Von Hans-Magnus Enzensberger habe ich zuerst 1957 etwas gehört. Da war er 27 und ich Schüler. Das "gehört" ist wörtlich zu nehmen. Ich habe ihn, oder vielmehr sein Werk, über Mittelwelle gehört, unter kräftigstem Rauschen, weil wir am Rand des Sendegebiets des damaligen Süddeutschen Rundfunks wohnten.
Das Werk war ein "Radio-Essay" in Gestalt eines Dialogs, und mit ihm wurde der junge Autor schlagartig bekannt. Der Titel war "Die Sprache des 'Spiegel'. Moral und Masche eines Magazins". Der Inhalt war ebenso intelligent wie frech. Enzensberger erläuterte und verteidigte gegenüber einem fiktiven Gesprächspartner eine Reihe von Thesen über den "Spiegel", zum Beispiel "Das 'deutsche Nachrichten-Magazin' ist kein Nachrichten-Magazin" und "Der 'Spiegel'- Leser wird nicht orientiert, sondern desorientiert".
Daß Enzensberger damit zum bekannten Autor wurde, lag nicht am Süddeutschen Rundfunk, sondern daran, daß Rudolf Augstein die Souveränität hatte, die Rechte an dem Text zu erwerben und ihn, nur unwesentlich gekürzt, im "Spiegel" abzudrucken. Unkommentiert, bis auf ein dem Abdruck vorangestelltes Motto, eine Zeile aus einem Enzensberger- Gedicht. Sie begann mit "meine weisheit ist eine binse". So subtil ging es damals im "Spiegel" zu.
Der Essay war brillant, und ich mußte - damals ein begeisterter, ein nachgerade süchtiger "Spiegel"- Leser - zähneknirschend zugeben, daß Enzensberger mit seiner Kritik so Unrecht nicht hatte.
Wenig später erlebte ich Enzensberger auf einer Lesung des Suhrkamp- Verlags, moderiert von keinem Geringeren als Siegfried Unseld. Ein schmaler, allerliebst aussehender blonder junger Mann ging da zum Pult, die Haare kurz geschnitten und in die Stirn gekämmt; eine "Cäsar-Frisur" nannte man das damals. Dazu der Rollkragenpullover des Linksintellektuellen.
Enzensberger las aus seinem Gedichtband "die verteidigung der wölfe". (Klein zu schreiben galt damals als progressiv). Er las schön, mit dem leicht frankischen Akzent, den der gebürtige Kaufbeurer und in Nürnberg Aufgewachsene bis heute nicht abgelegt hat. Mein neben mir sitzender Schulfreund, der viel mehr von Literatur verstand als ich, fand es am Bemerkenswertesten, daß Enzensberger auch lange Gedichte "durchhalten" konnte, ohne daß ihm der lyrische Atem ausging.
In den sechziger Jahren wurde Hans- Magnus Enzensberger zu einer festen Größe des deutschen Geisteslebens. Günter Grass schrieb die großen Romane, Heinrich Böll die Erzählungen in einem Tonfall, den man damals satirisch fand, und Enzensberger vertrat die klassische Kombination von Lyrik und Essayistik.
Eine Kombination, die (Beispiele sind Heinrich Heine, Paul Valéry und Gottfried Benn) vielleicht deshalb oft vorkommt, weil das Gedicht ebenso wie der Essay nicht den langen Atem verlangt, den es braucht, einen Roman oder ein Theaterstück zu schreiben. In der Lyrik ebenso wie im Essay verdichtet sich ein Thema, werden Gedanken in konzentrierter und knapper Form in Sprache umgesetzt.
Das verlangt einen beweglichen Geist. Enzensberger hat ihn wie kein lebender deutscher Autor. Seit dem Tod von Arno Schmidt ist er der intelligenteste, der gebildetste Schriftsteller deutscher Sprache. Aber eben, ganz anders als der schwerblütig- gründliche Schmidt es war, ein Mann der ständigen geistigen Bewegung. Einer, der die Zeichen der Zeit erfaßt, bevor sie noch wirkmächtig geworden sind. Seiner Zeit deshalb immer ein paar Schritte voraus.
Schon früh hat er in den sechziger Jahren verstanden, daß eine Zeit intellektueller Unruhe im Entstehen begriffen war. Das von ihm 1965 gegründete "Kursbuch" wurde von der ersten Nummer an von dem Geist durchweht, der dann am Ende des Jahrzehnts zu eruptiven Ausbrüchen führte.
Damals sah man Enzensberger oft im Fernsehen als Teilnehmer irgendwelcher Diskussionen, in denen es um Sozialistisches ging. Er war ganz vom wirbelnden Geist dieser Jahre erfaßt; 1968/69 verbrachte er gar ein Jahr in Kuba, nachdem er eine Gastprofessur in den USA protestierend niedergelegt hatte.
Aber so sozialistisch er sich damals gab - man konnte ihm den Genossen nicht recht abkaufen. Man merkte ihm sein Unbehagen förmlich an, wenn er von zottelbärtigen Revoluzzern geduzt und aufgefordert wurde, den ganzen bürgerlichen Scheiß endlich hinter sich zu lassen und sich auf die Seite des Proletariats zu stellen.
So ernst war es Enzensberger mit seiner Parteinahme für die revolutionäre Linke dann doch nicht. Im Rückblick will es mir scheinen, daß er damals eher so etwas wie Feldforschung mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung trieb.
Richtig auf der Linken stand er wohl nie wirklich. Den Untergang des Sowjet- Reichs hat er antizipiert, als er den real existierenden Sozialismus als die "höchste Form der Unterentwicklung" charakterisierte. In den letzten Jahren war der Terrorismus, waren die "Schreckensmänner" eines seiner Themen.
Enzensberger ist keiner, der irgendwo steht. Er ist ständig in Bewegung, ständig unterwegs. Er hat in den USA und Kuba, in Norwegen und Italien gelebt; und es versteht sich, daß ein Mann seiner Intelligenz die jeweilige Landessprache alsbald beherrschte. Der promovierte Germanist befaßt sich mit Leichtigkeit und bemerkenswerten Kenntnissen auch mit Themen der Naturwissenschaften, mit Mathematik. So jemand ist viel zu neugierig, sieht viel zu sehr die vielen Seiten einer Sache, als daß er einen guten "engagierten Literaten" hätte abgeben können.
Man hat ihn den deutschen Voltaire genannt. Kein unpassender Vergleich, obwohl Enzensberger das Pathos Voltaires ganz fremd ist. Mich erinnert er am meisten an Christoph Martin Wieland; auch er beweglich, immer seiner Zeit voraus und von einer stupenden Intelligenz und Vielfalt der Interessen. Beide "leichtfüßige Greise" im hohen Alter.
Aber Enzensberger ein Greis? Jetzt geht er auf die neunzig zu. Was man mit Sicherheit nicht von ihm erwarten kann, das ist Altersweisheit.
Das Werk war ein "Radio-Essay" in Gestalt eines Dialogs, und mit ihm wurde der junge Autor schlagartig bekannt. Der Titel war "Die Sprache des 'Spiegel'. Moral und Masche eines Magazins". Der Inhalt war ebenso intelligent wie frech. Enzensberger erläuterte und verteidigte gegenüber einem fiktiven Gesprächspartner eine Reihe von Thesen über den "Spiegel", zum Beispiel "Das 'deutsche Nachrichten-Magazin' ist kein Nachrichten-Magazin" und "Der 'Spiegel'- Leser wird nicht orientiert, sondern desorientiert".
Daß Enzensberger damit zum bekannten Autor wurde, lag nicht am Süddeutschen Rundfunk, sondern daran, daß Rudolf Augstein die Souveränität hatte, die Rechte an dem Text zu erwerben und ihn, nur unwesentlich gekürzt, im "Spiegel" abzudrucken. Unkommentiert, bis auf ein dem Abdruck vorangestelltes Motto, eine Zeile aus einem Enzensberger- Gedicht. Sie begann mit "meine weisheit ist eine binse". So subtil ging es damals im "Spiegel" zu.
Der Essay war brillant, und ich mußte - damals ein begeisterter, ein nachgerade süchtiger "Spiegel"- Leser - zähneknirschend zugeben, daß Enzensberger mit seiner Kritik so Unrecht nicht hatte.
Wenig später erlebte ich Enzensberger auf einer Lesung des Suhrkamp- Verlags, moderiert von keinem Geringeren als Siegfried Unseld. Ein schmaler, allerliebst aussehender blonder junger Mann ging da zum Pult, die Haare kurz geschnitten und in die Stirn gekämmt; eine "Cäsar-Frisur" nannte man das damals. Dazu der Rollkragenpullover des Linksintellektuellen.
Enzensberger las aus seinem Gedichtband "die verteidigung der wölfe". (Klein zu schreiben galt damals als progressiv). Er las schön, mit dem leicht frankischen Akzent, den der gebürtige Kaufbeurer und in Nürnberg Aufgewachsene bis heute nicht abgelegt hat. Mein neben mir sitzender Schulfreund, der viel mehr von Literatur verstand als ich, fand es am Bemerkenswertesten, daß Enzensberger auch lange Gedichte "durchhalten" konnte, ohne daß ihm der lyrische Atem ausging.
In den sechziger Jahren wurde Hans- Magnus Enzensberger zu einer festen Größe des deutschen Geisteslebens. Günter Grass schrieb die großen Romane, Heinrich Böll die Erzählungen in einem Tonfall, den man damals satirisch fand, und Enzensberger vertrat die klassische Kombination von Lyrik und Essayistik.
Eine Kombination, die (Beispiele sind Heinrich Heine, Paul Valéry und Gottfried Benn) vielleicht deshalb oft vorkommt, weil das Gedicht ebenso wie der Essay nicht den langen Atem verlangt, den es braucht, einen Roman oder ein Theaterstück zu schreiben. In der Lyrik ebenso wie im Essay verdichtet sich ein Thema, werden Gedanken in konzentrierter und knapper Form in Sprache umgesetzt.
Das verlangt einen beweglichen Geist. Enzensberger hat ihn wie kein lebender deutscher Autor. Seit dem Tod von Arno Schmidt ist er der intelligenteste, der gebildetste Schriftsteller deutscher Sprache. Aber eben, ganz anders als der schwerblütig- gründliche Schmidt es war, ein Mann der ständigen geistigen Bewegung. Einer, der die Zeichen der Zeit erfaßt, bevor sie noch wirkmächtig geworden sind. Seiner Zeit deshalb immer ein paar Schritte voraus.
Schon früh hat er in den sechziger Jahren verstanden, daß eine Zeit intellektueller Unruhe im Entstehen begriffen war. Das von ihm 1965 gegründete "Kursbuch" wurde von der ersten Nummer an von dem Geist durchweht, der dann am Ende des Jahrzehnts zu eruptiven Ausbrüchen führte.
Damals sah man Enzensberger oft im Fernsehen als Teilnehmer irgendwelcher Diskussionen, in denen es um Sozialistisches ging. Er war ganz vom wirbelnden Geist dieser Jahre erfaßt; 1968/69 verbrachte er gar ein Jahr in Kuba, nachdem er eine Gastprofessur in den USA protestierend niedergelegt hatte.
Aber so sozialistisch er sich damals gab - man konnte ihm den Genossen nicht recht abkaufen. Man merkte ihm sein Unbehagen förmlich an, wenn er von zottelbärtigen Revoluzzern geduzt und aufgefordert wurde, den ganzen bürgerlichen Scheiß endlich hinter sich zu lassen und sich auf die Seite des Proletariats zu stellen.
So ernst war es Enzensberger mit seiner Parteinahme für die revolutionäre Linke dann doch nicht. Im Rückblick will es mir scheinen, daß er damals eher so etwas wie Feldforschung mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung trieb.
Richtig auf der Linken stand er wohl nie wirklich. Den Untergang des Sowjet- Reichs hat er antizipiert, als er den real existierenden Sozialismus als die "höchste Form der Unterentwicklung" charakterisierte. In den letzten Jahren war der Terrorismus, waren die "Schreckensmänner" eines seiner Themen.
Enzensberger ist keiner, der irgendwo steht. Er ist ständig in Bewegung, ständig unterwegs. Er hat in den USA und Kuba, in Norwegen und Italien gelebt; und es versteht sich, daß ein Mann seiner Intelligenz die jeweilige Landessprache alsbald beherrschte. Der promovierte Germanist befaßt sich mit Leichtigkeit und bemerkenswerten Kenntnissen auch mit Themen der Naturwissenschaften, mit Mathematik. So jemand ist viel zu neugierig, sieht viel zu sehr die vielen Seiten einer Sache, als daß er einen guten "engagierten Literaten" hätte abgeben können.
Man hat ihn den deutschen Voltaire genannt. Kein unpassender Vergleich, obwohl Enzensberger das Pathos Voltaires ganz fremd ist. Mich erinnert er am meisten an Christoph Martin Wieland; auch er beweglich, immer seiner Zeit voraus und von einer stupenden Intelligenz und Vielfalt der Interessen. Beide "leichtfüßige Greise" im hohen Alter.
Aber Enzensberger ein Greis? Jetzt geht er auf die neunzig zu. Was man mit Sicherheit nicht von ihm erwarten kann, das ist Altersweisheit.
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Hans-Magnus Enzensberger bei einem Besuch in Warschau, am 20. Mai 2006, fotografiert von Mariusz Kubik. Vom Autor zur Reproduktion freigegeben.