13. April 2008

Überlegungen zur Freiheit (4): Der Traum vom freiheitlichen Sozialismus

Jeder Bürger sollte vollständig sicher sein können, daß seine politischen Meinungen und Überzeugungen, sein persönlichen Auffassungen und Verhaltensweisen nicht Gegenstand der Überwachung durch staatliche Sicherheitsorgane sein können. Die Partei erklärt ausdrücklich, daß diese Organe weder die Aufgabe haben noch dazu eingesetzt werden, innere Fragen und Kontroversen der sozialistischen Gesellschaft zu lösen.

Dies ist eine Passage aus dem Aktionsprogramm, das vor vierzig Jahren, am 11. April 1968, vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der CSSR verabschiedet wurde. Titel dieses Programms: "Der tschechoslowakische Weg zum Kommunismus".

Der Verabschiedung des Programms, an dem seit Januar gearbeitet worden war, waren wochenlange öffentliche Debatten vorausgegangen. Allein in der Woche vor der Veröffentlichung hatte die zuständige Kommission dreitausend Änderungsanträge entgegengenommen.



Ich gehörte damals zu denen, die große Hoffnungen in den "Prager Frühling" setzten. Wie viele hatte ich die Vorstellung, daß die Ideen für einen freiheitlichen Sozialismus, wie sie den (jedenfalls den französischen) Mai 1968 dominierten, irgendwie mit den Ideen des Prager Frühlings konvergieren würden. Daß wir uns sozusagen aufeinander zuarbeiteten wie Kolonnen von Arbeitern, die einen Tunnel von zwei Seiten her graben, um sich in der Mitte zu treffen.

Wir im Westen - so dachen wir - hatten die Freiheit und brauchten noch den Sozialismus dazu. Die Genossen in der CSSR hatten den Sozialismus und waren jetzt dabei, ihm die Freiheit hinzuzufügen. Auf verschiedenen Wegen würden wir uns in dem treffen, was - so dachten wir damals, ganz zu Unrecht - Marx gewollt hatte: einem demokratischen Sozialismus. Der zitierte Satz drückt diese Hoffnung aus; jedenfalls einen zentralen Aspekt dieser Hoffnung.

Das Offensichtliche - daß Sozialismus und Freiheit unvereinbare Gegensätze sind -, haben wir damals so wenig gesehen, wie es die Prager Reformer wahrhaben wollten.



Sie wurden, als aus dem Prager Frühling der Prager Sommer geworden war, aus ihren Träumen in die Realität geholt. Im Juli wurde die Prager Führung zu einem Treffen mit den sowjetischen und den anderen Brüdern nach Cierna zitiert. Immerhin noch auf CSSR- Boden, wie auch das Treffen im August in Bratislava. Aber schon in Bratislava wurden Dubcek, Smrkovsky und Genossen faktisch zum Abschwören gezwungen.

In der Nacht vom 20. zum 21. August war es dann endgültig vorbei mit dem Traum vom Demokratischen Sozialismus, vom "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Die Realität holte die Träumer von Prag ein, in Gestalt der Panzer des Warschauer Pakts. Und wie beim ersten deutschen Überfall im März 1939 (auch an diesem erneuten Überfall waren bekanntlich wieder deutsche Truppen beteiligt, nur unter Hammer und Zirkel statt unter dem Hakenkreuz) ließ der freie Westen das zu.

Die dritte Verhandlungsrunde fand in Moskau statt; und die Führung der CSSR nahm daran mit dem Status von Gefangenen der Roten Armee teil, die nur noch die Kapitulation zu unterschreiben hatten.

Der Sozialismus hatte sich gegen die Freiheit durchgesetzt.



Daß Freiheit und Sozialismus unvereinbar sind, ist nicht allein ein empirischer Sachverhalt. Denn nicht nur sind alle Versuche, sie miteinander zu verbinden, auf die eine oder andere Art gescheitert; vom "Prager Frühling" bis zu dem aktuellen Experiment, in Venezuela den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" zu errichten. Sondern es ist auch unschwer zu erkennen, warum man nicht zugleich den Sozialismus und die Freiheit haben kann: Weil man dieselbe Kompetenz nicht zweimal vergeben kann.

Sozialismus bedeutet, daß der Staat (zum Wohl seiner Bürger, sagen die Sozialisten) Kompetenzen an sich zieht. Indem er das tut, nimmt er sie den Bürgern, und er beschneidet damit ihre Freiheit. Es ist derselbe Sachverhalt, nur aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet.

Alle modernen Staaten enthalten zwar Elemente des Sozialismus. Kompetenzen, die in einem freiheitlichen Staat eigentlich beim Bürger liegen sollten (zB die, für Alter und Krankheit vorzusorgen, im Einverständnis mit den Anwesenden zu rauchen, eine Buslinie parallel zu einer Eisenbahnstrecke zu betreiben), hat der Staat an sich gezogen.

Aber das bedeutet keinen "freiheitlichen Sozialismus", sondern es bedeutet eine Einschränkung der Freiheit durch Elemente des Sozialismus. Das ist das Wesen der Sozialdemokratie, deren Konzept des Sozialstaats heute bis in die USA hinein längst zur Realität geworden ist. Vielleicht zum Wohl der Bürger; das will ich hier gar nicht diskutieren. Jedenfalls ist das nicht Sozialismus plus Freiheit, sondern weniger Freiheit durch, sagen wir, sektoralen Sozialismus.

Ist es wirklich so einfach? Ja, im Kern ist es wirklich so einfach; so wie die meisten Wahrheiten ja einfach sind: Man kann zwar Freiheit und Sozialismus in nahezu beliebigem Mischungsverhältnis haben. Aber man kann nicht mehr Sozialismus und zugleich mehr Freiheit haben. So, wie man zwar Wein und Wasser zu einer Schorle mischen kann. Aber man kann darin nicht zugleich den Wein- Anteil und den Anteil von Wasser erhöhen.

Je mehr sozialistisches Wasser unserer demokratischen Freiheit zugesetzt wird, umso mehr wird sie nun einmal verdünnt, unsere Freiheit. So, wie die Verwirklichung der Ideen des Prager Frühlings mit Notwendigkeit den Sozialismus verwässert hätte. Das hat damals Breschnew richtig erkannt.



Das Zitat aus dem Aktionsprogramm habe ich einem Artikel in einer Serie in der Internet- Ausgabe des Nouvel Observateur entnommen, in der täglich die Nachrichten des betreffeden Tags von 1968 zusammengestellt werden; sehr lesenswert.

Links zu den früheren Folgen dieser Serie "Überlegungen zur Freiheit" findet man hier



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