30. Januar 2010

Überlegungen zur Freiheit (11): Jakobiner und Liberale. Anmerkungen zu zwei Konzepten von Freiheit

Zwei Meldungen der vergangenen Tage:

Am Dienstag hat in Frankreich eine Enquête- Kommission der Nationalversammlungen ihre Empfehlungen für gesetzliche Bestimmungen vorgelegt, die das Tragen der Burka (eines Gewands, das den Körper einschließlich großer Teile des Gesichts vollständig bedeckt, ähnlich dem Tschador) in der Öffentlichkeit regeln sollen. Nach heftigen Debatten konnte sich die Kommission nicht auf ein generelles Verbot des Tragens der Burka in der Öffentlichkeit einigen. Sie schlägt aber ein Verbot für öffentliche Einrichtungen vor; beispielsweise in Schulen, Behörden, öffentlichen Verkehrsmitteln und Krankenhäusern.

Zweite Meldung: Am Mittwoch wurde bekannt, daß ein Gericht im US-Bundesstaat Tennessee dem Asylantrag der Familie Romeike aus Bissingen stattgegeben hat, die 2008 mit fünf Kindern vor der deutschen Schulpflicht in die USA geflohen war. In seiner Urteilsbegründung erklärte der Einwanderungs- Richter Lawrence O. Burman:
Homeschoolers are a particular social group that the German government is trying to suppress. This family has a well- founded fear of persecution ... therefore, they are eligible for asylum ... and the court will grant asylum.

Familien, die ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen, sind eine besondere soziale Gruppe, welche die deutsche Regierung zu unterdrücken versucht. Diese Familie hat eine wohlbegründete Angst vor Verfolgung ... deshalb hat sie ein Recht auf Asyl ... und das Gericht gewährt Asyl.


Zwei Streitfragen, die offensichtlich dasselbe Thema berühren: Wie weit hat der Staat das Recht, sich in die individuelle Lebensgestaltung des Einzelnen einzumischen? Warum sollte eine Moslemin, die damit ihrem Glauben Ausdruck verleihen möchte, nicht die Burka anlegen dürfen; auch in der Öffentlichkeit, auch wenn wenn sie auf eine Behörde geht oder einen Zug des öffentlichen Nahverkehrs benutzt? Warum sollten Eltern nicht selbst entscheiden, ob sie ihre Kinder in eine Schule schicken oder sie zu Hause unterrichten?

Das sind Beispiele für eine Thematik, die in freien Gesellschaften immer wieder aufbricht. Drei Fälle aus jüngster Zeit:
  • Darf der Staat sich durch ständige Besuche von Behörden- Mitarbeitern davon überzeugen, daß es einem Neugeborenen in seinem ersten Lebensjahr gut geht?

  • Darf er eine Vierzehnjährige gegen den Willen ihres Vaters daran hindern, zu einer Weltumseglung aufzubrechen (siehe Het zeilmeisje oogt rustig. Lauras Heimkehr; ZR vom 22. 12. 2009)?

  • Darf er - ein Thema, das gerade wieder in Zettels kleinem Zimmer kontrovers diskutiert wird - die Freiheit der Raucher zugunsten von Nichtrauchern und zur Verbesserung der "Volksgesundheit" einschränken?
  • Ist eine Gesellschaft unfrei, dann stellen sich derartige Fragen nicht: Der Staat nimmt sich einfach heraus, seinen Untertanen nach Belieben Vorschriften zu machen. Wenn er eine niedrige Geburtenrate wünscht, dann verbietet er eben seinen Untertanen, mehr als ein Kind pro Familie in die Welt zu setzen. Wenn er Arbeitskräfte braucht, dann hindert er eben seine Untertanen mit Waffengewalt daran, das Land zu verlassen und mauert sie, um das Verbot durchzusetzen, gegebenenfalls ein.

    Aber wo liegen die Grenzen staatlichen Eingreifens in einer freien Gesellschaft? Die Frage ist deshalb brisant, weil in den Antworten zwei Konzepte von "freier Gesellschaft" aufeinandertreffen. Es sind - vereinfacht gesagt - das der französischen und dasjenige der amerikanischen Revolution, das jakobinische und das liberale.

    Beide wollen - dem Anspruch nach - die Freiheit herstellen und sie schützen. Aber die Liberté als eines der Prinzipien der französischen Revolution ist etwas durchaus Anderes als die Liberty der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.

    Das wird deutlich, wenn man sich die jeweils beiden anderen Prinzipien ansieht, die der Freiheit zur Seite gestellt werden. In der der französischen Revolution waren das bekanntlich Égalité und Fraternité, Gleichheit und Brüderlicheit. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung aber werden als die drei fundamentalen Rechte genannt: "Life, Liberty and the Pursuit of Happiness"; Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.

    Das sind drei Rechte des Individuums. Ihm darf nicht das Leben genommen werden; es genießt Freiheit und hat das Recht, sein Glück so anzustreben, wie es das für richtig hält. Gleichheit und Brüderlichkeit sind hingegen keine Rechte des Individuums, sondern Prinzipien der Organisation der Gesellschaft.

    Die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen von 1793, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, beginnt nicht wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 mit den Rechten des Einzelnen; sondern der erste Artikel befaßt sich mit dem Ziel der Gesellschaft ("le but de la societé"). Es wird so definiert:
    Le but de la société est le bonheur commun. Le gouvernement est institué pour garantir à l’homme la jouissance de ses droits naturels et imprescriptibles.

    Das Ziel der Gesellschaft ist das allgemeine Glück. Die Regierung ist eingerichtet, um dem Menschen den Genuß seiner natürlichen und unveräußerlichen Rechte zu garantieren.
    Es ist instruktiv, das mit der entsprechenden Passage in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zu vergleichen:
    We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. — That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed.

    Wir erachten diese Wahrheiten als aus sich selbst heraus evident, daß alle Menschen gleich geschaffen sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, wozu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. - Daß zur Sicherung dieser Rechte unter den Menschen Regierungen eingerichtet sind, die ihre gerechtfertigte Macht von der Zustimmung der Regierten ableiten.
    Die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen beginnt mit der Gesellschaft, gelangt von dort zur Regierung und dann erst zum Individuum. Die Declaration of Independence beginnt mit dem Individuum und seinen Rechten und gelangt von dort zu den Regierungen und ihrer Rechtfertigung durch die Zustimmung der Regierten.

    Beide Sichtweise prägen bis heute das amerikanische und das französische Verständnis von Freiheit.

    Aus amerikanischer Sicht gehört die Freiheit zum Wesen des Menschen. Der Staat spielt dafür keine Rolle; ihm wird lediglich das Recht zugebilligt, diese Freiheit dort einzuschränken, wo es unbedingt erforderlich ist.

    Es ist zum Beispiel nicht unbedingt erforderlich, Bürgern die Freiheit zu verwehren, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten. Also muß es erlaubt sein. In den USA käme auch niemand auf den Gedanken, Mosleminnen das Tragen der Burka zu verbieten; möge sich jeder Bürger kleiden, wie immer er mag.

    Aus französischer Sicht ist hingegen die Freiheit etwas, das der Staat herstellen und garantieren muß. Das ist mit dem Adjektiv "républicain" gemeint, dem "republikanisch", das in der französischen politischen Diskussion eine zentrale Rolle spielt.

    Der Freiheit übergeordnet ist die Gleichheit, die als Voraussetzung der Freiheit verstanden wird. In der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen ist, nachdem Artikel 1 das Ziel der Gesellschaft definiert hat und in Artikel 2 die Menschenrechte aufgezählt wurden, bereits in Artikel 3 von der Gleichheit die Rede; aber erst Artikel 6 befaßt sich mit der Freiheit.

    Wenn in Frankreich das Tragen der Burka verboten wird, dann steckt dahinter der Gedanke der Gleichheit: Wer ostentativ seine Religion betont, der stellt die Verschiedenheit der Religionen über die Gleichheit der Bürger. Auch die Schule dient im französischen Verständnis dem Ziel der Gleichheit. Das staatliche Schulsystem, die Schulpflicht sollen sicherstellen, daß alle Kinder die gleichen Chancen haben.



    Und in Deutschland? Wir haben in unserer Geschichte liberale und jakobinische Elemente. Uns Deutschen fehlt die historische Grundlage dafür, das Problem der Freiheit auf die eine oder die andere Art mit Überzeugung, und demgemäß einseitig, zu beurteilen. Mal denken wir eher liberal, mal eher jakobinisch.

    In den letzten Jahrzehnten ist allerdings in Deutschland das Jakobinertum in einem nachgerade stürmischen Vormarsch. Natürlich nicht unter diesem Etikett. Jakobinische Bestrebungen werden heutzutage als Schutz der Umwelt, als Abwehr einer Klimakatastrophe, als Maßnahmen zur Förderung unserer Gesundheit deklariert.

    Mehr Liberalismus wäre dringend vonnöten. Mehr Orientierung an den liberalen USA also als an der jakobinischen Tradition der französischen Revolution.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Die Freiheitsstatue in New York. Vom Autor Derek Jensen (Tysto) in die Public Domain gestellt. Mit Dank an Gorgasal.