6. November 2009

Gorgasal liest ein Buch (1): Die Geschichte des Containers

Wenige Revolutionen verändern die Welt so tiefgreifend und sind doch so unbemerkt von den meisten Menschen wie die Umwälzungen, die der Container in den letzten 50 Jahren in der Seefracht gebracht hat. Wir haben uns dermaßen daran gewöhnt, Textilien aus China zu beziehen, dass den meisten erst wieder bewusst wird, dass es in Europa auch einmal eine Textilindustrie gab, wenn einer der letzten Betriebe schließt und Nachrufe in den Medien erscheinen. Ebenso wurde noch vor nicht allzu langer Zeit Elektronik in Europa und in den USA produziert. Wer erinnert sich noch an Telefunken?

All das hat sich in den letzten 50 Jahren tiefgreifend geändert. Und einer der wichtigsten Faktoren in diesem Strukturwandel, der Millionen von Chinesen einen Mittelklassewohlstand gebracht hat, wie er zuvor undenkbar war, war die Einführung des Containers. Marc Levinsons The Box: How the Shipping Container Made the World Smaller and the World Economy Bigger beschreibt anschaulich und kurzweilig, wie der Container von den USA aus seinen Siegeszug um die Welt antrat.

Nun gibt es sicher Themen, die auf den ersten Blick spannender erscheinen als Metallkisten von 20 oder 40 Fuß Länge, 8 Fuß Breite und 8 Fuß 6 Zoll Höhe (für den Europäer: 6096 oder 12192mm Länge, 2438mm Breite und 2591mm Höhe). Aber wie oben schon angerissen sind die Umwälzungen, die diese überdimensionierten Schuhkartons mit sich gebracht haben, schon an sich eine Beschäftigung mit der Materie wert. Und Levinson schafft es, auch die eigentliche Geschichte des Containers so interessant in die sonstige Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegsära hineinzuweben, dass man das Buch kaum aus der Hand legen will.

Vor dem Container wurde Seefracht in einzelnen Kisten, Säcken oder anderen Behältern in einem großen Netz an Bord von Frachtern gehievt und dann mühsam von Hand - bestenfalls mit einem Gabelstapler - unter Deck verstaut. Erfahrene Dockarbeiter unterschieden sich von unerfahrenen darin, inwieweit sie noch einen Sack Kaffee, noch ein Fass Heringe im hinterletzten Winkel unterbringen konnten. Schiffe lagen wochenlang zur Be- und Entladung im Hafen, und ebenso lange ruhte Fracht im Schiff, die erst in einem späteren Hafen gelöscht werden sollte. Die Handarbeit der Dockarbeiter, der longshoremen, war aller romantischen Verklärung zum Trotz brutal - und teuer. Vor dem Container rechnete es sich nur für wenige Fertigprodukte, sie über See zu verschiffen. Kein chinesisches Spielzeug in Europa, kein amerikanisches Rind auf japanischen Tellern. All das änderte sich Mitte der 1950er Jahre mit den ersten Containern.

In gewisser Weise lag die Erfindung des Containers in der Luft: schon lange vor 1950 hatten Eisenbahnen, Reedereien und Speditionen mit mehr oder minder normierten, mehr oder minder intermodal nutzbaren (also von Schiffen auf Lkws oder in Flugzeuge verladbaren) Kästen experimentiert. Im Koreakrieg verwendete das US-Militär kleinere Container. Allerdings waren all diese ersten Gehversuche der Containerisierung darauf ausgelegt, zusätzlich zu Stückgut verladen zu werden, nicht anstelle von Stückgut, und Schiffe waren entsprechend auf Stückgut und nicht auf Container eingerichtet.

Malcolm McLean, ein Lkw-Spediteur aus den USA, machte als erster den revolutionären Schritt, ein Schiff explizit auf den Transport von "Containern" umzurüsten. Kein Stückgut mehr, nur noch 58 Truck-Auflieger: die Ideal-X, die 1958 den Liniendienst zwischen Newark und Houston aufnahm. McLean profitierte von der Verfügbarkeit billiger Liberty- und Victory-Schiffe, die die USA seinerzeit im Zweiten Weltkrieg massenweise gefertigt und danach billig abgegeben hatte. McLean baute sie einfach um. Anfänglich hatte er noch damit experimentiert, nicht nur die Auflieger, sondern gleich die ganzen Truck-Anhänger zu verladen, also ein roll-on-roll-off-Konzept. Allerdings kam McLean davon wieder ab, weil durch das Chassis einfach zu viel Platz verschwendet wurde und die Stapelbarkeit problematisch war.

Aus diesem Anfang entwickelte sich nach und nach das Containerwesen, wie wir es heutzutage kennen (oder eben nicht kennen, wie gesagt, Container sind unsexy, und nicht jeder denkt darüber nach, wie der DVD-Player aus China hierher gekommen ist). Besonders spannend fand ich dabei die verschiedenen Probleme, denen McLean und Gleichgesinnte begegneten, und die nur überwunden werden konnten, weil die Vorteile des Containers über kurz oder lang offensichtlich waren.

Das erste Problem, dem McLean schon begegnete, bevor die Ideal-X zu ihrer ersten Containerfahrt aufbrach: staatliche Regulierung. Die Interstate Commerce Commission, also die Kommission für den Handel zwischen den US-Bundesstaaten, gängelte das Transportwesen in den USA auf eine für uns nicht mehr glaubhafte Weise: Speditionen durften eine Route zwischen zwei Städten nur bedienen, wenn nicht schon eine andere Spedition diese Route bearbeitete. Und Unternehmen, die verschiedene Verkehrsmittel nutzten, waren ohnehin verboten - daher musste McLean auch erst seine gut gehende Lkw-Spedition verkaufen, bevor er seine Containeridee auf hoher See ausprobieren konnte. Diese Kompetenzen wurden der ICC erst bei der Deregulierung unter Reagan genommen.

Ein anderes Problem lag bei den Gewerkschaften. Die Dockarbeiter waren überall straff organisiert und hatten mancherlei Richtlinien gegen die Reeder durchgesetzt. So war in jedem US-Hafen genau festgelegt, wieviele Arbeiter pro Ladeluke angestellt werden mussten, und davon durfte natürlich auch nicht abgewichen werden, wenn unter Deck etwa Gabelstapler die Arbeit erleichterten. Verständlicherweise waren die Gewerkschaften alles andere als begeistert über diese Neuerung, die ihnen die Arbeit komplett abnahm. Während die Dockarbeiter in manchen Städten sich arrangierten und flexibel mit den Reedern den Übergang zum Container gestalteten, stellten die Unions in anderen Städten auf stur und setzten zum Teil durch Streiks durch, dass Container durch Gewerkschaftsangehörige einmal komplett aus- und wieder eingeladen werden mussten - mit ein Grund (neben der völlig überlasteten Anbindung an den Straßentransport), warum beispielsweise New York nie zu einem Containerhafen wurde, sondern das benachbarte Newark seine Chance sah und einen gewaltigen Containerterminal aus dem Boden stampfte.

Schließlich: Standardisierung. Wie wir oben schon gesehen haben, ist der Container bis auf den Millimeter genau dimensioniert. Daneben mussten noch viele andere Eigenschaften standardisiert werden. Wie groß sollte das maximal zulässige Gewicht der Ladung sein? Je mehr Gewicht erlaubt ist, desto leichter ist es, den Container zu füllen - wenn das Maximalgewicht zu gering ist, ist es schon erreicht, wenn man nur den halben Container mit Maschinenteilen belädt, und nicht jeder Spediteur hat gerade einen halben Container leichtes Toilettenpapier übrig, um den restlichen Platz zu füllen. Aber schwere Ladungen erfordern stärkere Böden. Und stärkere Wände! Schließlich kann man Container bis zu sieben Lagen hoch stapeln! Andere Normierungsfragen waren die Ösen für die Kranhaken oder die Frage, ob Türen an einem oder an beiden Enden angebracht werden sollten. Trocken, aber spannend, wenn Levinson beschreibt, wie Standards in durchgearbeiteten Nächten in Hotelzimmern entwickelt wurden.

Welches sind die Vorteile, die dem Container zu seinem Siegeszug verhalfen? Einerseits ist da natürlich die logistische Vereinfachung: der Container kann in Ruhe beim Elektronikhersteller in China beladen werden, und erst wenn er voll ist, kommt der Lkw und fährt ihn zum Bahnhof, wo ein Zug ihn nach Shanghai zum Hafen fährt. Dort ergreift ihn ein Kran, und schwupp ist er an Bord. Dort wird er so gestapelt, dass er bei den nächsten drei Häfen, an denen das Containerschiff anlegt, nicht unnötig aus- und wieder eingeladen werden muss, bevor er im vierten Hafen endgültig gelöscht wird, denn jedes Be- oder Entladen, auch wenn es nur zwei Minuten dauert, kostet Geld. Container sichern auch eine lückenlose Nachverfolgbarkeit des Inhalts. In Zeiten vor RFID-Chips mussten nur die Seriennummern von Containern weitergemeldet werden, um genau zu wissen, wo die Sendung gerade war; das ist bei Stückgut ohne RFID unmöglich. Weiterhin können Container Spezialanforderungen erfüllen: es gibt Tankcontainer oder auch Kühlcontainer, in denen Rinderhälften von Argentinien nach Japan kommen (natürlich muss das bei der computergesteuerten Ladeplanung berücksichtigt werden, damit die Kühlcontainer neben einer Steckdose an Bord stehen). Schließlich lösen Container ein großes Problem von Stückgut: den Klau durch Arbeiter, der insbesondere bei Alkohol teuer wird...

Natürlich stehen dem einige Nachteile verglichen mit der älteren Stückgutpraxis gegenüber. Zunächst mussten natürlich komplette Handelsflotten erneuert werden - die umgebauten Liberty-Schiffe erwiesen sich schon bald als zu klein. Ebenso waren gewaltige Investitionen in komplett neue Containerhäfen notwendig, nebst der zugehörigen Anbindung an das Straßen- und Schienennetz. Aber auch operativ bieten Container Herausforderungen: wenn Güterströme hauptsächlich in einer Richtung unterwegs sind, etwa von China in die USA und weniger umgekehrt, dann stehen über kurz oder lang viele leere Container etwa an der US-Westküste. Dieses "Leergut" muss anders als bei Stückgut zurück nach China, und das kostet. Und schließlich kann der Zoll aus Stückgut recht zwanglos eine Stichprobe ziehen und auf Kontrabande untersuchen. In einem Container kann man illegale Waren hinter einigen Stapeln legitimen Inhalts verstecken, beispielsweise Raketen hinter Säcken mit Polyethylen.

Aber die Vorteile des Containers waren überzeugend genug, um gegen einigen Widerstand den Frachttransport auf den Meeren der Welt innerhalb von zehn bis zwanzig Jahren komplett umzukrempeln. Eine faszinierende Erfolgsgeschichte, die ich jedem zur Lektüre empfehlen kann.




Kapitel 1 des Buchs ist online zu lesen. Ein anderes Review bietet Virginia Postrel. Wie immer ist Wikipedia sehr interessant, beispielsweise die Einträge über Panamax, die größte Dimension, mit der ein Containerschiff noch durch den Panamakanal passt - und das wird in Zentimetern gemessen. Analog passen Malaccamax-Schiffe gerade noch durch die Malacca-Straße - allerdings gibt es bislang nur Malaccamax-Tanker, noch keine Malaccamax-Containerschiffe, aber das ist nur eine Frage der Zeit.

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