11. November 2011

Europas Krise (5): Der echte Tiefpunkt



Haben wir aktuell eine Krise in Europa? Vielleicht ein bißchen. Verglichen mit den Höhen und Tiefen der europäischen Geschichte haben wir derzeit wohl eher eine kleine Delle auf hohem Niveau.

Wenn vom Stammvater Europas, dem großen Karl, und seinem Frankenreich die Rede ist, dann wird das ja gerne als Ursprung Europas angesehen. Und das ist natürlich in Teilen berechtigt.
Aber man übersieht leicht, daß schon bald darauf das "christliche Abendland" fast am Ende war.

Begeben wir uns ins Jahr 878.

In einem südenglischen Sumpf finden wir eine kleine Schar Flüchtlinge. Der König von Wessex hat sich mit wenigen Getreuen auf eine kleine Insel geflüchtet. Als letzter der angelsächsischen Könige Britanniens hat er sein Reich an die Wikinger verloren, die plündernd durchs Land ziehen und die letzten Reste christlicher Kultur vernichten.

Nicht viel besser sieht es auf dem Kontinent aus. Im Westfrankenreich regiert Ludwig der Stammler, im Ostfrankenreich Karl der Dicke. Beides bemerkenswert schwache Herrscher. Aber was heißt schon "Herrscher" in Reichsresten, die von Aufständen erschüttert werden und in denen normannische Raubscharen fast nach Belieben ihre Plünderzüge durchführen. Nur nach Süddeutschland kommen sie nicht - aber dort werden in wenigen Jahren die Ungarn einfallen.

Spanien gibt es fast nicht mehr, die Muslime des Emirats von Cordoba haben die Halbinsel fast komplett erobert und führen regelmäßig Raubzüge bis nach Südfrankreich. Auch Italien ist nur noch ein Restposten, im Süden von den Muslimen erobert, der Rest von ihren Überfällen gezeichnet.

Nach allen vernünftigen Maßstäben ist das "christliche Abendland" erledigt. Es ist nur noch die Frage, wie lange die Reste noch überleben bevor sie von den diversen Eroberern aufgeteilt werden.

Wenn man also die Frage stellt, welche Zivilisation zu diesem Zeitpunkt das Potential hat, 1000 Jahre später die ganze Welt militärisch, wirtschaftlich und kulturell zu dominieren, dann muß sich wohl nach anderen Kandidaten umschauen.

Zum Beispiel nach Byzanz, diese reiche Großmacht im östlichen Mittelmeer, die unter Basileos I eine Blütezeit erlebt.
Oder nach Bagdad, von wo die Abbasiden die muslimische Welt beherrschen.
Oder doch nach China unter der Tang-Dynastie, wahrscheinlich die mit Abstand reichste und bevölkerungs-stärkste Zivilisation dieser Zeit.

Aber es gibt auch andere Kandidaten: Die Mayas in Zentralamerika, die Khmer in Südostasien, die Japaner mit ihrer "goldenen Hainan-Zeit", vielleicht das Reich Gana in Westafrika. Jedes dieser Reiche ist besser organisiert und hat größere Städte als das randständige Europa.

Aus der Perspektive des Jahres 878 ist völlig unverständlich, wie sich die weitere Weltgeschichte dann ergeben hat.

Denn Alfred der Große schafft es, von seinem Sumpfversteck aus den angelsächsischen Widerstand zu organisieren und die Wikinger zu besiegen. Im West- und Ostfrankenreich werden die unfähigen Karolingerreste von tatkräftigen Herrschernfamilien wie den Capetingern und den Ottonen abgelöst. Ihnen gelingt es, ihre Reiche militärisch zu verteidigen und innerlich zu stabilisieren.

Und vor allem: Die christliche Kultur erweist sich als attraktiv genug, um die eben noch feindlichen Wikinger zu überzeugen. Nicht nur in den schon vorher christlichen Gebieten Englands und Frankreichs - sondern auch im heimatlichen Skandinavien selber. Und Otto der Große schafft es, auch Ungarn, Polen und Tschechen zu christianisieren und in den europäischen Völkerverband zu integrieren.

Und damit erst, nicht schon bei Karl dem Großen, ist die Familie komplett. Die Germanen, die Romanen, die Westslawen, die Ungarn, sie bilden ab dem 10. Jahrhundert einen gemeinsamen Kulturraum, mit Latein als gemeinsamer Bildungssprache, mit einer gemeinsamen Religion, mit der gemeinsamen politischen Struktur Kaisertum und Papsttum - auch wenn es nie einen zentralen Herrscher geben wird.

Und sie fangen an, gemeinsam nach außen zu gehen.
Die Reconquista Spaniens ist eine europäische Gesamtaufgabe. Ritter von Skandinavien bis Schlesien, von Schottland bis Schwaben wallfahren nach Santiago de Compostela, dem nach Rom dominierenden Wallfahrtsort. Und hängen üblicherweise einige Jahre dran, stellen sich in den Dienst der diversen spanischen Könige um Mauren zu bekämpfen. Ohne diese beständigen Verstärkungen wären die kargen nördlichen Randregionen Spaniens nie in der Lage gewesen, die ganze iberische Halbinsel zurückzuerobern.
In ähnlicher Weise erobern die französischen Normannen Sizilien von den Mauren zurück, die Deutschordensritter erobern das Baltikum.
Und natürlich das große Projekt der Kreuzzüge, später die (fast) gemeinsame Türkenabwehr.

Die Reformation spaltet die europäische Glaubensgemein-schaft, die Erfindung des Nationalstaats sorgt für heftige Konflikte. Aber grundsätzlich ist die kulturelle Abgrenzung dieses Europas immer noch die des Mittelalters. Rußland macht seit 300 Jahren mit in Europa - ist aber nie richtig "Mitglied" geworden. Und auch die erst sehr spät dazugestoßenen Balkanstaaten mit ihrer orthodoxen Prägung fremdeln immer noch.

Trotzdem glaube ich, daß die europäische Völkergemeinschaft einige Staaten Erweiterung über ihren eigentlichen, seit dem Mittelalter etablierten Kern verkraften kann. Aber nur in föderaler Organisation. Einen gemeinsamen Herrscher wird es auch künftig in Europa nie geben können.
R.A.



© R.A.. Für Kommentare bitte hier klicken. Abbildung: "Europa auf dem Stier" von Hendrik van Balen (1573 - 1632). Gemeinfrei, da das Copyright erloschen ist.