17. November 2011

Die CDU rückt nach links. Warum verliert sie dadurch nicht Wähler an die FDP? Ein Paradox, eine These. Und eine Hoffnung

Die CDU positioniert sich derzeit so weit links wie noch nie in ihrer Geschichte. Die politische Grund-haltung der Sozialausschüsse, die unter Adenauer ebenso wie unter Helmut Kohl am linken Rand gestanden hatten, ist in dieser Partei Mainstream geworden.

Nicht erst der Parteitag von Leipzig hat das gezeigt. Vom Atomausstieg über den Mindestlohn bis zur Abschaffung der Hauptschule bietet die CDU heute das Bild einer Partei der linken Mitte; etwa auf der Linie der SPD der sechziger Jahre, als Willy Brandt und Karl Schiller, Helmut Schmidt und Georg Leber deren maßgebliche Männer waren.

Wenn eine Partei ihre Position verschiebt, dann macht sie Platz. Die SPD hat das schmerzlich erfahren, als sie mit der Agenda 2010 in Richtung Mitte rückte und damit auf der Linken Raum freigab, den die WASG besetzte; damit begann der Aufstieg der Kommunisten im wiedervereinigten Deutschland. Wem macht die CDU mit ihrem Linksruck Platz?

Eigentlich müßte es die FDP sein. Aber paradoxerweise profitiert die FDP nicht nur nicht von der Linksbewegung der CDU, sondern das Gegenteil ist der Fall: In der aktuellen Forsa-Umfrage ist die FDP auf 2 Prozent gefallen; die ebenfalls gestern publizierte Umfrage von Allensbach sieht sie bei 4,5 Prozent.

Was ist da los? Bemerkenswert ist zweierlei: Das Verhalten der Union in dieser Koalition und zweitens das Verhalten der Wähler gegenüber der FDP.



Bemerkenswert ist, daß die Union ihren Linksschwenk vornimmt, während sie sich in einer Koalition mit der FDP befindet.

Denn es ist die Regel, daß eine Partei innerhalb einer Koalition ihre Schwerpunkte in Richtung auf den Koalitionspartner verlagert. In der sozialliberalen Koalition stand die FDP weiter links als zuvor in der Koalition unter Konrad Adenauer und danach in der Koalition Helmut Kohls. Ebenso war die SPD in dieser sozialliberalen Zeit mehr zur Mitte hin orientiert als dann später, als sie mit den Grünen koalierte.

Die Union hatte sich in der Großen Koalition von 2005 bis 2009 ganz analog nach links bewegt; auf ihren Partner SPD zu. Man konnte die vernünftige Erwartung haben, daß sie sich ab 2009, nun zusammen mit der FDP regierend, wieder zur Mitte hin bewegen würde.

Das Gegenteil ist eingetreten. Die Union regiert zusammen mit den Liberalen und entwickelt sich zugleich programmatisch so, als regiere sie mit den demokratischen Sozialisten der SPD.



Wie reagieren jene Wähler darauf, die im September 2009 der bürgerlichen Koalition mit 332 von 622 Sitzen eine klare Mehrheit gegeben haben?

Sie hatten diese Koalition ausdrücklich gewollt; was gerade auch in dem sensationellen Ergebnis der FDP von 14,6 Prozent der Stimmen zum Ausdruck gekommen war. Sie waren ein Votum nicht nur für die FDP als Partei gewesen, sondern auch für die Koalition der beiden bürgerlichen Parteien. Wer damals die FDP wählte, der wollte eindeutig keinen Linksschwenk der Union, verbunden mit einer erneuten Großen Koalition. Die FDP sollte das liberale Korrektiv sein, der Garant für eine zur Mitte hin orientierte Union.

Angesichts des seitherigen Linksdrifts der Union hätte man folglich erwarten sollen, daß nicht nur die fast 15 Prozent der Wähler der FDP die Treue halten, die sie 2009 gewählt haben; sondern daß jetzt zu ihr weitere Wähler stoßen, die mit dem Linkskurs der CDU nicht einverstanden sind. Das Korrektiv wird heute dringender benötigt, als man es im September 2009 vorhersehen konnte. Die FDP müßte einen Höhenflug erleben.

Nichts davon, bekanntlich. Nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat eine Partei innerhalb von kaum mehr als zwei Jahren nach Wahlen rund 70 bis 80 Prozent ihrer Wähler verloren, wie das der FDP mit ihrem Sturz von fast 15 Prozent auf 2 bis 4,5 Prozent widerfahren ist.

Wie konnte es dazu kommen? Ich möchte eine These zur Diskussion stellen. Sie ist, wie die meisten Thesen in diesem Bereich, nicht beweisbar. Sie erscheint mir aber plausibel. Sie setzt das fort, was ich in früheren Artikeln zu diesem Thema geschrieben habe; Sie finden diese hier zusammengestellt.



Zunächst: Strukturelle Faktoren scheiden als Erklärung aus.

Die Zusammensetzung der Wählerschaft, die sozialen Milieus, die Grundüberzeugungen der Bürger sind heute nicht anders als vor zwei Jahren. Noch immer gilt beispielsweise das, was Detmar Döring von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit nach den Wahlen von 2009 konstatiert hat (siehe "Gesellschaftliche Mitte" vs. "linke Bürgerlichkeit". Die Chance der FDP; ZR vom 11. 10. 2009):
Es gibt eine demokratische Mehrheit für Reformen und gegen das "Aussitzen". Wir haben es mit einer gesellschaftlichen Mitte zu tun, die bereit ist, Deutschland wirtschaftlich vorwärtszubringen, wenn man sie nur lässt.
Dasselbe gilt für den Einfluß der Medien. Daß diese überwiegend die FDP unfair behandeln, ist immer wieder zu beobachten (siehe beispielsweise "Die Aufgabe von Panorama ist es, alle Parteien kritisch zu begleiten". Agitprop gegen die FDP, Methode Karl-Eduard von Schnitzler; ZR vom 25. 2. 2010). Aber das war vor den Wahlen von 2009 nicht anders als heute; und es hat den Wahlerfolg der FDP nicht verhindert.

Wenn die Ursachen nicht struktureller Art sind, dann müssen sie funktionell sein. Sie liegen offenbar in einer Dynamik, die - innerhalb der gegebenen Strukturen, die heute so sind wie bei den Wahlen 2009 - zu einer ganz anderen Beurteilung der FDP durch den Wähler geführt hat als damals; und die zugleich der CDU die Möglichkeit eröffnet hat, sich als eine zweite Sozialdemokratie zu positionieren, ohne dafür die Strafe zu erhalten, daß ihre liberalen und konservativen Wähler scharenweise zur FDP abwandern.



Dynamische Entwicklungen, die sich sozusagen nicht um die sozialen Strukturen kümmern, spielen eine immer größere Rolle; nicht nur im politischen System der Bundesrepublik. Im gegenwärtigen Vorwahlkampf in den USA beispielsweise läßt sich Ähnliches beobachten: Kandidaten werden von Stimmungen nach oben getragen; ebenso schnell kann sich die Stimmung wieder gegen sie wenden, wie es beispielsweise Rick Perry erfahren mußte (siehe Perry? Vorbei. Cherchez la femme!; ZR vom 14. 10. 2011).

Die "Parteienbindung" nimmt ab, sagen dazu die Politologen. Man wählt eine Partei seltener aus Überzeugung oder gar aufgrund familiärer Tradition; so, wie einst in der Arbeiterschaft des Ruhrgebiets "man SPD war", und wie man im Hochstift Paderborn in der Weimarer Republik das Zentrum und dann in der Bundesrepublik die CDU wählte.

Immer mehr gleicht die politische Wahl vielmehr der Entscheidung für ein Konsumgut: Man sieht sich die Angebote an, vergleicht und entscheidet sich dann für dasjenige Teil, das am ehesten den eigenen Vorstellungen entspricht; das über die Features verfügt, die man gern hätte.

Und welche Features hätte man nun gern bei Parteien und Politikern? Es sind zunehmend - und damit bin ich bei meiner These - altmodische Eigenschaften, "Sekundärtugenden": Verläßlichkeit, Kompetenz, eine unaufgeregte Durchsetzungs-fähigkeit.

In der heutigen Mediendemokratie sind Politiker in Gefahr, als Showstars präsentiert und von den übermächtigen Medien als solche nach Gutdünken behandelt zu werden.

Inzwischen bietet allein die ARD fast an jedem Abend eine politische Talkshow an. Bundestagspräsident Norbert Lammert hat kürzlich gesagt, warum er sich solchen Shows verweigert: Weil man dort keinen Gedanken entwickeln kann, ohne vom Moderator unterbrochen zu werden; ohne daß ein abrupter Einspieler ins Werk gesetzt wird.

Der Politiker ist auf dem Bildschirm nicht jemand, dessen Meinung und dessen Kenntnisse man den Zuschauern vermitteln möchte; sondern er ist eine Komponente innerhalb des Konzepts, nach dem eine solche Show funktioniert. Der Politiker spielt die Rolle, die ihm das jeweilige Drehbuch zugedacht hat; geführt an der mal langen, mal kurzen Leine des Moderators und seiner Redaktion.

Die Politiker, die das mitmachen, leiden nicht nur an dem, was im Englischen overexposure heißt - sie verschleißen sich durch ständige Präsenz. Sondern der Zuschauer weiß auch ihre Rolle als Mitwirkende, die nach der Pfeife der Journalisten tanzen, richtig einzuschätzen.

Bis auf Diejenigen, die - wie Lammert - nicht mitmachen; wie Schäuble, wie die Kanzlerin. Wie bei der SPD Peer Steinbrück und Frank Steinmeier. Politiker wie sie verkörpern diese Sekundärtugenden, die umso mehr gefragt sind, je mehr die Mehrheit ihrer Kollegen sich im Rollenfach des Showstars einrichtet: Man nimmt ihnen ab, daß es ihnen um die Sache geht und nicht um Taktik und Selbstdarstellung. Gerade in einer von der Show dominierten Politik gewinnt altmodische Seriosität wieder an Bedeutung.



Zurück zur FDP: Solche Leute von charakterlichem Gewicht hat diese Partei auf Bundesebene heute so gut wie nicht: Männer wie einst Gerhart Baum und Hans-Dietrich Genscher, wie Burkhard Hirsch und wie Otto Graf Lambsdorff, den Sie auf der Titelvignette dieses Artikels sehen. Die einen seinerzeit mehr links, die anderen mehr rechts in der FDP stehend. Aber alle die Sekundärtugenden der Kompetenz, der Verläßlichkeit, der unaufgeregten Durchsetzungsfähigkeit verkörpernd.

Diese Eigenschaften haben die Spitzenpolitiker der FDP nach dem Wahlerfolg von 2009 auf eine geradezu spektakuläre Weise vermissen lassen. Daraus hat sich eine Dynamik entwickelt, die Ähnlichkeit mit dem Kampf eines im Moor Festsitzenden hat, der mit jedem Versuch, sich zu befreien, weiter in den Sumpf rutscht: Je mehr die FDP versucht, diese Tugenden unter Beweis zu stellen - sich als stark, als verläßlich, als kompetent zu präsentieren -, umso mehr durchschaut der Wähler das als verzweifelte Taktik und entzieht der FDP erst recht seine Gunst.

Ich habe diesen bedrückenden Niedergang der FDP immer wieder beschrieben und zu analysieren versucht; und im Kern bin ich immer wieder zum selben Ergebnis gekommen:

Der Aufstieg der FDP im Lauf des Jahres 2009 begann mit dem Wahlsieg (16,2 Prozent) in Hessen im Januar 2009; Jörg-Uwe Hahn hatte ihn errungen, weil seine hessische FDP sich als einzige Partei in den Wirren des Jahres 2008 konsequent an ihre Wahlaussage gehalten hatte, keine Koalition mit der SPD einzugehen (siehe Dreikönigstreffen. Aufstieg und Fall der FDP. Wie kam es eigentlich zu dem glänzenden Wahlergebnis von 2009?; ZR vom 4. 1. 2011).

Verläßlichkeit, Kompetenz, eine unaufgeregte Durchsetzungs-fähigkeit - diese Eigenschaften verkörperte Hahn; und für sie wurde die FDP in Hessen gewählt. Das trug bis in den Wahlkampf zu den Bundestagswahlen hinein.

In seiner Rede auf dem Parteitag von Hannover im Mai 2009 beschwor Guido Westerwelle solche Werte und lieferte gewissermaßen als Unterpfand für die Verläßlichkeit der FDP das bindende Versprechen von Steuersenkungen (gegenüber dem "Spiegel" am 17. August 2009: "Ich werde keinen Koalitionsvertrag unterschreiben, in dem nicht ein neues, faires Steuersystem verankert ist").

Bekanntlich scherte Westerwelle sein Geschwätz von gestern schon zwei Monate später nicht mehr. Er unterschrieb einen Koalitionsvertrag, in dem keineswegs ein neues, faires Steuersystem verankert war. Er verzichtete sogar darauf, für die FDP, deren ganzer Wahlkampf auf die Steuerpolitik fokussiert gewesen war, auch nur das Finanzministerium zu fordern (siehe Barack Westerwelle und der Niedergang der FDP; ZR vom 23. 12. 2010).

Damit war den meisten Wählern klar: Es war alles nur Show gewesen. And the show went on.

Es folgte ein "Befreiungsschlag" nach dem anderen; beginnend mit Westerwelles Wort von der "spätrömischen Dekadenz" im Februar 2010, als er jede staatsmännische Contenance aufgab und damit sein Ansehen als Außenminister ruinierte. Damals, noch kein halbes Jahr nach dem Wahltriumph, waren die Umfragewerte der FDP bereits drastisch abgesackt, wenn auch für heutige Verältnisse noch paradiesisch (sie lagen bei 8 bis 9 Prozent).

Dann versuchte man es mit dem Wechsel in der Parteiführung; im Mai dieses Jahres. Der letzte dieser zunehmend verzweifelten Versuche war jetzt kürzlich eine mühsam gegen die Union durchgesetzte kleine Steuersenkung. Ihre Wirkung verpuffte, weil das, was die FDP nun endlich erreicht hatte, gemessen an dem Versprechen Westerwelles vor den Wahlen eine petitesse war; der Berg hatte zwei Jahre gekreißt und dann ein Mäuslein geboren.



Das Fazit: Es ist nicht so, daß die CDU mit ihrer Linksbewegung nicht Raum für die FDP schaffen würde. Nur kann sie diesen Raum nicht ausfüllen, die heutige FDP. Sie kann es nicht, weil man bei ihr die Verläßlichkeit, die Kompetenz, das Durchhaltevermögen vermißt, die dafür erforderlich wären.

Man mag ihr abnehmen, daß sie weiter liberale Werte vertritt - aber kaum noch jemand traut ihr zu, auch nach liberalen Werten zu handeln. Statt der kollektiven Besoffenenheit des Atom-Ausstiegs zu widerstehen, hat die FDP selbst im Narrenschiff Platz genommen (siehe Logbuch Narrenschiff: Neuer Kurs der FDP; ZR vom 29.3. 2011). Noch nicht einmal gegen eine der freien Wirtschaft vom Staat aufgezwungene Frauenquote hat die Partei der Freiheit ernsthaft Position bezogen (siehe Die FDP und die Frauenquote: Eine vertane Chance; ZR vom 2. 2. 2011).

Weitere geschmeidige Anpassungen dieser Art an den Zeitgeist werden die FDP nur immer mehr in den Niedergang führen; warum sollte jemand eine Partei noch wählen, die alles nachmacht, was gerade angesagt ist? Dann entscheidet man sich doch besser gleich für das jeweilige Original; oder geht gar nicht zur Wahl.

Die Rettung der FDP liegt nach meiner Überzeugung allein darin, daß sie wieder Gewicht, Ernsthaftigkeit, Verläßlichkeit und eine eigenständige Kompetenz erlangt. Ihre Wähler wird sie nur dann zurückgewinnen, wenn man ihr wieder abnimmt, daß sie Entscheidungen aus Überzeugung trifft und nicht aus taktischen Erwägungen oder um des schieren politischen Überlebens willen. Von wem man glaubt, daß er Entscheidungen zwecks Überlebens trifft, der überlebt gerade nicht.

In diesem Kontext sehe ich den von Frank Schäffler zusammen mit Anderen initiierten Mitgliederentscheid in der FDP über den Europäischen Sicherheitsmechanismus ESM, der ein permanenter "Rettungsschirm" werden soll.

Schäfflers "Liberaler Aufbruch" ist es, welcher der FDP die verlorene Glaubwürdigkeit zurückbringen könnte (siehe "Der Staat darf keine Glücks- und Wohlfahrtsvorstellungen per Gesetz – und das heißt per Zwang – durchsetzen". Ein liberaler Aufbruch; ZR vom 13. 9. 2010; sowie "Die individuelle Freiheit nach vorn stellen". Frank Schäffler über den "Liberalen Aufbruch"; ZR vom 20. 9. 2010).

Es geht aus meiner Sicht primär gar nicht darum, ob der Mitgliederentscheid Erfolg hat. Entscheidend ist, daß es mit dem "Liberalen Aufbruch" eine Gruppe in der FDP gibt, die glaubhaft liberale Prinzipien vertritt; ohne das Herumtaktieren, das die FDP in ihren jetzigen Niedergang geführt hat. Nur wenn Leute wie Frank Schäffler, wie Jörg-Uwe Hahn in der FDP das Heft in die Hand bekommen, hat diese Partei nach meiner Überzeugung noch eine Zukunft.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Otto Graf Lambsdorff auf dem Bundesparteitag der FDP 1975 in Mainz. Bundesarchiv, B 145 Bild-F046792-0029 / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA; unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Germany-Linzenz freigegeben.