31. Oktober 2006

Zum Reformationstag: Mein Luther

Mit dem Theologen Luther kann ich wenig anfangen. Dennoch hat mich diese Gestalt seit meiner Kindheit beschäftigt, in meiner Kindheit sogar sehr mit Beschlag belegt.

Die meisten christlichen Theologen vor Luther sind auch Philosophen gewesen. Teils noch in der antiken Philosophie wurzelnd, wie Augustinus. Teils mit ihr, auf dem Weg über die arabische Tradition, erneut bekanntgeworden. Albertus Magnus und Thomas von Aquin waren ebenso Theologen und Philosophen wie Robert Grosseteste und Witelo, beide sogar Naturwissenschaftler; in der Bibel ebenso bewandert wie in den Schriften der antiken Philosophie. Das war so bis zum Ausgang der Scholastik und dem Anbruch der Neuzeit, bis zu Roger Bacon, Wilhelm von Ockham, Nikolaus von Kues.

Knapp zwanzig Jahre nach dem Tod von Nikolaus von Kues wurde Luther geboren - aber welche andere Art von Theologe war das! Gewiß, auch er hatte die Artes studiert, war auf der Erfurter Universität mit Aristoteles bekanntgemacht worden. Aber das interessierte ihn augenscheinlich nicht. Was ihn interessierte, was ihn beherrschte, das war allein die Bibel. Sola Scriptura, nur die Schrift - diese Luther'sche Maxime war zunächst natürlich gegen die neben der Bibel bestehenden Traditionen gerichtet. Aber man kann es auch so verstehen, daß ihn anderes Geschriebenes nicht berührte. Nicht Aristoteles und nicht Avicenna und Averroes. Sofern man ihn überhaupt als Philosophen sehen kann, war Martin Luther Lebensphilosoph, in manchem dem modernen Existenzialismus nicht fern.




Seit meiner Kindheit bin ich mit dieser Gestalt Luther vertraut; ich konnte ihr nachgerade nicht entgehen. Die Lebensgeschichte Luthers war ein Hauptthema im evangelischen Religionsunterricht, im Kindergottesdienst, bei der Unterrichtung von uns Konfirmanden.

Wir Protestanten haben ja keine Heiligenlegenden. Einen gewissen Ersatz bot da das Leben Luthers, das folglich ausführlich und ergreifend geschildert wurde:
  • Der junge Mann, dem es, auf dem Weg zur Universität, widerfährt, daß ein Blitz neben ihm einschlägt, und der augenblicks gelobt, Mönch zu werden. Der Mann, der auf seiner Romreise die Verderbtheit der Kurie kennenlernt, der sich mit dem Ablaßhändler Tetzel anlegt.

  • Der Magister, der seine Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg anschlägt, unbeirrt seine Überzeugung vertretend. Der einsame Tapfere, der vor dem Reichstag in Worms sein "Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen" spricht. Der Theologe, der mit dem Dr. Eck disputiert, ihn "DrEck" nennt und sein "est!" gar ins Holz ritzt - das ist mein Leib, mein Blut, in der Eucharistie. Nicht "es bedeutet", wie es die Zwinglianer wahr haben wollten.

  • Luther, der Junker Jörg, der auf der Wartburg die Bibel übersetzt und sein Tintenfaß auf den Teufel schleudert, der ihn versuchen will. Der Begründer des evangelischen Pfarrhauses schließlich, mit seiner Katharina von Bora, umgeben von vielen Kindern, aufgesucht von Gästen aus aller Welt, ihn bewundernd.
  • Danach verlor sich die Heiligenlegende, wie sie uns Kindern und Jugendlichen nahegebracht wurde. Von den Bauernkriegen erfuhren wir wenig; nichts von der Art, wie Luther gegen die aufständischen Bauern Partei ergriff und später deswegen Gewissensbisse hatte.

    Und von seiner Theologie, erfuhren wir von ihr etwas? Ja und nein. Wir lernten eigentlich nur, daß Luther zurück zur Bibel wollte, daß er sozusagen das wahre Christentum wieder einrichten wollte. Daß es überhaupt so etwas wie eine Luther'sche Theologie gibt, das gehörte nicht zum Lehrstoff.



    Und doch lernte ich sie kennen, diese Luther'sche Theologie. Sozusagen hautnah und nicht ohne Staunen. Denn der Pfarrer unserer Gemeinde, zugleich mein Religionslehrer auf dem Gymnasium, war ein Lutheraner kat' exochen. Also ging es, im Kindergottesdienst wie im Erwachsenengottesdienst, immer wieder um dieses eine, diese überragende Thema:

    Wir Menschen, so wurde uns gepredigt, seien so schlecht, daß es völlig hoffnungslos sei, aus eigener Kraft Erlösung zu finden. Wir seien nun einmal allzumal Sünder, und daran könne keine noch so gute Tat, kein noch so guter Wille etwas ändern. Aus unseren Werken heraus in den Zustand der Erlösung zu gelangen, das könnten wir vergessen.

    Und wenn wir Kinder, wir Jugendliche dann niedergemacht waren, zerknirscht und verzweifelt (oder es jedenfalls hätten sein sollen), dann wendete sich das Blatt, in allen diesen Predigten, Konfirmandenstunden, im Religionsunterricht: Nein, wir seien nicht verloren; durchaus nicht, keineswegs.

    Weit gefehlt! Denn selig werden könnten wir aus dem Glauben heraus. Das war der Rettungsanker, den uns der Pastor zuwarf, nachdem er uns in rauher See hatte treiben lassen, nah dem Untergang.



    Ja, wie konnte das denn zugehen? Bedurfte es für diese Gnade, die Gott bereit war uns zu gewähren, denn gar keiner Gegenleistung? Doch.

    Und nun kam der letzte, der erschütterndeste Teil dieser Standard-Predigt. Paulus. Römerbrief. Wir werden durch den Glauben erlöst - aber nur, weil Jesus unsere Sünden auf sich genommen hat und dafür gestorben ist. Es auf sich genommen hatte, dafür "am Galgen zu hängen", so formulierte es der Pastor.

    Es muß, es mußte also schon ein Preis bezahlt werden für unsere Sünden. Ein fürchterlicher, ein entsetzlicher Preis sogar. Aber nicht von uns selbst, das könnten wir gar nicht. Sondern Gott ist auf die Erde herabgestiegen und hat sich selbst geopfert, damit wir gerettet würden.

    Welch ein Opfer! Wie klein, wie jämmerlich waren wir dagegen!

    Am Boden zerstört sollten wir sein, niedergedrückt von der Last unserer Sündhaftigkeit. Das machte uns der Pfarrer immer wieder deutlich. Allein aufstehen konnten wir nicht, jeder Versuch dazu war lächerlich. Aber wir konnten jeden Stolz, jedes Selbstgefühl fahren lassen, unsere Sündhaftigkeit eingestehen und dann das wunderbare Geschenk des Gottes entgegennehmen, der sich für uns geopfert hatte: Seine Gnade, ganz unverdient, aber uns fest zugesagt.

    Sofern wir glaubten. Und so wurde doch noch alles gut.



    Ich habe mich nach meiner Jugend nie mehr mit Luther beschäftigt und weiß nicht, wieweit diese Darstellung seiner Theologie - denn das war es, nur wurde es uns eben als die schlichte christliche Wahrheit gepredigt - wissenschaftlich haltbar ist.

    Gut möglich, daß der historische Luther ganz anders dachte als der Luther, den uns der Pastor zur Kenntnis gab. Ich weiß das nicht. Ich vermute aber sehr, daß dieses düstere, inhumane Christentum, das uns vermittelt wurde, von vielen lutheranischen (und auch calvinistischen) Pastoren so gepredigt wird.



    Ich hatte an die Predigten dieses Pastors - Gott hab ihn selig! - lange nicht mehr gedacht, als ich als Student mit den Filmen Ingmar Bergmanns bekannt wurde. Sohn eines lutherischen Pastors. Da fand ich das alles wieder - diese Verquältheit, diese Hoffnungslosigkeit vor allem. Das war die Grundstimmung seiner frühen Filme, die ich damals sah; "Die Jungfrauenquelle", "Das siebte Siegel", "Wilde Erdbeeren".

    Später dann habe ich den Film gesehen, "Fanny und Alexander", in dem Bergmann selbst den Bezug zum lutherischen Elternhaus unübersehbar thematisiert hat.



    Nein, mein Luther ist keiner, an den ich mich gern erinnere. Obwohl natürlich Prägungen bleiben, obwohl konditionierte Reflexe bleiben. Wenn ich "Ein feste Burg ist unser Gott" höre, dann bewirkt das schon noch Emotionen. Jenen Choral mit der zentralen Verszeile: "Mit unsrer Kraft ist nichts getan, wir sind gar bald verloren".

    Das war's, mein damaliges kindliches und adoleszentes Christentum, in a nutshell.