11. November 2011

Europas Krise (4): Der Niedergang des Abendlandes. Ende einer Epoche. Und jetzt?


Als vor fast einem Jahrhundert Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlandes" erschien, löste das zweibändige Werk ähnlich heftige Diskussionen aus wie in unseren Tagen Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab". Damals wie heute haben erheblich mehr Menschen über das betreffende Buch diskutiert, als es Leser gefunden hat; damals wie heute kreiste die Diskussion um Schlagwörter und nur selten um das, was der Autor geschrieben hatte.

Für den Fall Sarrazin habe ich das im vergangenen Jahr im einzelnen dokumentiert (siehe die Serien Sarrazin auf dem Prüfstand der Wissenschaft und Notizen zu Sarrazin). Bei Spengler schien in den zwanziger Jahren fast allen, die über ihn diskutierten, klar zu sein, was sein Buch enthielt: Die Prophezeihung, daß das Abendland untergehen werde.

Aber Spengler sah sich als Geschichtsphilosoph, nicht als Prophet. Und mit "Untergang" meinte er nicht den Weg in eine Katastrophe. In seinem Aufsatz Pessimismus? von 1921 sprach er von einem "beinahe allgemeine[n] Mißverständnis, dem mein Buch bisher ausgesetzt war" und erläuterte, was er tatsächlich mit dem Begriff "Untergang" gemeint hatte:
... es gibt Menschen, welche den Untergang der Antike mit dem Untergang eines Ozeandampfers verwechseln. Der Begriff einer Katastrophe ist in dem Worte nicht enthalten. Sagt man statt Untergang Vollendung, ein Ausdruck, der im Denken Goethes mit einem ganz bestimmten Sinn verbunden ist, so ist die "pessimistische" Seite einstweilen ausgeschaltet, ohne daß der eigentliche Sinn des Begriffs verändert worden wäre.
Nicht mit einem "Untergang" à la Untergang der Titanic rechnete Spengler, sondern er war der Meinung, daß das Abendland in die Spätphase eingetreten sei, die jede Kultur irgenwann erreicht; "Zivilisation" war sein Begriff dafür. Eine Phase nicht einer plötzlichen Katastrophe, sondern des allmählichen, sich über Jahrhunderte erstreckenden Niedergangs.

Er wollte nicht als Pessimist gesehen werden, dieser Mann einer pathetischen, oft suggestiven Pseudowissenschaft, dieser glänzende Stilist und unklare Denker. Er sah sich eher als einen heroischen Fatalisten.



Spenglers Erfolg in den zwanziger Jahren rührte daher, daß damals in der Tat eine Welt zusammengebrochen war. Die Vorstellung von einem Untergang des Abendlandes entsprach der Zeitstimmung.

Das bisherige System überwiegend monarchistischer Staaten gab es nach 1918 nicht mehr; stabile Demokratien hatten sich nur in wenigen Ländern etablieren können. Spengler hatte, sich an der Parallele zur Spätantike orientierend, ein Zeitalter der "Cäsaren" heraufdämmern sehen. Ja nicht ganz falsch; die neuen Cäsaren, die bald danach auftraten, hießen Mussolini und Franco, Stalin und Hitler, Metaxas und Horthy.

Daß alle diese dikatorischen und autoritären Regimes bald untergehen würden, hat Spengler freilich nicht vorhergesehen; viele 1945, die letzten 1989.

Im Jahr 1990 konnte man mit guten Gründen der Auffassung sein, daß Spengler radikal geirrt hatte.

Nach der Befreiung Osteuropas von den letzten der Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts sah es glänzend aus für Europa. Ein Westeuropa, das unter dem Dach der EU immer mehr zusammengewachsen war. Ein Osteuropa, das sich nun anschließen würde. Ein demokratisches, ein kapitalistisches, also ein freiheitliches Europa war im Entstehen; so schien es.

Das war die Stimmung, in der im Februar 1992 der Vertrag von Maastricht geschlossen wurde, gefolgt 1995 vom Schengener Durchführungsabkommen. Mitte der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts schien Europa von dem von Spengler erwarteten Niedergang weit entfernt zu sein. Ganz im Gegenteil kündigte sich ein neues Europäisches Zeitalter an.

Oder einfach die Fortsetzung des Europäischen Zeitalters?



Bei Stratfor hat jetzt George Friedman, aus meiner Sicht neben Charles Krauthammer der scharfsinnigste politische Analytiker der Gegenwart, ein düsteres Bild von der Zukunft Europas gezeichnet.

Seine Kernthese ist, daß das Europäische Zeitalter um 1500 begann und 1991 endete. Es begann mit der Expansion nach der Entdeckung Amerikas, die Europa zur globalen Vormacht erhob; die seine Kultur zur Weltkultur machte. Es endete mit dem Untergang des letzten europäischen Großreichs, der Sowjetunion.

In diesen rund 500 Jahren dominierte das Abendland die Welt. Damit ist es vorbei; sehr wahrscheinlich für immer. So sieht es Friedman; und mir scheint, er sieht es richtig.

Vor 1500 war die Kultur des Abendlandes eine unter den Hochkulturen gewesen; in keinerlei Hinsicht - nicht wirtschaftlich, nicht militärisch, nicht in den Künsten und nicht in den Wissenschaften - anderen Hochkulturen, etwa der islamischen, der indischen oder der chinesischen, überlegen. Unsere Kultur erwarb dann ihre Überlegenheit, dank der Renaissance und dann später der Aufklärung. Jetzt verlieren wir sie wieder.

Die anderen haben von uns gelernt. China, Indien, Südamerika, vielleicht die islamische Welt übernehmen unsere Errungenschaften, assimilieren sie aber an ihre eigene Kultur. Jedenfalls China und Indien, wahrscheinlich Brasilien, vielleicht bald andere holen mit gewaltigen Schritten auf.

Sie werden bald alles das können, was wir im Abendland können. Ihnen fehlt aber unsere Saturiertheit; diese durch die deutschen Sozialdemokraten und Grünen beispielhaft repräsentierte Mischung aus Anspruchsdenken und mangelnder Leistungsbereitschaft. Es fehlt ihnen auch deren nachgerade perverser Altruismus, der die Interessen der anderen über die Interessen der eigenen Nation stellt; der die Umwelt für wichtiger hält als den wissenschaftlich-ökonomischen Fortschritt. Also ist abzusehen, daß sie uns bald überlegen sein werden, diese alten und nun wieder jungen Hochkulturen.



Europa befindet sich nicht in einem absoluten Niedergang. Wir sind weiterhin wirtschaftlich stark; wir sind gesellschaftlich, wir sind mit unserer Demokratie und unserem Rechtsstaat weiter ein Vorbild für die Welt. Aber das war auch das antike Griechenland, als es nach Alexanders Scheitern innerhalb weniger Jahrhunderte vom Weltreich zu einer abgelegenen Provinz des Römischen Imperiums geworden war; berühmt dann vor allem für den Export von Philosophen-Sklaven.

Wir befinden uns in einem relativen Niedergang. Unsere Leistungsfähigkeit geht nicht in absoluten Zahlen zurück, aber in Relation zu derjenigen der anderen (siehe Wie entwickelt sich der deutsche Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt?; ZR vom 8. 11. 2011).

Europa ist in die Enge getrieben. Schließt man sich nicht stärker zusammen, wenn man in die Enge getrieben ist? Manchmal. Manchmal führt eine Krise aber auch nur zu verschärften Verteilungskämpfen.

Das ist es, was wir in diesen Tagen erleben. Die Krise Europas existiert seit Jahren. Ich habe sie immer einmal wieder thematisiert (Links zu diesen Artikeln finden Sie in "Die EU schadet der Europa-Idee". Findet Roman Herzog; ZR vom 15. 1. 2010). Jetzt scheint diese Einsicht auch die Kommentatoren unserer Medien erreicht zu haben. Thomas Kirchner heute in sueddeutsche.de:
Es ist so faszinierend wie beängstigend, welche Beschleunigungskraft Krisen innewohnt. Innerhalb von drei Jahren haben sich die Verhältnisse in der Europäischen Union schneller verändert als je zuvor. Das vereinigte, integrierte Europa ist Vergangenheit. Um es mit Joschka Fischer zu sagen: Vergesst diese EU.
In der Tat hat gerade die Griechenland-Krise, die an der Oberfläche - Stichwort: Transferunion - ein engeres Zusammenwachsen Europas zu signalisieren scheint, mit unerbittlicher Klarheit sichtbar gemacht, daß es kein geeintes Europa gibt.

Es gibt nach wie vor ein Europa der Nationalstaaten, die ihren eigenen Interessen folgen. Das ist nichts Negatives; schließlich sind die jeweiligen Regierungen auf das Wohl der Nation vereidigt und nicht auf das Wohl Europas. Eine deutsche Kanzlerin, welche die Interessen Europas über diejenigen Deutschlands stellen würde, müßte sich fragen lassen, wie sie es denn mit ihrem Amtseid hält.

Aber die Träume von 1989 sind damit eben ausgeträumt. Die naive Vorstellung von einem Europa, in dem alle ganz lieb miteinander sind, jeder von Freunden umzingelt und alle gemeinsam eine Weltmacht des Friedens bildend - dieses infantile Wunschdenken ist zerstoben.



Was bedeutet das für den von Oswald Spengler erwarteten Niedergang des Abendlandes? Nicht unbedingt etwas Schlechtes.

Ein europäischer Staat aus 27 (bald vielleicht noch ein paar mehr; Serbien beispielsweise scharrt mit den Hufen) Bundesstaaten wäre ein Monstrum geworden. Nicht fähig zum Überleben; erstickend an einer Bürokratie, die aber andererseits allein in der Lage gewesen wäre, dieses Wahnsinnsgebilde zusammenzuhalten. So, wie das Zarenreich, das Habsburger Reich, das Reich der Osmanen, allein durch Bürokraten und Militärs zusammengehalten wurden (siehe Zerfällt Europa?; ZR vom 3. 11. 2011).

Wenn dieser Wahnwitz eines europäischen Monstergebildes jetzt beerdigt wird, sollte man an seinem Grab keine Träne weinen.

Was kommen wird, weiß niemand. Vielleicht wird es Bündnisse von Staaten geben, die ähnliche Traditionen und ähnliche Interessen haben (siehe Deutschland - Verbündeter Rußlands oder Vormacht Europas? Die geteilten Staaten von Europa; ZR vom 30. 6. 2011).

Vielleicht werden sich die Staaten Europas wieder mehr auf ihre nationalen Traditionen besinnen; miteinander kooperierend, ohne daß man sich aber von Brüssel regieren läßt. Vielleicht kommt es auch zu einer ganz anderen Entwicklung. Im schlimmsten Fall wird Deutschland wieder einmal versuchen, Europa zu dominieren. Krisen haben es an sich, daß nur Scharlatane meinen, sie könnten ihren Ausgang vorhersagen.

Und der Niedergang des Abendlandes? Er ist so oder so im Gang. Das europäische Zeitalter ist zu Ende, und mit ihm das amerikanische; das Zeitalter dieses Ablegers unserer abendländischen Kultur.

Das ist kein Grund zum Jammern. Es ist allerdings ein Grund zum Realismus. Ein Europa, das immer noch mit erhobenem Zeigefinger meint, als praeceptor mundi auftreten zu können, macht sich lächerlich.

Unser Niedergang muß, wie Spengler es anmerkte, keine Katastrophe sein. Nur müssen wir so bescheiden werden, wie es einer Kultur im Niedergang zusteht.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Abbildung: "Europa auf dem Stier" von Hendrik van Balen (1573 - 1632). Gemeinfrei, da das Copyright erloschen ist.