21. November 2009

Cahors Mundi. Teil 1: Sodomie und Wucherei

Manche Städte kennt jedes Kind - New York, Tokio, Rio, Paris, die großen glänzenden Weltstädte. Andere Städte kennt so gut wie niemand, ohne daß sie dies daran hindert, auf ihre Art ebenfalls Weltstädte zu sein, wie zum Beispiel St-Sébastien-d'Aigrefeuille, Mukaishima, Vézenobres, Auriac-sur-Vendinelle, Muchungiko, Nachikatsuura, Frayssinet-le-Gélat, West Flamborough und fast tausend weitere dergleichen Orte.


Und sollten das etwa keine Weltstädte sein? Sie verbinden sich mit dem großen Ganzen eben nicht durch eine überragende Attraktivität, die kulturelle Bedeutung, die wirtschaftlichen Verbindungen, die universelle Bekanntheit, sondern auf ihre Weise, nämlich schlicht und feierlich, indem sie eine Charta unterzeichnet haben, mit der sie verkünden:


Sans rien renier de notre attachement, de nos devoirs et de nos droits à l'égard de notre région et de notre nation dans la mesure où ils sont compatibles avec un ordre mondial, nous nous déclarons, symboliquement, Territoire Mondial lié à la Communauté Mondiale.


Ohne uns im geringsten von unserer Bindung, unseren Pflichten und Rechten gegenüber unserer Region und Nation loszusagen, soweit diese mit einer Weltordnung vereinbar sind, erklären wir uns symbolisch zu einem mit der Weltgemeinschaft verbundenen Territorium der Welt.


Auch St-Sébastien-d'Aigrefeuille in den Cevennen ist Welt! Gleichgültig ob es jemand kennt.


Inzwischen haben sich darüber hinaus schon ein Dutzend französische Départements sowie jede zweite japanische Provinz als Teil der Welt erklärt. Deutschland hingegen hat leider nur drei Weltstädte, nämlich Königswinter, Oberwinter und Bad Wimpfen.


Die erste dieser Weltstädte jedoch ist Cahors im Département Lot, Südfrankreich.


Cahors, ein Ort von heute 23000 Einwohnern, liegt etwa 100 km nördlich von Toulouse in einer Schleife des Flusses Lot, welcher der schönen Garonne zuströmt. Im Mittelalter waren die "schwarzen" Weine der Gegend sehr begehrt und wurden nach England und sogar bis Norwegen exportiert. Dies taten Kaufleute, die vermutlich aus dem italienischen Siena herübergekommen waren, und in der verworrenen politischen Lage Südfrankreichs ein hohes Maß an städtischer Autonomie, und zugleich ein geringes Maß an Rechtssicherheit vorfanden - der geeignete Ausgangspunkt wohl für Geschäfte, die ohnehin riskant waren, wie der Fernhandel und die damit einhergehenden, oft sogar dominierenden Geldgeschäfte.


Das Geldverleihen brachte den Cahorsiner Kaufleuten einen Ruf als Wucherer ein. So schrieb Matthaeus Parisiensis in seiner »Chronica major« aus der ersten Hälfte des 13. Jh. unter dem Titel "De peste Caursinorum": Caursini enim manifesti usurarii - die Cahorsiner sind offenkundig Wucherer, obwohl sie - se mercatores appellabant - sich als Kaufleute bezeichnen, und noch dazu sind sie - transalpini, transmontani, Ytalici - mit einem Wort Ausländer. Im Jahre 1240 erfolgte, wie Matthaeus erfreut berichtet, die Ausweisung der Caursini aus England und Frankreich, jedenfalls jener, die "nicht durch ihrer Hände Arbeit ein ehrbares Leben zu führen bereit sind". Sieh, ein Schlupfloch! Das ermöglichte es dann doch so manchen zu bleiben, indem sie sich die Ehrbarkeit für entsprechendes Entgelt bei regionalen Machthabern bestätigen ließen. Entsprechend blieben zahlreiche Wucherer im Land, so daß im Jahre 1269, unter Ludwig dem Heiligen, der Vorgang wiederholt werden konnte.


Häufiger wandte man eine einfachere Methode an, um zu Geld zu kommen: gelegentlich (1274, 1277, 1288, 1291, 1311, 1320, 1330, 1337) sperrte man die italienischen usurarii ein und ließ sie gegen passende Bezahlung wieder frei - eine Vorgehensweise, die auch unserer Zeit nicht ganz fremd ist, Herr Zumwinkel kennt das gut. Dieser königliche Finanzierungsweg trug beispielsweise zum Bau der Valentrébrücke in Cahors aus dem frühen 14. Jh. bei, die oben in der Vignette zu sehen ist. Manche Autoren meinen, die französische Redewendung "enlever quelqu'un comme un Corsin" - "jemanden wie einen Corsin einbuchten" beziehe sich auf Cahors und habe ihren Ursprung in diesen Praktiken.


Die Worte "Caorsini" und "Lombardi" wurden geradezu sprichwörtlich für "Wucherer", ohne damit unbedingt noch die örtliche Herkunft zu meinen. Auch in Mitteleuropa kannte man die "Kawerschen" oder "Kawerzin"; so bezeichnete man die lombardischen Geschäftsleute, die sich im 13. Jh. anschickten, die ersten Schweizer Banken zu gründen. "Kawersch" wurde anscheinend sogar ein Rechtstitel, der die betreffenden Personen den Juden gleichstellte und ihnen damit das unrechte Geschäftsgebaren ermöglichte. Dennoch wandelten sie auf dünnem Eis und brauchten vor allem Schutzherren wie beispielsweise Kaiser Karl IV., der ihretwegen 1359 den Zürcher Stadtoberen schrieb: "wann alle kawerzin, wuocher und juden unser und des richs camer dienen und gehörn. Des manen wir euch und gebieten euch ernstlich und vestechli, das jr ... dieselben kawerzin und juden ungehindert lassen sollet", wofür ihm an dieser Stelle ein spätes aber herzliches Lob zuteil werden soll. Manchmal steht die Kawallerie doch auf der Seite der Kawerschen.


Dem schlechten Ruf verdankt die Stadt Cahors ihren Platz in der Weltliteratur; kein geringerer als Dante Alighieri war es, der in seiner »Göttlichen Komödie« "Soddoma e Caorsa" auf einer Zeile vereinte. Der Zusammenhang mit Sodom mag auf den ersten Blick erstaunlich wirken, wo doch in der heutigen Zeit die Homophobie sehr verpönt ist, während Bankerfeindlichkeit zum guten Ton gehört: wie konnte Dante das nur auf eine Stufe stellen? Und noch erstaunlicher ist vielleicht Dantes Behauptung in diesem Zusammenhang, beides stelle Formen der Gewalt gegen Gott dar.


"Indem Dante für Gomorra das im Italienischen ähnlich lautende Caorsa einsetzt, unterstreicht er auch akustisch wirkungsvoll die Verbindung der physischen mit der handelsgewerblichen Unzucht", meint dazu der Dantologe Dieter Kremers bündig, wenn auch etwas unklar. Dante selbst begründet die Verdammenswürdigkeit des Wuchers mit dem Buch Genesis, wo es bekanntlich heißt, "im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen". Der Wucherer verletze die Natur ebenso wie der Sodomiter, da er altra via tene - auf anderem Wege geht. Noch deutlicher erklärt Dantes philosophischer Gewährsmann Aristoteles die Widernatürlichkeit des Zinsennehmens, da hierbei aus dem Geld selbst der Erwerb gezogen werde und nicht aus dem, wofür das Geld da sei. "Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich aber durch sich selbst. Daher hat er auch seinen Namen: das Geborene ist gleicher Art wie das Gebärende, und durch den Zins entsteht Geld aus Geld. Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur." (Griechisch tokos bedeutet sowohl Geburt, Nachkommen, als auch Zins).


Die quasi asexuelle Weise der Geldvermehrung, so mag man Dante verstehen, bringt nicht wie die Natur Neues, sondern lediglich mehr vom Gleichen hervor, und ist daher auch nicht besser als das unfruchtbare Geschlechtsleben der Sodomiter. Zwar glaubt Dante, auch die Natur würde von sich aus immer das Gleiche schaffen, doch mische sich bei ihr Gottes Vorsehung individualisierend in den Vorgang ein. Wo also Menschen absichtlich nur Gleiches aus Gleichem entstehen lassen, schließen sie Gott von der Mitwirkung aus, was vielleicht die Rede von der Gewalt gegen Gott erklärt, als die Dante den Wucher und die Sodomie bezeichnet hat.


Wo nun aber Dante während seines Ganges durch die Hölle die dort im Feuerregen büßenden Wucherer besucht, trifft er nicht auf Caorsini, sondern auf Landsleute seiner lieben Heimatstadt Florenz, die ja auch der bedeutendste Bankenplatz des Zeitalters gewesen ist. Nur der Ruf Caorsas als Stadt der Wucherer war ihm also wichtig, nicht die Caorsiner Wucherer selbst. Daher nehme ich an, daß es mit der herausgehobenen Stellung Caorsas als Pendant zu Sodom noch eine weitere Bewandtnis hat: Cahors war nämlich die Heimatstadt des damals amtierenden Papstes Johannes XXII., vom dem Dante nicht viel hielt. Del sangue nostro Caorsini e Guaschi s'apparecchian di bere - "Nach unserem Blute lechzen schon Cahorsen und Gascogner", donnert er gegen Johannes und seine Anhänger sowie den Gascogner Clemens V. Genauer wirft Dante Johannes vor: tu che sol per cancellare scrivi - "du, der einzig schreibst um auszulöschen", womit er die Praxis dieses Papstes meinte, zu exkommunizieren, um sich die Rücknahme bezahlen zu lassen - gewissermaßen das geistliche Gegenstück zu dem erwähnten königlichen Verfahren des "enlever comme un Corsin". Die Heimatstadt des gehassten Papstes mit Gomorra gleichzusetzen, war Dante sicher ein Vergnügen.


Überhaupt scheinen sich die Cahorser Kaufleute gern als Gläubiger der Kirche betätigt und damit in dem großen Konflikt zwischen dem päpstlichen und dem kaiserlichen Machtanspruch auf Seiten des Papstes gestanden zu haben, welcher seine schützende Hand über ihren Ursprungsort Siena hielt.


Keiner hat die weltliche Macht des Papstes damals grundsätzlicher abgelehnt als gerade Dante Alighieri. Der Kaiser sollte unabhängig von dem Papst im weltlichen Bereich herrschen, der Papst sich dagegen um das Seelenheil und die Kirche kümmern. Dantes zentrale politische Idee war die Weltmonarchie, für deren Entdecker er sich selber hielt:


(...) um nicht den Vorwurf auf mich zu ziehen, mein Pfund vergraben zu haben, so wünsche ich nicht bloß zu »grünen, sondern Frucht zu tragen« für das öffentliche Wohl und von andern noch unberührte Wahrheiten ans Licht zu ziehen. Denn welchen Nutzen brächte der, welcher einen Lehrsatz des Euklid zum zweiten Mal bewiese? (...) Da nun aber unter andern verborgenen und nützlichen Wahrheiten die Kenntnis von der weltlichen Monarchie eine der nützlichsten und verborgensten ist und als nicht unmittelbar gewinnbringend von allen noch unberührt geblieben ist, so habe ich in der Absicht, sie aus dem Dunkel, in welchem sie steckt, hervorzuholen, teils um mit Nutzen für die Welt zu wachen, zum Teil auch, um die Palme eines solchen Wagnisses zu meinem Ruhme zuerst zu erlangen.


Ein einzelner Herrscher über alle Menschen diene am besten dem allgemeinen Frieden, und da er außerdem keine Ambition haben kann, seinen Herrschaftsbereich auszudehnen, habe er allen Grund, sich statt dessen um das Wohl der Menschheit zu bekümmern, indem er überall für die richtige politische Verfassung sorgt:


Und dergleichen richtige Staatsverfassungen erstreben die Freiheit, d.h., daß die Menschen ihrer selbst wegen da sein sollen. Denn die Bürger sind nicht der Konsuln wegen da, noch das Volk wegen des Königs, sondern umgekehrt die Konsuln wegen der Bürger und der König wegen des Volks. (...) Hieraus geht auch hervor, daß der Konsul oder König zwar rücksichtlich des Weges die Herren, rücksichtlich des Zieles aber die Diener aller übrigen sind und zumal der Weltmonarch, der ohne Zweifel für den Diener aller zu halten ist.


Ein schöner Gedanke. Und doch kam es bekanntlich bis heute nicht zu einer solchen Weltherrschaft des Friedens und der Freiheit.


Während also die Streitereien in Europa und in der Welt weitergingen, verlor die Stadt Cahors nach und nach alles, was sie jemals ausgezeichnet hatte. Als erstes ihren schlechten Ruf; mit den Wucherern ging es schon im 14. Jh. zu Ende, und auch international schimpfte man nur noch "Lombardi" und nicht mehr "Caursini". Die Universität, die Papst Johannes im Jahre 1331 seiner Heimatstadt gegeben hatte, und die bis ins 18. Jh. recht bedeutend war, wurde von der Universität Toulouse geschluckt. Und schließlich wurde sogar noch der berühmte Wein, mit dem die Päpste einst in Avignon die Messe feierten und den sich noch Zar Peter der Große an den Hof schicken ließ, vom Bordeauxwein überflügelt und geriet in Vergessenheit. Die Winzer ließen pisser la vigne - den Weinberg pinkeln -, wie die Wikipédia schreibt: hielten sich mit billigem Massenwein am Leben. Cahors versank in Bedeutungslosigkeit.


Wie aber die Stadt jäh aus der Tiefe der Vergessenheit aufstieg, und für einen Augenblick beinahe zur Leuchte der Menschheit wurde, wird im zweiten Teil geschildert werden.



Quellen:

Zu den Weltstädten siehe www.recim.org. Über die Geldverleiher im Mittelalter informieren Robert Davidsohn, Geschichte von Florenz, 4. Bd., 2. Teil, Berlin 1925, S. 211 ff., Johannes von Müller, Der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft. 4 Bde, Leipzig, 1786–1805, 2. Bd, S. 230, Angelo Garovi, Lombardische Kaufleute und die Anfänge des Bankwesens in der Schweiz, Neue Zürcher Zeitung NZZ Nr. 141 vom 22. Juni 1998. (http://www.steudler.ch/kurt/SRW/Dateien/NZZ_Banken_Geschichte.pdf), und speziell zu Cahors: J. Chaudruc de Crazannes, Dissertation sur les banquiers nommés Cahursins, Caorsins, et Corsins, sur leur origine er établissement dans le Quercy er particulièrement à Cahors, vers la fin de Moyen-Age, Revue d'Aquitaine, 1861, S. 318-325. Cahors und Dante siehe: Dieter Kremers, Die Wucherer in Dantes Hölle, in: K. Lichau, H. J. Simon (Hg.), Studien zu Dante. Festschrift für Rudolf Palgen, Graz 1971, 89-102. Die Stellen bei Dante (Inferno, 11.50, 11.109, Paradiso 8.121-135, 18.130, 27.58) sind in der Übersetzung von Ida und Walter v. Wartburg zititert (Manesse 1963). Aristoteles über die Zinsen: Politik, 1.11, 1258b. Zur Frage der Sodomie und des Wuchers bei Dante schreibt Gregory B. Stone, Sodomy, Diversity, Cosmopolitanism; Dante and the Limits of the Polis, Dante Studies 123, 2005, S. 89-132 mancherlei. Dantes Monarchia (aus Buch 1, Kap. 1 und Kap. 12) zitiere ich in der Übersetzung von L. Heimanns aus: Geschichte der Philosophie, Band 2 Mittelalter, Reclam 1982.




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