27. April 2007

Gedanken zu Frankreich (10): Demokratie und Extremismus

In diesem Beitrag in zwei, vielleicht auch mehr Teilen möchte ich eine These vortragen und begründen: Die Verfassungsgeschichte Frankreichs seit dem Zweiten Weltkrieg zeigt exemplarisch, wie der Extremismus - der rechte und der linke in ihrem Zusammenwirken - Demokratien lähmen und ihre Modernisierung verhindern kann. François Bayrous Konzept für eine Neugestaltung Frankreichs könnte ein Mittel gegen diese verderblichen Auswirkungen des Extremismus sein. Vor denen auch Deutschland bald stehen könnte.



Die Französische Vierte Republik litt unter exakt derselben Krankheit wie die deutsche Weimarer Republik und die italienische Nachkriegsrepublik: Einer Unfähigkeit zur Stabilität, die aus dem Zusammenwirken von drei Faktoren resultierte:
  • Ein Verhältniswahlrecht, das zahlreichen und insbesondere auch extremistischen Parteien die Repräsentation im Parlament erlaubt

  • Eine Verfassung, die der Legislative eine starke und der Exekutive eine schwache Stellung verleiht; die vor allem die Regierung vom - jederzeit entziehbaren - Vertrauen des Parlaments abhängig macht

  • Ein Präsident, der entweder nur geringe (Französische Vierte Republik; Nachkriegsitalien) Befugnisse hat oder dessen Befugnisse (Weimarer Republik) nur im Fall eines Notstands weitreichend sind; der jedenfalls nicht, wie in einem Präsidialsystem, ein konstantes Gegengewicht gegen die Macht der Legislative bildet.


  • In allen drei Verfassungssystemen hatte das weitgehend dieselben Folgen:
  • Extremistische - das heißt den demokratischen Rechtsstaat bekämpfende - Parteien waren im Parlament zwar nicht in der Mehrheit, aber doch so stark vertreten, daß es ohne ihre Einbeziehung weder eine rechte noch eine linke Mehrheit gab

  • Die demokratischen Parteien hatten also nur die Wahl, entweder Koalitionen aus Parteien mit sehr unterschiedlichen, oft entgegengesetzten Zielen zu bilden, oder aber eine Koalition mit Extremisten einzugehen.


  • In allen drei Republiken wählten die demokratischen, die Verfassung bejahenden Parteien lange Zeit die erste dieser beiden Möglichkeiten. Sie hielten an ihr fest, solange es irgend ging; so daß es in diesen Systemen, mit leichten Varianten, immer dieselbe Regierung gab:
  • Die "Weimarer Koalition", in der sich Sozialdemokraten, Liberale und Konservative irgendwie zusammenraufen mußten; was ihre Handlungsfähigkeit weitgehend lähmte

  • In Frankreich ganz analog die Koalition der Vierten Republik, die sich um die halb linken, halb rechten Radikalsozialisten (weder radikal noch Sozialisten, sondern Liberale) in nur leicht variierender Zusammensetzung von Regierungskrise zu Regierungskrise wieder neu formierte

  • In Italien die Democracia Cristiana mit mehr oder weniger weit in die Linke hineinreichenden Koalitionspartnern, je nach aktueller Konstellation.


  • Zusammen mit der Möglichkeit des Parlaments, der Regierung jederzeit das Vertrauen zu entziehen, führte das zu dem Krankheitsbild, das alle drei Republiken kennzeichnete:
  • An der Oberfläche ein ständiger Wechsel; man taumelt von Regierungskrise zu Regierungskrise

  • Dahinter aber regierte die Immobilität: Es waren ja immer dieselben Protagonisten, die am Ende doch wieder an der Macht waren; nur ihre Funktionen wechselten. Wer heute Ministerpräsident war, der war nach einer Regierungskrise halt Außenminister oder Parlaments- Präsident

  • Damit eine Unfähigkeit des politischen Systems, Probleme zu lösen. Niemand hat überhaupt ein Interesse an Problemlösungen. Da es keine Alternative zur bestehenden Koalition der Immobilität gibt, würde jede ernsthafte Reform im Gegenteil nur alle gefährden, die vom Machtkartell profitieren

  • Damit eine wachsende - und berechtigte - Skepsis in der Bevölkerung gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat
  • Was einen verhängnisvollen Rückkopplungsprozeß in Gang setzt: In dem Maß, in dem die Bürger dieses unfähige System ablehnen, tendieren sie dazu, ihre Stimme extremistischen Parteien zu geben. Womit sie die Probleme dieses Systems verstärken; die demokratischen Parteien immer mehr in ihr Kartell zwingen. Am Ende kollabiert das System.



    In Deutschland geschah das 1933.

    Von den beiden extremistischen Parteien, die die Demokratie zerstören wollten, gewann eine - die NSDAP - und setzte das um, was die andere - die KPD - liebend gern auch getan hätte: Die Vernichtung des freiheitlichen Rechtsstaats.

    Die anderen, als Zerstörer der Demokratie nicht zum Zug gekommenen Feinde der Demokratie haben sich danach lustigerweise als Verteidiger just dieser Demokratie präsentiert. (Vermutlich hätten die Nazis dasselbe getan, wenn 1933 die Kommunisten gewonnen hätten).

    Frankreich hatte mehr Glück: Als 1958 das parlamentarische System so am Ende war wie 1933 das deutsche, waren die Feinde der Demokratie nicht stark genug, um die Macht zu übernehmen. Die Kommunisten waren zwar die mit Abstand stärkste Partei Frankreichs und hatten ein dichtes Netz von Umfeldorganisationen geknüpft; aber zur Machtergreifung waren sie doch nicht stark genug. (Natürlich vor allem, weil amerikanische Soldaten in Westeuropa stationiert waren).

    Und auf der extremen Rechten gab es nur die eher hilflosen Poujadisten, immerhin mit 30 Abgeordneten in der Nationalversammlung; unter ihnen schon damals übrigens Jean-Marie Le Pen.

    Also konnte der Demokrat Charles de Gaulle als der Retter Frankreichs einspringen und es vor dem Abgleiten in die Diktatur bewahren.

    De Gaulles Verfassung war darauf angelegt, alle die genannten Mängel der Vierten Republik zu beheben:
  • Der Legislative wurde, wie in den USA, eine ähnliche starke, von ihr unabhängige Exekutive - der Präsident - gegenübergestellt

  • Der Präsident wurde (seit 1962) direkt vom Volk gewählt und konnte sich - durch das Instrument des Referendums - auch die Legitimation zu einzelnen Entscheidungen direkt vom Volk holen

  • Das Verhältniswahlrecht wurde durch ein Mehrheitswahlrecht ersetzt, das allerdings durch die beiden Wahlgänge Elemente eines Verhältniswahlrechts hatte. (Vorübergehend hatte Mitterand das Verhaltniswahlrecht wieder einführen lassen, mit der machiavellistischen Absicht, die Rechtsextremen zu stärken und dadurch die demokratische Rechte zu schwächen).
  • Insgesamt haben de Gaulles Reformen zu einer Stabilität und damit zu einem gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Fortschritt Frankreichs geführt, wie das unter der Vierten Republik undenkbar gewesen wäre. De Gaulle hat Frankreich wirklich gerettet; er hat aus einem Land im Niedergang eines der erfolgreichen Länder der heutigen EU gemacht.



    Aber seine Reformen hatten einen Preis, und den zahlt Frankreich seit vielen Jahren:

    An die Stelle der Herrschaft immer derselben Parteien der Mitte ist die Kluft zwischen Links und Rechts getreten. Eine Kluft, auf deren einer Seite demokratische Linke stehen, verbündet mit linken Feinden der Demokratie. Und auf der anderen demokratische Rechte, abhängig von rechten Feinden der Demokratie.

    In der Fünften Republik mit ihrem Mehrheitswahlrecht gab es zunächst eine Dominanz der demokratischen Rechten über die demokratische Linke. Denn die Gaullisten waren eine vereinte Partei der demokratischen Rechten; sogar mit einem linken Flügel, wie die CDU.

    Die Linke aber war zersplittert. Bei weitem am stärksten waren die undemokratischen Linken, allen voran die moskautreue PCF. Die demokratischen Sozialisten waren aufgespalten in etliche Parteien - die S.F.I.O., die PSU zum Beispiel - und Clubs und Grüppchen wie das C.E.R.E.S. von Chevènement.

    Mitterand, der kühle und skrupellose Stratege, erkannte, daß die Linke nur unter einer Bedingung mehrheitsfähig werden könnte: Durch eine Wiederbelebung der Volksfront zwischen Kommunisten und Sozialisten von 1936. Diese Strategie verfolgte er seit 1972 mit der Verkündung des Programme Commun von Kommunisten, Sozialisten und Radikalsozialisten.

    Seither setzt sich die französische Linke aus Anhängern und Feinden der Demokratie zusammen, die sich wundersamerweise nicht bekriegen, wie sie es eigentlich sollten, sondern die sich zum gegenseitigen Nutzen miteinander arrangieren.

    Noch in der Regierung Jospin saßen Kommunisten; und Jospin selbst war offiziell Sozialist, geheim aber Kommunist (Entrist, der von der Vierten Internationale in die PS eingeschleust worden war; noch als Generalsekretär der PS wurde er von dem Leiter seiner kommunistischen Zelle geführt).

    Auf der Rechten ist es nicht ganz so schlimm; denn wenigstens weigert sich die demokratische Rechte, Absprachen mit den Rechtsextremen einzugehen. Aber Sarkozy kann nur mit den Stimmen der extremen Rechten Präsident werden.



    Wie kann man ein Land regieren, in dem es mehr als zweihundert Käsesorten gibt, hat de Gaulle gefragt. Wie soll Frankreich sich jemals modernisieren, wenn der Präsident - ob links, ob rechts - von den Stimmen von Extremisten abhängt?

    Das ist meines Erachtens das zentrale Problem Frankreichs. François Bayrou hat es erkannt.