Der Fall Oettinger ist so schnell zu Ende gegangen, wie er plötzlich begonnen hatte. Oettinger ist zur Strecke gebracht. Die Waidmänner können die Jagd abblasen. Hase tot. Jagd vorbei. Halali.
Jetzt ist es, denke ich, an der Zeit, sich ein wenig mit den Hintergründen solcher "Fälle" zu befassen.
Den sozialpsychologischen und politischen Hintergrund, nämlich den - so meine Hypothese - Befreiungsschlag einer in den vergangenen Jahren in die Defensive geratenen Linken, was die moralische Meinungsdominanz angeht, habe ich hier zu skizzieren versucht.
Jetzt soll es, wie angekündigt, um die sachlichen Fragen gehen, die in dem Fall im Hintergrund standen, und die zu diskutieren sich lohnt.
Einiges habe ich in Kommentaren in anderen Blogs dazu geschrieben, zum Beispiel bei meinen Freunden von FdoG und WMD. Mit dem jetzigen Beitrag will ich den Blick darauf richten, daß der Fall Filbinger/ Oettinger ja auch etwas mit Wissenschaft zu tun hat: Mit Geschichtsschreibung; genauer mit Zeitgeschichte.
Geschichtsschreibung ist lange keine Wissenschaft gewesen.
Nichts lag den älteren Historikern ferner als das Bemühen um wissenschaftliche Objektivität und Genauigkeit.
Man schrieb in bestimmten Absichten. Herodot und Xenophon beschrieben aus griechischer Sicht den Kampf der Griechen gegen die Perser; Caesar schrieb über den Gallischen Krieg, um seine militärischen Erfolge für den politischen Kampf im rechten Licht erscheinen zu lassen.
Gewiß versuchte Herodot so etwas wie Quellenkritik. Aber da ging es doch darum, zwischen verschiedenen Varianten einer Geschichte zu entscheiden. Das stand im Dienst der politischen, auch der künstlerischen Absicht.
Daß der Historiker seine eigenen Interessen, seine politischen Überzeugungen, die Sichtweise seiner Zeit so weit zurückzustellen hat, wie das jeder Wissenschaftler tun muß, ist eine Erkenntnis, die sich erst im szientistischen 19. Jahrhundert durchsetzte. Sich freilich nicht durchweg durchsetzte; Treitschke war ein Gegenbeispiel.
Aber Leopold von Rankes Forderung, zu schreiben, "wie es eigentlich gewesen ist", wurde doch als Postulat akzeptiert.
Rückschlage gab es dann, das ist wahr; die schändliche Verfälschung der Geschichte durch die Nazis und die Kommunisten war ein solcher Rückschritt, wie ja überhaupt der Totalitarismus des Zwanzigsten Jahrhunderts ein fürchterlicher zivilisatorischer Rückfall gewesen ist.
Nun hat es der Historiker mit der wissenschaftlichen Objektivität freilich schwerer als der Physiker oder, sagen wir, der Neurobiologe. Einen "rückwärtsgewandten Propheten" hat ihn Friedrich Schlegel genannt.
In der Tat: Geschichte schreiben heißt, Lücken zu füllen. Man hat ja das Vergangene nicht in allen seinen Facetten zur Verfügung. Sondern man hat mehr oder weniger vollständige Quellen, Indizien, Dokumente, Artefakte. Aus denen sucht man zu rekonstruieren, wie es "eigentlich gewesen" ist.
Und dabei kommt natürlich die eigene Weltsicht, kommen die eigenen Vorurteile und politischen Überzeugungen des Historikers ihm in die Quere. Er muß bei seinem Versuch der Rekonstruktion mit denjenigen kognitiven Strukturen arbeiten, die ihm nun einmal zur Verfügung stehen.
Geschichte schreiben - das ist, wenn es ein wissenschaftlich ernsthaftes Unternehmen ist, der ständige Kampf gegen die eigene Subjektivität des Historikers.
Dann jedenfalls, wenn er ein guter, ein wissenschaftlich arbeitender Historiker ist. Wenn er die Geschichte nicht als einen Steinbruch mißbraucht, aus dem er die Quader für das entnimmt, was er zum Behuf seiner eigenen Interessen, oder derjeniger seiner Partei, seiner Weltanschauung zu konstruieren trachtet.
Wenn er sich nicht gar prostituiert, wie die marxistischen Historiker, die jedes Streben nach Objektivität haben fahren lassen; weil ja jede Erkenntnis eh Ausdruck von Klasseninteresse sei.
Die großen Historiker haben gezeigt, daß Objektivität in erstaunlichem Maß möglich ist; Gibbons "Decline and Fall of the Roman Empire" und Rankes "Römische Geschichte" sind große Beispiele für eine Geschichtsschreibung, die sich strikt an ihren Gegenstand hält. Beide wunderbar zu lesen, noch dazu; Dokumente einer unglaublichen Gelehrsamkeit.
Ich nähere mich jetzt allmählich wieder dem Fall Filbinger. Der nämlich zeigt paradigmatisch, wie schwer objektive Geschichtsschreibung sein kann.
Sie ist immer dann besonders schwer, wenn es um Zeitgeschichte geht. Das war das Handicap Xenophons und Caesars: Daß sie von Selbsterlebtem schrieben; also von dem, worin sie ihre eigenen Interessen investiert hatten. Auch Herodot schrieb über die Perser im Kontext der anhaltenden Auseinandersetzung der Griechen mit den Persern.
Zeitgeschichte zu schreiben geht im Grenzfall in politische Schriftstellerei, im schlimmsten Fall in politische Polemik über. Oft ist das auch gar nicht anders möglich. Angesichts der himmelschreienden Verbrechen der Nazis konnte man nach 1945 nicht gut sine ira et studio über sie schreiben; man konnte es auch nicht über Stalin, Mao, Pol Pot, nachdem deren Verbrechen offenbar geworden waren.
Das ist eine Frage des Erlebenshorizonts. Wahrscheinlich ist der kühle Blick des Historikers erst nach ungefähr hundert Jahren möglich - das heißt, wenn Historiker heranwachsen, deren Eltern nicht nur, sondern auch deren Groß- und Urgroßeltern nicht mehr Zeitzeugen gewesen sind. Arno Schmidt hat Ähnliches einmal in Bezug auf Oppermanns "Hundert Jahre" erörtert.
Die Frage, ob Filbinger "ein Nazi" war, wirft viele Teil- Fragen auf. Spricht man vom 22jährigen Filbinger, der einen dummen Aufsatz schrieb? Oder vom über Dreißigjährigen, der als Militärrichter urteilen mußte? Meint man seine Gesinnung, oder spricht man von seiner Anpassung an die Diktatur, in der er nun einmal lebte? Auf welche Aussagen, Dokumente, Handlungen stützt man sich?
Für den objektiven, sine ira et studio forschenden Historiker tun sich da, wie man leicht erkennt, zahllose Schwierigkeiten, Probleme des Operationalisierens, des Verifizierens auf.
Mir ist das deutlich geworden, als ich im Geist die entsprechende Frage in Bezug auf Kommunisten in der DDR durchgespielt habe:Wer war in der DDR ein "Kommunist"?
Derjenige, der von der Richtigkeit des Marxismus- Leninismus als "einzige wissenschaftliche Weltanschauung" überzeugt war? Das dürfte, jedenfalls in der letzten Phase der DDR, eine kleine Minderheit nicht nur der Bürger gewesen sein, sondern auch der Nomenklatura.
War in der DDR jeder "Kommunist", der der SED oder einer ihrer Blockparteien angehörte? Oder einer der zahllosen gesellschaftlichen Organisationen; sagen wir, der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft? Dann gab es in der DDR viele Millionen Kommunisten; sicherlich die Mehrzahl der Bevölkerung.
Oder war jeder ein Kommunist, der sich mit diesem Staat arrangiert hatte? Der sich dem "Aufbau des Sozialismus" zumindest nicht aktiv widersetzte? Dann waren die Befürworter einer "Kirche im Sozialismus", Leute wie Stolpe, Kommunisten. Dann waren 90, vielleicht 95 oder 98 Prozent der DDR-Bevölkerung Kommunisten.
Und wer war ein "Gegner des Kommunismus"? Jeder, der lieber in der Bundesrepublik gelebt hätte, als in der DDR? Das dürfte, wie das Jahr 1989 zeigte, die große Mehrheit der Bevölkerung gewesen sein.
Oder wer sich der Mitgliedschaft in allen Organisationen der Kommunisten verweigerte? Dann war nur eine kleine Minderheit Gegner des Kommunismus. Angela Merkel gehörte dann nicht dazu.
Oder wer sich weigerte, in einer Einrichtung dieses Staats zu arbeiten? Dann war beispielsweise Wolfgang Thierse kein Gegner des Kommunismus, der Mitarbeiter in einem DDR- Ministerium gewesen war, wenn auch nur einige Jahre.
Oder war nur Gegner des Kommunismus, wer aktiv gegen ihn gearbeitet, sich also der Gefahr einer Verhaftung, einer langjährigen Gefängnisstrafe ausgesetzt hat? Dann waren es vielleicht ein paar Tausend von siebzehn Millionen, die Gegner des Kommunismus waren, in der DDR.
Ich kannte zu DDR-Zeiten einen Kollegen, der "Reisekader" war, also in den Westen zu Konferenzen reisen, sogar Gastprofessuren wahrnehmen durfte. Natürlich war er Mitglied der SED; sonst hätte er das niemals gedurft.
Er hat mir damals erzählt, wie er auf jeder seiner Reisen ohne Unterbrechung beobachtet wurde; etliche Agenten von Markus Wolf waren ihm offenbar immer auf den Fersen. Er war kein Marxist, aber er hielt viel von der Idee des Sozialismus; in gewisser Weise war er ein überzeugter, wenn auch sehr kritischer DDR-Bürger. War er Kommunist?
Mein Patenonkel war Soldat im Zweiten Weltkrieg und, wie Filbinger, Jurist. Er wurde aber nicht als Militärrichter verwendet, sondern als schlichter Gefreiter. Er war als Student Mitglied der NSDAP geworden.
Als Soldat sagte er seine Meinung über die Nazis so unverblümt, daß er nur knapp dem Kriegsgericht entging. Ich habe in seinem Nachlaß Briefe gefunden, in denen er damals mit geradezu tollkühner Leichtfertigkeit - seine Briefe hätten ja abgefangen werden können - vernichtend über die Nazis urteilte.
Aber er war Mitglied der NSDAP; er hatte bei Carl Schmitt promoviert. War er Nazi?
Also, wenn man objektiv zu sein versucht, dann sind das alles sehr schwierige Fragen.
Aber es ist ja nicht die raison d'être von Politikern, objektiv zu sein.
Natürlich gibt es einen Handlungskontext, in dem man sich nicht die Blässe des Gedankens leisten kann. Man fragt sich dann, wie vermutlich Angela Merkel, nicht, ob Oettinger mit seiner Charakterisierung von Filbinger im Recht oder im Unrecht gewesen war, sondern welche politische Wirkung seine Trauerrede hatte und noch weiter haben konnte.
Wer unter den Nazis, wer unter den Kommunisten gelitten hat, wessen Verwandte vielleicht von den Nazis ermordet wurden, dem wird man keine Objektivität abverlangen können.
Nur - und das ist jetzt meine subjektive Bemerkung zum Objektiven: Ich selbst lebe nun einmal in einer beruflichen, aber auch persönlichen Welt, in der es mir darum geht, ob etwas wahr ist oder falsch.
Und ich schreibe deshalb einen Blog, statt mich aktiv politisch zu betätigen, weil ich mir diese um Objektivität bemühte, diese sich nicht an der Wirkung orientierende Sichtweise erlauben möchte.
Jetzt ist es, denke ich, an der Zeit, sich ein wenig mit den Hintergründen solcher "Fälle" zu befassen.
Den sozialpsychologischen und politischen Hintergrund, nämlich den - so meine Hypothese - Befreiungsschlag einer in den vergangenen Jahren in die Defensive geratenen Linken, was die moralische Meinungsdominanz angeht, habe ich hier zu skizzieren versucht.
Jetzt soll es, wie angekündigt, um die sachlichen Fragen gehen, die in dem Fall im Hintergrund standen, und die zu diskutieren sich lohnt.
Einiges habe ich in Kommentaren in anderen Blogs dazu geschrieben, zum Beispiel bei meinen Freunden von FdoG und WMD. Mit dem jetzigen Beitrag will ich den Blick darauf richten, daß der Fall Filbinger/ Oettinger ja auch etwas mit Wissenschaft zu tun hat: Mit Geschichtsschreibung; genauer mit Zeitgeschichte.
Geschichtsschreibung ist lange keine Wissenschaft gewesen.
Nichts lag den älteren Historikern ferner als das Bemühen um wissenschaftliche Objektivität und Genauigkeit.
Man schrieb in bestimmten Absichten. Herodot und Xenophon beschrieben aus griechischer Sicht den Kampf der Griechen gegen die Perser; Caesar schrieb über den Gallischen Krieg, um seine militärischen Erfolge für den politischen Kampf im rechten Licht erscheinen zu lassen.
Gewiß versuchte Herodot so etwas wie Quellenkritik. Aber da ging es doch darum, zwischen verschiedenen Varianten einer Geschichte zu entscheiden. Das stand im Dienst der politischen, auch der künstlerischen Absicht.
Daß der Historiker seine eigenen Interessen, seine politischen Überzeugungen, die Sichtweise seiner Zeit so weit zurückzustellen hat, wie das jeder Wissenschaftler tun muß, ist eine Erkenntnis, die sich erst im szientistischen 19. Jahrhundert durchsetzte. Sich freilich nicht durchweg durchsetzte; Treitschke war ein Gegenbeispiel.
Aber Leopold von Rankes Forderung, zu schreiben, "wie es eigentlich gewesen ist", wurde doch als Postulat akzeptiert.
Rückschlage gab es dann, das ist wahr; die schändliche Verfälschung der Geschichte durch die Nazis und die Kommunisten war ein solcher Rückschritt, wie ja überhaupt der Totalitarismus des Zwanzigsten Jahrhunderts ein fürchterlicher zivilisatorischer Rückfall gewesen ist.
Nun hat es der Historiker mit der wissenschaftlichen Objektivität freilich schwerer als der Physiker oder, sagen wir, der Neurobiologe. Einen "rückwärtsgewandten Propheten" hat ihn Friedrich Schlegel genannt.
In der Tat: Geschichte schreiben heißt, Lücken zu füllen. Man hat ja das Vergangene nicht in allen seinen Facetten zur Verfügung. Sondern man hat mehr oder weniger vollständige Quellen, Indizien, Dokumente, Artefakte. Aus denen sucht man zu rekonstruieren, wie es "eigentlich gewesen" ist.
Und dabei kommt natürlich die eigene Weltsicht, kommen die eigenen Vorurteile und politischen Überzeugungen des Historikers ihm in die Quere. Er muß bei seinem Versuch der Rekonstruktion mit denjenigen kognitiven Strukturen arbeiten, die ihm nun einmal zur Verfügung stehen.
Geschichte schreiben - das ist, wenn es ein wissenschaftlich ernsthaftes Unternehmen ist, der ständige Kampf gegen die eigene Subjektivität des Historikers.
Dann jedenfalls, wenn er ein guter, ein wissenschaftlich arbeitender Historiker ist. Wenn er die Geschichte nicht als einen Steinbruch mißbraucht, aus dem er die Quader für das entnimmt, was er zum Behuf seiner eigenen Interessen, oder derjeniger seiner Partei, seiner Weltanschauung zu konstruieren trachtet.
Wenn er sich nicht gar prostituiert, wie die marxistischen Historiker, die jedes Streben nach Objektivität haben fahren lassen; weil ja jede Erkenntnis eh Ausdruck von Klasseninteresse sei.
Die großen Historiker haben gezeigt, daß Objektivität in erstaunlichem Maß möglich ist; Gibbons "Decline and Fall of the Roman Empire" und Rankes "Römische Geschichte" sind große Beispiele für eine Geschichtsschreibung, die sich strikt an ihren Gegenstand hält. Beide wunderbar zu lesen, noch dazu; Dokumente einer unglaublichen Gelehrsamkeit.
Ich nähere mich jetzt allmählich wieder dem Fall Filbinger. Der nämlich zeigt paradigmatisch, wie schwer objektive Geschichtsschreibung sein kann.
Sie ist immer dann besonders schwer, wenn es um Zeitgeschichte geht. Das war das Handicap Xenophons und Caesars: Daß sie von Selbsterlebtem schrieben; also von dem, worin sie ihre eigenen Interessen investiert hatten. Auch Herodot schrieb über die Perser im Kontext der anhaltenden Auseinandersetzung der Griechen mit den Persern.
Zeitgeschichte zu schreiben geht im Grenzfall in politische Schriftstellerei, im schlimmsten Fall in politische Polemik über. Oft ist das auch gar nicht anders möglich. Angesichts der himmelschreienden Verbrechen der Nazis konnte man nach 1945 nicht gut sine ira et studio über sie schreiben; man konnte es auch nicht über Stalin, Mao, Pol Pot, nachdem deren Verbrechen offenbar geworden waren.
Das ist eine Frage des Erlebenshorizonts. Wahrscheinlich ist der kühle Blick des Historikers erst nach ungefähr hundert Jahren möglich - das heißt, wenn Historiker heranwachsen, deren Eltern nicht nur, sondern auch deren Groß- und Urgroßeltern nicht mehr Zeitzeugen gewesen sind. Arno Schmidt hat Ähnliches einmal in Bezug auf Oppermanns "Hundert Jahre" erörtert.
Die Frage, ob Filbinger "ein Nazi" war, wirft viele Teil- Fragen auf. Spricht man vom 22jährigen Filbinger, der einen dummen Aufsatz schrieb? Oder vom über Dreißigjährigen, der als Militärrichter urteilen mußte? Meint man seine Gesinnung, oder spricht man von seiner Anpassung an die Diktatur, in der er nun einmal lebte? Auf welche Aussagen, Dokumente, Handlungen stützt man sich?
Für den objektiven, sine ira et studio forschenden Historiker tun sich da, wie man leicht erkennt, zahllose Schwierigkeiten, Probleme des Operationalisierens, des Verifizierens auf.
Mir ist das deutlich geworden, als ich im Geist die entsprechende Frage in Bezug auf Kommunisten in der DDR durchgespielt habe:Wer war in der DDR ein "Kommunist"?
Derjenige, der von der Richtigkeit des Marxismus- Leninismus als "einzige wissenschaftliche Weltanschauung" überzeugt war? Das dürfte, jedenfalls in der letzten Phase der DDR, eine kleine Minderheit nicht nur der Bürger gewesen sein, sondern auch der Nomenklatura.
War in der DDR jeder "Kommunist", der der SED oder einer ihrer Blockparteien angehörte? Oder einer der zahllosen gesellschaftlichen Organisationen; sagen wir, der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft? Dann gab es in der DDR viele Millionen Kommunisten; sicherlich die Mehrzahl der Bevölkerung.
Oder war jeder ein Kommunist, der sich mit diesem Staat arrangiert hatte? Der sich dem "Aufbau des Sozialismus" zumindest nicht aktiv widersetzte? Dann waren die Befürworter einer "Kirche im Sozialismus", Leute wie Stolpe, Kommunisten. Dann waren 90, vielleicht 95 oder 98 Prozent der DDR-Bevölkerung Kommunisten.
Und wer war ein "Gegner des Kommunismus"? Jeder, der lieber in der Bundesrepublik gelebt hätte, als in der DDR? Das dürfte, wie das Jahr 1989 zeigte, die große Mehrheit der Bevölkerung gewesen sein.
Oder wer sich der Mitgliedschaft in allen Organisationen der Kommunisten verweigerte? Dann war nur eine kleine Minderheit Gegner des Kommunismus. Angela Merkel gehörte dann nicht dazu.
Oder wer sich weigerte, in einer Einrichtung dieses Staats zu arbeiten? Dann war beispielsweise Wolfgang Thierse kein Gegner des Kommunismus, der Mitarbeiter in einem DDR- Ministerium gewesen war, wenn auch nur einige Jahre.
Oder war nur Gegner des Kommunismus, wer aktiv gegen ihn gearbeitet, sich also der Gefahr einer Verhaftung, einer langjährigen Gefängnisstrafe ausgesetzt hat? Dann waren es vielleicht ein paar Tausend von siebzehn Millionen, die Gegner des Kommunismus waren, in der DDR.
Ich kannte zu DDR-Zeiten einen Kollegen, der "Reisekader" war, also in den Westen zu Konferenzen reisen, sogar Gastprofessuren wahrnehmen durfte. Natürlich war er Mitglied der SED; sonst hätte er das niemals gedurft.
Er hat mir damals erzählt, wie er auf jeder seiner Reisen ohne Unterbrechung beobachtet wurde; etliche Agenten von Markus Wolf waren ihm offenbar immer auf den Fersen. Er war kein Marxist, aber er hielt viel von der Idee des Sozialismus; in gewisser Weise war er ein überzeugter, wenn auch sehr kritischer DDR-Bürger. War er Kommunist?
Mein Patenonkel war Soldat im Zweiten Weltkrieg und, wie Filbinger, Jurist. Er wurde aber nicht als Militärrichter verwendet, sondern als schlichter Gefreiter. Er war als Student Mitglied der NSDAP geworden.
Als Soldat sagte er seine Meinung über die Nazis so unverblümt, daß er nur knapp dem Kriegsgericht entging. Ich habe in seinem Nachlaß Briefe gefunden, in denen er damals mit geradezu tollkühner Leichtfertigkeit - seine Briefe hätten ja abgefangen werden können - vernichtend über die Nazis urteilte.
Aber er war Mitglied der NSDAP; er hatte bei Carl Schmitt promoviert. War er Nazi?
Also, wenn man objektiv zu sein versucht, dann sind das alles sehr schwierige Fragen.
Aber es ist ja nicht die raison d'être von Politikern, objektiv zu sein.
Natürlich gibt es einen Handlungskontext, in dem man sich nicht die Blässe des Gedankens leisten kann. Man fragt sich dann, wie vermutlich Angela Merkel, nicht, ob Oettinger mit seiner Charakterisierung von Filbinger im Recht oder im Unrecht gewesen war, sondern welche politische Wirkung seine Trauerrede hatte und noch weiter haben konnte.
Wer unter den Nazis, wer unter den Kommunisten gelitten hat, wessen Verwandte vielleicht von den Nazis ermordet wurden, dem wird man keine Objektivität abverlangen können.
Nur - und das ist jetzt meine subjektive Bemerkung zum Objektiven: Ich selbst lebe nun einmal in einer beruflichen, aber auch persönlichen Welt, in der es mir darum geht, ob etwas wahr ist oder falsch.
Und ich schreibe deshalb einen Blog, statt mich aktiv politisch zu betätigen, weil ich mir diese um Objektivität bemühte, diese sich nicht an der Wirkung orientierende Sichtweise erlauben möchte.