler Besetzung werden auch "Vorurteile" genannt - aber nur, wenn sie der betreffende Forscher negativ bewertet. Rassen-Vorurteile werden beispielsweise ausgiebig untersucht; Klassen-Vorurteile - etwa gegen Banker, Manager, "Die Reichen" - nur selten. Zahlreiche Untersuchungen fragen, wie denn Jugendliche rechtsextrem werden; viel seltener wird untersucht, wie sie denn linksextrem werden, oder Anhänger der Grünen.

  • Die Methodik der Sozialpsychologie ist oft fragwürdig. Man arbeitet teils mit Fragebögen, teils experimentell. Wenn man experimentell arbeitet, werden die Versuchspersonen nicht selten belogen: Die Wissenschaftler lügen sie an, indem sie behaupten, es würde ein ganz anderes Experiment stattfinden als dasjenige, das tatsächlich abläuft.

    Beispielsweise werden in Experimente, mit denen man das Verhalten in Gruppen untersuchen will, sogenannte confederates eingschleust; also Agenten des Experimentators, die so tun, als seien auch sie Versuchspersonen, die tatsächlich aber ein zuvor abgesprochenes Verhalten zeigen; man könnte sagen: agents provocateurs.

    Ein klassisches Beispiel sind die Experimente von Salomon Asch, in denen solche eingeschleuste Agenten es beeinflussen sollten, wie die Gruppenteilnehmer ihre Urteile abgaben. Viele folgten den Agenten, verhielten sich also in ihren Urteilen "konform".

    Ein anderes, weltberühmtes Experiment dieser Art war das von Stanley Milgram aus dem Jahr 1963, damals Assistent (assistant professor) am Psychologie-Department der Universität Yale. Er spiegelte seinen Versuchspersonen vor, sie würden anderen Menschen Schmerzen zufügen, indem sie ihnen Elektroschocks verabreichten; tatsächlich handelte es sich um Milgrams Agenten, die den Schmerz nur schauspielerten.



  • Sie ist also eine etwas ungewöhnliche Wissenschaft, die Sozialpsychologie. Wenn man Versuchsergebnisse oft mit gesundem Menschenverstand vorhersagen kann, dann begünstigt dies es, sie zu fälschen. Eine Wissenschaft, in der das Lügen zum Handwerk gehört, mag Menschen wie Diederik Stapel anziehen, die zum Betrug neigen. Wo die Grenze zwischen Wissenschaft und Politik unscharf gezogen ist, da kann die wissenschaftliche Objektivität leicht unter die Räder kommen.

    Um es noch einmal zu sagen: Wie alle Wissenschaftler sind auch die Sozialpsychologen in ihrer überwältigenden Mehrheit ehrliche, seriöse Forscher. Aber wenn jemand nicht ehrlich ist und nicht seriös forscht, dann dürfte eine solche Disziplin ihm bessere Möglichkeiten zum Betrug bieten als viele andere.

    Stapel konnte in großem Stil fälschen, weil der eingangs genannte Mechanismus nicht griff. Zu keiner der Untersuchungen, deren Daten er fälschte, scheint der Versuch gemacht worden zu sein, sie zu replizieren; sie wurden von seinen Fachkollegen offenbar nicht als wichtig genug angesehen.

    Zwei dieser Untersuchungen waren allerdings, wie das Internet-Magazin Slate anmerkt, "media-friendly experiments" - medienfreundliche Experimente. Und beide zeigen, wie die sozialpsychologische Forschung zwischen Wissenschaft und Politik oszillieren kann.

    Im einen Fall wurde angeblich gezeigt, daß der Anblick von Müll auf der Straße die Neigung erhöht, Menschen zu diskriminieren. In der anderen vorgeblichen Untersuchung ging es um den Verzehr von Fleisch.

    Fleisch zu essen sei, so die Erläuterung von Stapels Koautor Marcel Zeelenberg, schlecht für die Umwelt, das Klima, die Tiere, die Dritte Welt und unsere Gesundheit. Trotzdem essen viele Menschen gern ein Steak. Warum? Weil der Verzehr von Fleisch eine psychologische Wirkung habe. Er steigere nämlich den Status und gebe dem Ego einen Schub.

    Und tatsächlich: Versuchspersonen, die man verunsichert hatte, entschieden sich häufiger als andere für das Steak, wenn sie zwischen drei Essen (Steak, Fisch, Omlett) wählen durften. Und wenn man Versuchspersonen das Bild eines Steaks zeigte, dann verhielten sie sich unsozialer als andere, die beispielsweise einen Baum oder eine Kuh betrachten durften.

    Interessante Ergebnisse, nicht wahr? Nur vermutlich gefälschte. Das Wissenschaftsmagazin Science, in dem die Müll-Untersuchung im April dieses Jahres erschienen war, warnt inzwischen seine Leser, daß den Daten möglicherweise nicht zu trauen sei.
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Galileo Galilei, gemalt im Jahr 1605 von Domenico Robusti. Ausschnitt. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.