2. November 2011

Marginalie: Erdoğans Muttersprache. Die Sprache ist verräterisch

In seinem Interview mit "Bild" hat der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan eine bemerkenswerte Formulierung gefunden:
"Bild": Bei Ihrem letzten Besuch wurden Sie scharf kritisiert, weil Sie die Türken in Deutschland aufforderten, ihren Kindern zuerst Türkisch und dann Deutsch beizubringen. Wie sehen Sie das jetzt?

Erdoğan: Was ich sagte, ist nur eine sprachwissenschaftliche Erkenntnis. Wenn ein Kind eine neue Sprache erlernen soll, muss es die eigene Sprache gut können. Andernfalls kann man keine zweite Sprache erlernen.
Das ist, in a nutshell, die Überzeugung Erdoğans: Wessen Vorfahren einmal irgendwann aus der Türkei nach Deutschland eingewandert sind, dessen "eigene Sprache" ist Türkisch. Er mag die deutsche Staatsangehörigkeit haben und insofern Deutscher sein (das sagt Erdoğan in einer anderen Antwort), aber seine Identität bleibt die eines Türken. Und wenn es seine Großeltern waren, bald vielleicht seine Urgroßeltern, die aus der Türkei nach Deutschland einwanderten.

Man sollte sich, auch wenn jetzt anläßlich des fünfzigsten Jahrestags des ersten Anwerbeabkommens viele Festreden geschwungen werden, keine Illusionen machen: Erdoğans Vorstellung vom Status der Einwanderer aus der Türkei ist mit den Interesssen Deutschlands unvereinbar. Er will nicht, daß die Nachkommen der Einwanderer Deutsche werden; sondern sie sollen für alle Zeiten Türken bleiben. Eine nationale Minderheit also in Deutschland, die in Anbetracht der demographischen Entwicklung schnell wächst. Eine türkische Besiedlung Deutschlands; nicht eine Einwanderung aus der Türkei nach Deutschland.

Wie sehr Erdoğans Konzept von dem abweicht, was das Einwanderungsland Deutschland akzeptieren kann, mag man erkennen, wenn man seine Vorstellungen auf, sagen wir, die deutschen Einwanderer in die USA überträgt. Die Kanzlerin müßte dann bei dem US-Präsidenten vorstellig werden mit der Forderung, daß die Nachkommen deutscher Einwanderer über alle Generationen hinweg in Deutsch unterrichtet werden, bevor sie Englisch lernen dürfen. Sie müßte Obama klarmachen, daß sie Deutsche bleiben, auch wenn es der Ur-Uropa war, der sich einst in Hamburg nach Amerika einschiffte.

Die Sprache kann verräterisch sein. Hier ist es nicht Erdoğans Sprache, sondern das, was Erdoğan über die Sprache sagt
Zettel

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