1. Januar 2010

Gedanken zur christlichen Friedensbotschaft, Beobachtungen aus Afghanistan und eine Erinnerung an Luthers Zwei-Reiche-Lehre. Ein Gastbeitrag von Herr

In ihrem Weihnachtsinterview mit der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" hat Bischöfin Käßmann einen baldigen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan gefordert:
... unsere Kirche sagt: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Das war 1948 in Amsterdam beim ersten Treffen des Ökumenischen Rates der Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg der entscheidende Satz. Auch nach den weitesten Maßstäben der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist dieser Krieg so nicht zu rechtfertigen. Deshalb, denke ich, muss die gewalttätige Auseinandersetzung möglichst rasch beendet werden. Wir brauchen eine klare Exit-Strategie.

... Möglichst bald sollten die deutschen Soldaten aus Afghanistan abgezogen werden.
Thomas Schmid hat in der "Welt" einen intelligenten Kommentar dazu geschrieben: Käßmann mache es sich viel zu einfach, weil sie sich nicht den politischen Wirklichkeiten stelle. Nach einer Kurzschilderung der schwierigen Situation in Afghanistan folgt der entscheidende Abschnitt:
Es gehört nicht viel Mut dazu, in dieser Situation nach Rückzug zu rufen – wer das tut, der weiß, dass er tief im mentalen Hauptstrom der Deutschen schwimmt. Mehr noch: Nach allem, was bekannt ist, würde selbst ein geordneter Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan der Stabilität des Landes und dem Frieden keineswegs nutzen. Im Gegenteil: Gerade die, die die große christliche Friedensbotschaft im Sinn haben, müssten doch einsehen können, dass dieser Abzug zu weiterer Destabilisierung, zu weiterem Unfrieden, zu mehr Gewalt und zu mehr Macht für Gewalttäter führen würde. Darf man das hinnehmen? Gerade Christenmenschen dürfen es nicht. Auch diese Einsicht, die nicht ganz so einfach zu vermitteln ist wie "Peace now!", hörte man gerne aus dem Munde verkündungsfreudiger Kirchenleute.
Ein dritter Baustein zum Thema ist am vergangenen Mittwoch in der Kirchenzeitung "Der Sonntag" erschienen. Es handelt sich um ein Interview mit dem Pfarrer Wilfried Fritzsch aus Frankenberg (Sachsen), der von Juli bis November dieses Jahres als Militärseelsorger im Bundeswehrlager Feyzabad war. Er berichtet u.a. davon, wie rund 100 Soldaten in einen Hinterhalt der Taliban geraten waren, wo es nach einem stundenlangen Gefecht einen schwer verletzten deutschen Soldaten gab, und erwähnt, dass die Bombardierung der Tanklastzüge bei Kundus genau zwei Tage danach stattfand:
Doch das war in der deutschen Öffentlichkeit kein Thema – nur über die Bombardierung wurde gesprochen. Dass das Bombardement so kritisiert wurde, war für die Soldaten nicht zu begreifen. Sie haben den Eindruck: Deutsche Soldaten können machen, was sie wollen, sich zurückziehen oder kämpfen – es ist immer falsch.
Über die Situation im Land und unter der Bevölkerung, wie er sie wahrgenommen hat, sagt Pfarrer Fritzsch:
Man sieht in fast jedem Ort Jungen und Mädchen zur Schule gehen, man sieht Menschen Handel treiben, und wo früher nur Feldwege waren, wurden viele Straßen und eine neue Brücke gebaut, um die Region wirtschaftlich anzubinden. (...)

Ein Volk, das 25 Jahre Bürgerkreig erlebt hat, kann jetzt zumindest im Norden Afghanistans in relativer Ruhe seine Felder bestellen, seine Kinder zur Schule schicken, Musik hören – unter den Taliban war das alles nicht möglich. Solange die internationalen Truppen dort sind, kann die Bevölkerung in Frieden leben.
Fritzsch widerspricht deshalb Forderungen nach einem schnellen Abzug und fügt hinzu:
Da sehe ich auch Menschen in unserer Kirche kritisch, die Weltpolitik durch eine rosarote Brille sehen und sehr schnell urteilen.
Das entscheidende Argument lautet letztlich:
Die Welt ist nicht so gut, wie man sie sich wünscht. Kriminelle Energie muss von staatlicher Macht im Zaum gehalten werden ...



Schmid wie Fritzsch haben von ihrer je unterschiedlichen Warte aus denselben Sachverhalt im Blick, der manchen Kirchenleuten aus den Augen geraten zu sein scheint: dass nämlich, wie Martin Luther sagt, die Welt nicht mit dem Evangelium regiert werden kann.

Eine Grundfigur im Denken Luthers ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. In diese Grundunterscheidung fügt sich seine so genannte Zwei- Reiche- Lehre ein, die er beispielhaft in der Schrift "Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei" (1523) entwickelt.

Luther geht von dem offensichtlichen Widerspruch zwischen der biblischen Anordnung des Staates mit seiner Aufgabe, Gerechtigkeit mit Gewalt durchzusetzen (z. B. Römer 13), und der jesuanischen Lehre von der Gewaltlosigkeit in der Bergpredigt (Matthäus 5 - 7) aus.

Er löst diesen Widerspruch auf, indem er zwei unterschiedliche Geltungsbereiche konstatiert, denen zwei unterschiedliche Herrschaftsweisen (Regimente) Gottes entsprechen.

Der eine ist das Reich Gottes, in dem Christus die Seinen durch das Evangelium regiert:
Nun siehe, diese Menschen bedürfen keines weltlichen Schwerts noch Rechts. Und wenn alle Welt rechte Christen, das ist rechte Gläubige wären, so wäre kein Fürst, König, Herr, Schwert noch Recht notwendig oder von Nutzen. Denn wozu sollts ihnen dienen? Dieweil sie den heiligen Geist im Herzen haben, der sie lehrt und macht, daß sie niemand Unrecht tun, jedermann lieben, von jedermann gerne und fröhlich Unrecht leiden, auch den Tod. Wo nichts als Unrechtleiden und nichts als Rechttun ist, da ist kein Zank, Hader, Gericht, Richter, Strafe, Recht noch Schwert nötig. Deshalb ists unmöglich, daß unter den Christen weltlich Schwert und Recht zu schaffen finden sollte, sintemal sie viel mehr von selbst tun, als alle Rechte und Lehre fordern könnten.
Der andere ist das Reich der Welt, zu dem alle gehören, die nicht in Wahrheit Christen sind – und das ist nach Luthers Meinung die große Mehrheit. Diese Menschen tun nicht freiwillig das Rechte, sondern gleichen bösen, wilden Tieren, die übereinander und über die Schwachen herfallen, wenn man sie nicht bändigt. Deshalb regiert Gott über sie durch das Gesetz, und zwar mit dem "Schwert", d.h. durch die Androhung und Ausübung obrigkeitlicher Gewalt.

Die Welt mit dem Evangelium, also nach den Empfehlungen der Bergpredigt regieren zu wollen, kann nur schief gehen:
Ein ganzes Land oder die Welt mit dem Evangelium zu regieren sich unterfangen, das ist deshalb ebenso, als wenn ein Hirt in einen Stall Wölfe, Löwen, Adler, Schafe zusammentäte und ein jegliches frei neben dem andern laufen ließe und sagte: Da weidet und seid rechtschaffen und friedlich untereinander, der Stall steht offen, Weide habt ihr genug, Hunde und Keulen braucht ihr nicht zu fürchten. Hier würden die Schafe wohl Frieden halten und sich friedlich so weiden und regieren lassen, aber sie würden nicht lange leben, noch würde ein Tier vor dem andern bleiben.



Die Argumentation Luthers hat eine doppelte Pointe:

Zum einen: Christen sollen der weltlichen Obrigkeit gehorsam sein, sich also der geltenden Staats- und Rechtsordnung fügen. Sie haben sie zwar für sich selber nicht nötig, aber sie dient dem geordneten Zusammenleben in der Welt, in der auch die Christen leben.

Zum anderen: Christen sollen die Ausübung der weltlichen Gewalt als Teil der göttlichen Weltregierung und als Akt der Nächstenliebe fördern und unterstützen.
Da ist das andere Stück, daß du dem Schwert zu dienen schuldig bist und es fördern sollst, womit du kannst, es sei mit Leib, Gut, Ehre und Seele. Denn es ist ein Werk, dessen du (zwar) nicht bedarfst, das aber aller Welt und deinem Nächsten ganz von Nutzen und nötig ist. Du solltest, wenn du sähest, daß es am Henker, Büttel, Richter, Herrn oder Fürsten mangelte, und du dich geschickt dazu fändest, dich dazu erbieten und dich darum bewerben, auf daß ja die notwendige Gewalt nicht verachtet und matt würde oder unterginge. Denn die Welt kann und vermag ihrer nicht entraten.
Dass die Androhung und Ausübung staatlicher Gewalt nach innen und nach außen eine Notwendigkeit und ein Segen in der noch nicht erlösten Welt ist, war bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts für die evangelische Theologie eine Selbstverständlichkeit, die u.a. auch in der Theologischen Erklärung der Bekennenden Kirche von Barmen (1934) festgehalten ist. Danach ist sie vielen abhanden gekommen. "Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein", war die vereinfachende Formel.

Dass Freiheit, Frieden und Menschenleben unter Umständen nur durch Zwang, Krieg und die Tötung von Menschen zu bewahren sind, ist paradox, entspricht aber letztlich der menschlichen Realität in einer Welt, die nicht das Himmelreich auf Erden ist.

Wie wäre es, wenn eine evangelische Bischöfin (oder ein Bischof) den deutschen Soldaten in Afghanistan einmal einen ausdrücklichen Dank aussprechen würde und sie der Fürbitte unserer Gemeinden anbefehlen würde?



© Herr. Der Autor ist evangelischer Theologe. Für Kommentare bitte hier klicken.