15. April 2007

Oettinger, Filbinger, die RAF, die Achtundsechziger (1): Eine Trauerrede

In den letzten Tagen habe ich mich oft gefragt, ob die Deutschen sich, nach dem heiteren, ausgelassenen Freudenrausch des vergangenen Sommers, in diesem verfrühten Frühsommer in eine Art kollektives absurdes Happening, ein groteskes Theater begeben haben, in dem jeder mitspielen darf.

Nun gut, die meisten spielen nicht mit, nicht einmal als Statisten. Aber wenn man die Zeitungen anschaut, wenn man die TV-Nachrichten verfolgt, dann hat man den Eindruck, eine Welle der Empörung gehe durchs Land.

Was ist geschehen?

Es hat jemand eine Trauerrede gehalten. Trauerreden haben eine bestimmte Funktion, und aus ihrer Funktion ergibt sich ein bestimmter Inhalt. Sie sollen die Hinterbliebenen trösten, sie sollen die Trauer, die Mitbetroffenheit anderer zum Ausdruck bringen, ihnen sozusagen eine Wendung ins Positivere, ins Erträglichere geben.

Also wird der Verstorbene gelobt, wird Ehrendes über ihn gesagt. De mortuis nil nisi bene, so hielt man es schon in der Antike.



So war es, als kürzlich Mischa Wolf zu Grabe getragen wurde, der Stellvertreter Erich Mielkes. Ein Mann, über den man nun allerdings viel Negatives hätte sagen können.

Bei anderen Gelegenheiten, aber natürlich nicht an seinem Grab. Dort war nur Lobendes zu hören, und niemand hat das öffentlich kritisiert.

Als ich mich damals damit befaßt habe, galt meine Kritik allein dem Umstand, daß ausgerechnet der russische Botschafter die Haupt- Trauerrede gehalten hatte; ein für einen Diplomaten seltsames Hervortreten. Aber niemand wäre auf den Gedanken gekommen, zu bemängeln, daß keiner der Trauerredner - unter ihnen auch Manfred Wekwerth, der Brecht- Schüler - auf die Untaten der Stasi eingegangen ist, auf die Straftaten, deretwegen Wolf verurteilt worden war.



Nun hat also Günther Oettinger die Trauerrede für Hans Filbinger gehalten. Der heutige Ministerpräsident für den Ministerpräsidenten vor dreißig, vierzig Jahren. Der heutige Chef der CDU im Südwesten für deren seinerzeitigen Chef.

In dieser Rede hat er das gesagt, was nun seit Tagen die Wogen hochgehen läßt:
"Hans Filbinger war kein Nationalsozialist. Im Gegenteil: Er war ein Gegner des NS-Regimes. Allerdings konnte er sich den Zwängen des Regimes ebenso wenig entziehen wie Millionen andere.

Wenn wir als Nachgeborene über Soldaten von damals urteilen, dann dürfen wir nie vergessen: Die Menschen lebten damals unter einer brutalen und schlimmen Diktatur. Hans Filbinger wurde - gegen seinen Willen - zum Ende des Krieges als Marinerichter nach Norwegen abkommandiert. (...)

Es gibt kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte. Und bei den Urteilen, die ihm angelastet werden, hatte er entweder nicht die Entscheidungsmacht oder aber nicht die Entscheidungsfreiheit, die viele ihm unterstellen.

Hans Filbinger hat mindestens zwei Soldaten das Leben gerettet. Einer von ihnen, Guido Forstmeier, weilt noch heute unter uns und kann bezeugen, dass sich Filbinger damals großer Gefahr ausgesetzt hat. (...)

Hans Filbinger hat also die schreckliche erste Hälfte des letzten Jahrhunderts nicht nur erlebt, er hat sie auch erlitten."
Wegen dieser Passage seiner Trauerrede hat Rolf Hochhut den Ministerpräsidenten Oettinger als einen "Lügner" bezeichnet. Bundestags- Vizepräsident Thierse nannte die Rede "peinlich und dreist". Ute Vogt, die Oppositionsführerin im Stuttgarte Landtag, sprach von "Geschichtsklitterei". Claudia Roth forderte eine "eindeutige Entschuldigung".



Bei wem sich Oettinger nach Roths Ansicht wofür entschuldigen soll, wird nicht berichtet. Wie überhaupt die Kritik zwar laut und empört erschallt, aber niemand von den Kritikern sagt, in welchem Punkt eigentlich Oettinger gelogen habe, welche Aussage in seiner Rede denn dreist sei, wo er denn die Geschichte geklittert habe.

Sie sagen das nicht, jedenfalls nicht konkret und mit Belegen, weil es diese Punkte nicht gibt.

Dafür, daß Filbinger Nationalsozialist war, ist bisher kein einziger Beleg vorgewiesen worden. Niemand hat bekundet, daß er sich antisemitisch oder sonstwie als Nazi geäußert habe, daß er diesen Unrechtsstaat gepriesen, daß er seine Ideologie bejaht hätte. Wohl aber gibt es starke Hinweise darauf, daß er ein Gegner der Nazis war.

Der deutlichste ist, daß zwei der Widerständler des 20. Juli, Dr. Karl Sack und Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, ihn - man kann das bei Günther Gillessen nachlesen - ohne sein Wissen dem Stadtkommandanten von Berlin, Paul von Hase, einer zentralen Figur des Widerstands, für ein Amt nach dem Sturz der Nazis empfohlen haben. Und zwar mit der Aussage, auf Filbingers "antinationalsozialistische Grundsatztreue und Loyalität" könne man sich jederzeit verlassen.

Ebensowenig gibt es historische Belege gegen das, was Oettinger über Filbingers Tätigkeit als Marinestabsrichter gesagt hat. (Es sei denn, man glaubt Rolf Hochhuth, was man freilich nicht empfehlen kann). Wer die Details erfahren möchte, dem empfehle ich nochmals nachdrücklich die Arbeit von Günther Gillessen.



Woher also dieses Gewitter, das auf Oettinger niedergeht? Wie kommt es, daß eine Trauerrede, die, wie jede Trauerrede, nur Positives über den Verstorbenen enthielt, aber nichts Falsches oder sonstwie Bedenkliches, zu einer derart ausufernden öffentlichen Diskussion führen konnte?

Dazu möchte ich im zweiten Teil eine Hypothese zur Diskussion stellen. Ich will versuchen, diese gegenwärtige Aufgeregtheit in den Kontext der Auseinandersetzungen um die Meinungsdominanz zu stellen, wie sie sich in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben. Ich sehe in dem jetzigen Geschehen so etwas wie den Versuch eines Befreiungsschlags einer Linken, die seit Anfang der siebziger Jahre das Meinungsklima in Deutschland beherrschte, die aber in den vergangenen Jahren zunehmend in die Defensive geraten ist.