Es hat eine gewisse Tradition, daß ich zum Reformationstag über Martin Luther schreibe. Im Jahr 2006 waren das sehr persönliche Erinnerungen an den Reformator als Gegenstand religiöser Unterweisung. Ein Jahr später habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß ausweislich der TV-Programme der 31. Oktober im Bewußtsein der Deutschen Halloween ist; Luther kam mit Ausnahme des MDR, sozusagen seines Heimatsenders, so gut wie nicht mehr vor.
Und doch ist Luther allgegenwärtig in Deutschland. Kein Denker hat uns so geprägt; unser deutsches Selbstverständnis so bestimmt, wohl auch unsere Wahrnehmung durch andere.
Im, wie man so sagt, Volk der Dichter und Denker sind die herausragenden Dichter im allgemeinen Bewußtsein präsent. Goethe und Schiller weiß auch der Begriffsstutzigste mindestens zu nennen. Für die großen Denker gilt das keineswegs. Ganz anders als in Frankreich, wo jeder Abiturient Descartes und Bergson nicht nur gründlich kennt, sondern vieles von ihrem Denken auch in sich aufgenommen hat.
In Deutschland hingegen: Zum Namen des ersten ganz großen deutschen Philosophen der Neuzeit, Gottfried Wilhelm Leibniz, fallen den meisten Deutschen vermutlich Kekse ein. Sein zugleich wissenschaftliches und hochspekulatives Denken steht demjenigen der Franzosen, in deren Sprache er meist geschrieben hat, viel näher als der deutschen Befindlichkeit.
Kants skeptische Erkenntnistheorie hat kaum ihre Spuren hinterlassen; seine Ethik reduziert sich in der allgemeinen Wahrnehmung auf den kategorischen Imperativ, der als eine etwas andere Formulierung des Paragraphen 1 der StVO verstanden wird. Das Preußen, das er in der Tat geprägt hatte, ist untergegangen.
Auf die Aufforderung: "Nennen Sie spontan einen deutschen Philosophen" würde - vermute ich; man sollte den Test einmal machen - eine repräsentative Stichprobe von Deutschen, sofern sie nicht schweigen, "Nietzsche" sagen. Der ist verrückt geworden, wie es sich für einen Philosophen gehört.
Luther hingegen ist nicht nur jedem bekannt; sondern er hat das deutsche Wesen tief geprägt. Er ist für uns das, was René Descartes für die Franzosen ist und was Adam Smith und David Hume den Briten bedeuten.
Luther ist im Bewußtsein von uns Deutschen - wieweit das dem historischen Luther gerecht wird, sei dahingestellt - der ehrliche, tapfere Mann, der sich gegen die Machenschaften von Finsterlingen, vorwiegend welschen, zur Wehr setzt.
Er war, als er Rom besuchte, entsetzt von der dortigen Libertinage. Diese Kirche, diese verkommene Kirche, wollte er reformieren, also wieder auf den rechten Weg führen. Daß aus der Reformation am Ende eine Abspaltung wurde, hatte er nicht gewollt, der aufrechte Mann.
Er trat dem Ablaßhandel entgegen, diesem Schachern mit der Angst vor der Hölle. Der Name Tetzel allein löst noch jetzt bei mir tiefe Abscheu aus, ich werde da nicht allein sein. Ein Name, der dieser niedrigen Krämerseele wie auf den Leib geschrieben ist; der Teufel steckt als Etym darin, auch der Tatzelwurm. Wolfgang Menge mag mit diesen Assoziationen gespielt haben, als er dem Ekel Alfred den Namen Tetzlaff gab.
Mannhaft und ja, bieder, war er, der D. Martin Luther. Er stellte sich nicht nur dem Reichstag in Worms; er stellte sich vor ihn hin und sprach, so wurde es in der Überlieferung verkürzt, das "Hier stehe ich, ich kann nicht anders". Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun, sagte man später.
Redlich, ohne Schnörkel und wuchtig war auch seine Sprache. Jene Sprache, die für uns seither die Sprache der Bibel ist; in der Luther aber auch Derbes geäußert hat wie das bekannte und immer gern zitierte "Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz".
Die Reformation war für Jahrhunderte die letzte große geistige Umwälzung in Europa, die ihren Ursprung in Deutschland hatte. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts fiel das sich politisch auflösende Deutschland auch kulturell zurück hinter Frankeich, hinter England; bis zum Wiederaufstieg von der Mitte des 18. Jahrhunderts an.
Das mag einer der Gründe dafür sein, daß Luther so ungeheuer prägend für das deutsche Selbstverständnis ist; prägend wie dann erst wieder die Weimarer Klassik. Und wie das so ist - Kulturgüter sinken ab; sie werden zum Volksbesitz, sie werden trivialisiert.
Das Bild von Luther, das in unseren deutschen Köpfen steckt, hat sein triviales, sein nachgerade karikaturhaftes Gegenstück im deutschen Michel. Diese Gestalt mag in der Tat schon in der Lutherzeit, vielleicht schon etwas früher entstanden sein. Und zwar als Gegentypus zum Verfeinerten, Ausländischen, Welschen. Lange Zeit war der Begriff herabsetzend gemeint; aber nach und nach haben wir uns doch mit diesem Michel zu identifizieren gelernt, wir Deutschen. Diesem biederen, ein wenig langweiligen, aber grundanständigen Kerl.
Es ist mit diesem Selbstbild eine Gefahr verbunden, die es mit vielen Autostereotypen teilt: Sie gewinnt ihr Leben, ihre plastische Konkretheit erst vor dem Hintergrund von Fremdstereotypen. Je mehr wir Deutschen uns als bieder und ehrlich verstehen, umso mehr tendieren wir dazu, bei den anderen Hinterlist und Verstellung zu wittern.
Da ist dann das Ressentiment nicht mehr weit. Von Selbstsicherheit und Selbstbewußtsein zeugt es jedenfalls nicht unbedingt, wenn ein Volk sich in einem schlafmützigen, einem jedenfalls schlafbemützten, Biedermann wiedererkennt.
Da sollten wir uns doch wieder eher an Luther erinnern, diesen Kerl von einem Mann, von dem Goethe geschrieben hat: "Das einzige, was uns an der Reformation interessiert, ist Luthers Charakter, und er ist auch das einzige, was der Menge wirklich imponiert hat". Dieses Zitat setzt Egon Friedell in seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit" über das Kapitel, das sich mit der Reformation befaßt. Überschrieben ist es mit "Die deutsche Religion".
Und doch ist Luther allgegenwärtig in Deutschland. Kein Denker hat uns so geprägt; unser deutsches Selbstverständnis so bestimmt, wohl auch unsere Wahrnehmung durch andere.
Im, wie man so sagt, Volk der Dichter und Denker sind die herausragenden Dichter im allgemeinen Bewußtsein präsent. Goethe und Schiller weiß auch der Begriffsstutzigste mindestens zu nennen. Für die großen Denker gilt das keineswegs. Ganz anders als in Frankreich, wo jeder Abiturient Descartes und Bergson nicht nur gründlich kennt, sondern vieles von ihrem Denken auch in sich aufgenommen hat.
In Deutschland hingegen: Zum Namen des ersten ganz großen deutschen Philosophen der Neuzeit, Gottfried Wilhelm Leibniz, fallen den meisten Deutschen vermutlich Kekse ein. Sein zugleich wissenschaftliches und hochspekulatives Denken steht demjenigen der Franzosen, in deren Sprache er meist geschrieben hat, viel näher als der deutschen Befindlichkeit.
Kants skeptische Erkenntnistheorie hat kaum ihre Spuren hinterlassen; seine Ethik reduziert sich in der allgemeinen Wahrnehmung auf den kategorischen Imperativ, der als eine etwas andere Formulierung des Paragraphen 1 der StVO verstanden wird. Das Preußen, das er in der Tat geprägt hatte, ist untergegangen.
Auf die Aufforderung: "Nennen Sie spontan einen deutschen Philosophen" würde - vermute ich; man sollte den Test einmal machen - eine repräsentative Stichprobe von Deutschen, sofern sie nicht schweigen, "Nietzsche" sagen. Der ist verrückt geworden, wie es sich für einen Philosophen gehört.
Luther hingegen ist nicht nur jedem bekannt; sondern er hat das deutsche Wesen tief geprägt. Er ist für uns das, was René Descartes für die Franzosen ist und was Adam Smith und David Hume den Briten bedeuten.
Luther ist im Bewußtsein von uns Deutschen - wieweit das dem historischen Luther gerecht wird, sei dahingestellt - der ehrliche, tapfere Mann, der sich gegen die Machenschaften von Finsterlingen, vorwiegend welschen, zur Wehr setzt.
Er war, als er Rom besuchte, entsetzt von der dortigen Libertinage. Diese Kirche, diese verkommene Kirche, wollte er reformieren, also wieder auf den rechten Weg führen. Daß aus der Reformation am Ende eine Abspaltung wurde, hatte er nicht gewollt, der aufrechte Mann.
Er trat dem Ablaßhandel entgegen, diesem Schachern mit der Angst vor der Hölle. Der Name Tetzel allein löst noch jetzt bei mir tiefe Abscheu aus, ich werde da nicht allein sein. Ein Name, der dieser niedrigen Krämerseele wie auf den Leib geschrieben ist; der Teufel steckt als Etym darin, auch der Tatzelwurm. Wolfgang Menge mag mit diesen Assoziationen gespielt haben, als er dem Ekel Alfred den Namen Tetzlaff gab.
Mannhaft und ja, bieder, war er, der D. Martin Luther. Er stellte sich nicht nur dem Reichstag in Worms; er stellte sich vor ihn hin und sprach, so wurde es in der Überlieferung verkürzt, das "Hier stehe ich, ich kann nicht anders". Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun, sagte man später.
Redlich, ohne Schnörkel und wuchtig war auch seine Sprache. Jene Sprache, die für uns seither die Sprache der Bibel ist; in der Luther aber auch Derbes geäußert hat wie das bekannte und immer gern zitierte "Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz".
Die Reformation war für Jahrhunderte die letzte große geistige Umwälzung in Europa, die ihren Ursprung in Deutschland hatte. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts fiel das sich politisch auflösende Deutschland auch kulturell zurück hinter Frankeich, hinter England; bis zum Wiederaufstieg von der Mitte des 18. Jahrhunderts an.
Das mag einer der Gründe dafür sein, daß Luther so ungeheuer prägend für das deutsche Selbstverständnis ist; prägend wie dann erst wieder die Weimarer Klassik. Und wie das so ist - Kulturgüter sinken ab; sie werden zum Volksbesitz, sie werden trivialisiert.
Das Bild von Luther, das in unseren deutschen Köpfen steckt, hat sein triviales, sein nachgerade karikaturhaftes Gegenstück im deutschen Michel. Diese Gestalt mag in der Tat schon in der Lutherzeit, vielleicht schon etwas früher entstanden sein. Und zwar als Gegentypus zum Verfeinerten, Ausländischen, Welschen. Lange Zeit war der Begriff herabsetzend gemeint; aber nach und nach haben wir uns doch mit diesem Michel zu identifizieren gelernt, wir Deutschen. Diesem biederen, ein wenig langweiligen, aber grundanständigen Kerl.
Es ist mit diesem Selbstbild eine Gefahr verbunden, die es mit vielen Autostereotypen teilt: Sie gewinnt ihr Leben, ihre plastische Konkretheit erst vor dem Hintergrund von Fremdstereotypen. Je mehr wir Deutschen uns als bieder und ehrlich verstehen, umso mehr tendieren wir dazu, bei den anderen Hinterlist und Verstellung zu wittern.
Da ist dann das Ressentiment nicht mehr weit. Von Selbstsicherheit und Selbstbewußtsein zeugt es jedenfalls nicht unbedingt, wenn ein Volk sich in einem schlafmützigen, einem jedenfalls schlafbemützten, Biedermann wiedererkennt.
Da sollten wir uns doch wieder eher an Luther erinnern, diesen Kerl von einem Mann, von dem Goethe geschrieben hat: "Das einzige, was uns an der Reformation interessiert, ist Luthers Charakter, und er ist auch das einzige, was der Menge wirklich imponiert hat". Dieses Zitat setzt Egon Friedell in seiner "Kulturgeschichte der Neuzeit" über das Kapitel, das sich mit der Reformation befaßt. Überschrieben ist es mit "Die deutsche Religion".
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Martin Luther, gemalt von Lucas Cranach d.Ä.