15. Oktober 2009

Die SPD bei 20 Prozent. Von der Volkspartei zur Karrieristenpartei. Der Niedergang der SPD begann am 29. Mai 1991

In den fünfundvierzig Jahren von 1946 bis 1991 hatte die SPD vier Vorsitzende: Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer, Willy Brandt und Hans- Jochen Vogel.

In den achtzehn Jahren von 1991 bis 2009 hatte die SPD zehn Vorsitzende: Björn Engholm, Johannes Rau, Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder, Franz Münterfering, Matthias Platzeck, Kurt Beck, Frank-Walter Steinmeier und nochmals Franz Müntefering.

Keiner dieser zehn Vorsitzenden seit 1991 brachte seine Amtszeit ordentlich zu Ende:
  • Engholm trat nach zwei Jahren wegen einer Affäre (der sogenannten Schubladenaffäre) zurück.

  • Johannes Rau verwaltete das Amt daraufhin für zwei Monate kommissarisch.

  • Rudolf Scharping wurde auf dem Mannheimer Parteitag 1995 von Oskar Lafontaine gestürzt.

  • Dieser trat als Vorsitzender 1999 zurück, nachdem er sich endgültig mit Gerhard Schröder überworfen hatte.

  • Schröder brachte es als Lafontaines Nachfolger immerhin auf fünf Jahre, bevor er 2004 in einer tiefen Krise seiner Regierung das Amt völlig unerwartet an Franz Müntefering abgab.

  • Müntefering wurde nach eineinhalb Jahren durch eine Intrige von Andrea Nahles gestürzt, die bereits am Sturz von Scharping mitgewirkt hatte ("Lirum, larum, Löffelstiel").

  • Auf Müntefering folgte Matthias Platzeck, der ganze fünf Monate durchhielt, bevor er im April 2006 "aus gesundheitlichen Gründen" das Handtuch warf.

  • Sein Nachfolger Kurt Beck schaffte immerhin zweieinhalb Jahre. Im September 2008 wurde er durch Franz Müntefering und Frank- Walter Steinmeier gestürzt.

  • Gut einen Monat lang amtierte daraufhin Frank- Walter Steinmeier als kommissarischer Vorsitzender.

  • Ihm folgte am 18. Oktober 2008 Franz Müntefering. Er hat bereits angekündigt, den Parteivorsitz abzugeben.
  • Seinen Nachfolger Sigmar Gabriel hatte ohne Münteferings Mitwirkung ein kleiner Klüngel bereits unmittelbar nach den Wahlen ausgekungelt; siehe unten.



    Bei einem Unternehmen, das seinen Vorstandsvorsitzenden im Schnitt alle eineinhalb Jahre wechselt - und noch dazu unter solchen Umständen - würde man sich wundern, daß es überhaupt noch existiert. Bei der SPD kann man sich darüber wundern, daß ihr (laut aktuellen Umfragedaten) immer noch zwanzig Prozent der Wähler vertrauen. Diese Partei hat sich in knapp zwei Jahrzehnten selbst an den Rand des Ruins gebracht.

    Nein, so ist es nicht ganz richtig. Nicht die Partei hat sich selbst in den jetzigen Zustand gebracht; sondern geschafft hat das die "schmucke Riege". So nannte in den achtziger Jahren die SPD- Politikerin Anke Fuchs einmal jene Gruppe von SPD-Politikern, die als "Generation der Enkel" ganz nach oben strebte. Alle damals um die vierzig bis fünfzig; alle auf dem Sprung an die Macht - mindestens an die Spitze der SPD; wenn möglich, ins Kanzleramt.

    Eine Generation, die ihre politisch prägenden Erfahrungen in der Zeit der APO, der Studentenunruhen, der K-Gruppen gemacht hatte; in jener Zeit, die man heute gern die Epoche der "Achtundsechziger" nennt. Etliche von ihnen hatten es in den achtziger Jahren und Anfang der neunziger Jahre bereits zum Ministerpräsidenten gebracht - Oskar Lafontaine im Saarland, Gerhard Schröder in Niedersachsen, Rudolf Scharping in Rheinland- Pfalz, Björn Engholm in Schleswig- Holstein. Aber sie wollten mehr; sie wollten die Macht in Bonn.

    Und sie haben es an die Macht zumindest in der SPD geschafft, alle. Einer nach dem anderen. Sie haben um diese Macht gekämpft, gerangelt, intrigiert. Und sie haben dabei einen Politikstil gepflegt, der sich seit der Zeit der "Achtundsechziger" in dieser Generation etabliert hatte. Er ist es, der die SPD ruiniert hat; erst langsam, dann mit dem Tempo, das sie heute auf zwanzig Prozent hat sacken lassen.



    Das Schlüsseldatum für das Ende der alten SPD und den Beginn einer SPD der rücksichtslosen Karrieristen ist der 29. Mai 1991. An diesem Tag wurde Björn Engholm zum Nachfolger von Hans- Jochen Vogel gewählt, der den Vorsitz von Willy Brandt übernommen hatte und der aus Altersgründen nicht mehr antrat.

    Dies ist deshalb das Schlüsseldatum, weil Björn Engholm in seiner Person den Umbruch verkörperte.

    Die SPD hatte seit der Zeit des Kaiserreichts bei ihren Vorsitzenden vor allem auf eines geachtet: Daß sie anständige, zuverlässige Männer waren, denen die Partei wichtiger war als ihre eigene Karriere; "gediegene" Persönlichkeiten, um es mit einem hier passenden altmodischen Wort zu sagen. Das galt für Schumacher, Ollenhauer, Brandt und Vogel ebenso wie für ihre Vorgänger vor dem Zweiten Weltkrieg; für Männer wie Friedrich Ebert, Hermann Müller und Otto Wels.

    Als Engholm 1991 gewählt wurde, schien auch er in diese Reihe zu passen. Er hatte wenige Jahre zuvor die Barschel- Affäre überstanden, in der er als der Ehrliche erschienen war, ein Opfer finsterer Intrigen. Der "Spiegel" (Heft 22/1991 vom 27.05.1991, S. 30ff) beschrieb Engholm damals als
    ... proper, beliebt, relaxed, nicht verbiestert, ideologisch keinem Flügel verhaftet (...) Was er von sich gab - nach bitteren Monaten des Zanks -, kam vielen Genossen wie eine Verheißung vor. Den "Kitt" wolle er bilden, der seiner Partei fehle. Er sei einer, "der über die Ränder hinausgucken kann", der "menschlich eine Persönlichkeit ist, mit der man sich identifizieren kann". Wer kann das schon von sich sagen? Bei Björn Engholm meldete niemand Zweifel an.
    Die Zweifel allerdings kamen schon zwei Jahre später, als sich herausstellte, daß Engholm während der Barschel- Affäre keineswegs so unschuldig- unwissend gewesen war, wie er es dargestellt hatte. Er trat von allen Ämtern zurück.



    Engholm war der Älteste in der "schmucken Riege"; aber er war halt doch auch einer aus dieser Generation, die einen ganz anderen Politikstil pflegte als ihre älteren Genossen. Er ist gewissermaßen das (nicht) missing link.

    Ich habe in den siebziger Jahren erlebt, wie sich dieser Generationswechsel vollzog; damals zunächst auf der Ebene der Ortsvereine. Die alten Genossen hatten sich natürlich auch gestritten, waren aber im Kern solidarisch gewesen und stellten die Partei vor ihre eigenen Interessen. In den Sitzungen ging es offen zu; von Ausnahmen abgesehen sagte jeder ehrlich seine Meinung.

    Nun traten diese jungen Leute auf, meist erst kurz zuvor in die Partei eingetreten, und entwickelten einen ganz anderen Politikstil; einen, den sie den kommunistischen Gruppen und Grüppchen abgeguckt hatten, die sie von den Unis her oder aus anderen politischen Zusammenhängen kannten.

    Es wurde nicht mehr offen gesprochen. Man versteckte seine eigentlichen Ziele hinter scheinbar harmlosen Anträgen zur Geschäftsordnung. Es wurden heimliche Pläne gemacht, wie man die Älteren nach und nach "abschießen" wollte. Es gab Vorabsprachen vor Abstimmungen, Debatten wurden oft nur noch zum Schein geführt.

    In den siebziger Jahren zog ein machiavellistischer, ein kommunistischer Geist in die SPD ein, der ihr traditionell ganz fremd gewesen war. Viele alte Genossen verließen damals die Partei oder stellten mindestens ihre aktive Mitarbeit ein. Auch die Sozialstruktur der aktiven Mitglieder veränderte sich. Immer weniger Arbeiter fühlten sich in dieser Atmosphäre noch wohl.

    Die damaligen Jusos sind es, die Jahrzehnte später - ihrer weltverbesserischen Illusionen längst beraubt, aber im alten Politikstil - die SPD zugrunde gerichtet haben.

    Demokratische Prinzipien gelten ihnen wenig. Lafontaine putschte gegen Scharping. Schröder knallte seiner Partei die "Agenda 2010" auf den Tisch wie ein Politruk, der seine Befehle ausgibt. Und die nächste Generation - die der "Urenkel" - setzt das fort. Andrea Nahles ließ Müntefering eiskalt auflaufen, als sie ihn in der zentralen Frage des Generalsekretärs in die Minderheit manövrierte.

    Und jetzt - der "Spiegel" (Heft 41/2009 vom 5. 10. 2009, Seite 20ff) beschrieb es ebenso detailliert wie genüßlich - hat die "Viererbande" aus Nahles, Gabriel, Wowereit und Scholz bereits am Abend des Montags nach der Wahl personell alles klargemacht, ohne irgendein Gremium einzuschalten. Demokratischen Zentralismus nennen das die Kommunisten.



    Gewiß, es gibt viele Gründe für den Niedergang der SPD. Auch andere sozialdemokratische Parteien in Europa haben es derzeit schwer. Die Kommunisten machen in Deutschland den Sozialdemokraten zusätzlich zu schaffen. Und gewiß - ja, gern zugegeben - : Machiavellismus gibt es überall in der Politik. In jeder Partei wird gelegentlich mit harten Bandagen gekämpft.

    In dieser heutigen SPD ist aber das Kämpfen nicht nur mit harten Bandagen, sondern mit Tritten und mit Schlägen unter die Gürtellinie zum bestimmenden Stil geworden. In keiner Partei geht es heute so unsolidarisch zu wie in dieser Partei, die seit fast eineinhalb Jahrhunderten die Solidarität propagiert.

    Schon dürfen wir uns auf neue Gladiatorenkämpfe freuen. In der Viererbande, die jetzt in der SPD das Ruder übernommen hat, ist man sich gegenseitig spinnefeind. Gabriel und Scholz pflegen, wie man in dem zitierten "Spiegel"- Artikel nachlesen kann, eine tiefempfundene Feindschaft. Gabriel und Nahles mögen einander so wenig, daß sie bisher kaum miteinander kommuniziert haben.

    Man mag das mit grimmiger Freude beobachten. Man mag sich als Liberaler, als Konservativer darüber freuen, wie dieser Partei, die so ein jämmerliches Bild bietet, die Wähler davonlaufen. Ich kann mich darüber nicht freuen. Denn eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn es eine Opposition gibt, die jederzeit regierungsfähig ist. Die SPD in ihrem heutigen Zustand, gar im Bündnis mit den Kommunisten oder mit ihnen zu einer SED 2.0 wiedervereinigt, ist das nicht.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Banner des SPD Ortsverein Uetersen, Gründungsjahr 1874. Vom Autor Huhu Uet unter GNU Free Documentation License, Version 1.2 order später, in die Public Domain gestellt.