10. Juni 2013

Wann es Schwarmintelligenz gibt - und wann nicht

Ich weiß nicht, wann ich angefangen habe, bei Amazon Bewertungen zu schreiben. Ach ja, doch: meine erste Bewertung handelte von einem Computerspiel, das ich über alle Maße liebte. Ich schrieb die Bewertung, um andere ebenfalls von dem Spiel zu überzeugen. Inzwischen stehe ich irgendwo knapp über der Position 2000 in der Rezensenten-Rangliste. Ja, so was gibt es bei Amazon: die Rezensenten bekommen Punkte (nach einem System, das Amazon geheim hält) und die Punkte ergeben eine Rangliste. Warum macht Amazon das? 
Stellen wir diese Frage kurz zurück und beschäftigen uns zuerst damit, warum Amazon überhaupt die Kundenbewertung eingeführt hat. Amazons Erfolg ist wesentlich durch dieses ausgefeilte System der gemeinschaftlichen Bewertung und Rezension von Produkten gegründet. Erinnern wir uns: es ist noch keine Generation her, da wurden Produktempfehlungen von (teilweise selbsternannten) Experten verkündet. Zum Beispiel bei Büchern. Die Einzelmeinungen sollten so fundiert sein, dass viele sich an den intellektuellen Vorkostern orientieren konnten. Diese Form der Rezension war so beliebt, dass sich ein eigener Berufszweig entwickelte: der Literaturkritiker. Ähnliches gab es auch bei Technikprodukten, wo sich in Deutschland insbesondere Stiftung Warentest hervortat. Oder bei Restaurants, wo beispielsweise der Michelin-Restaurantführer Ton angebend war. 
Inzwischen sind alle diese Expertengremien im Niedergang begriffen und werden ersetzt durch anonymisierte Kundenbewertungen: die "Schwarmintelligenz". 
­
Ursprünglich entstand die Idee der Schwarmintelligenz aus der Beobachtung von Tierschwärmen wie Fischen oder Ameisen und der Vermutung, dass solche Schwärme in der Summe eine intellektuelle Leistung erreichen könnten, die über die Intelligenz der Einzeltiere hinaus geht. Inzwischen weiß man, dass diese These kaum Substanz hat: es gibt andere evolutionäre Vorteile, warum Tiere Schwärme bilden. Kurz gesagt: es gibt unzweifelhaft SchwarmVERHALTEN, aber das hat in der Regel nichts mit SchwarmINTELLIGENZ zu tun. 
Dann übertrug man die Idee der Schwarmintelligenz auf den Menschen und fragte, ob hier eine Kollektivleistung über die Lösungsmöglichkeiten des Individuums hinaus möglich wäre. Hinter der "menschlichen Schwarmintelligenz" steht die Idee, dass ein Konvergenzwert aus der Summe vieler Einzelentscheidungen für die meisten Entscheider eine bessere Lösung sei als die eigene unabhängige Entscheidung. Also so etwas wie "Das Kollektiv hat immer recht". Und es gibt tatsächlich Beispiele, wann ein Durchschnittswert die beste Lösung ist. Beim Schätzen physischer Größen beispielsweise. Bei einem Experiment sollten Besucher einer Ausstellung das Gewicht eines Ochsen abschätzen und nach 800 Schätzungen war das Ergebnis auf ein Promille an das tatsächliche Gewicht herangekommen.
Ein weiteres Anwendungsbeispiel für "Schwarmintelligenz" sind sogenannte Konversationsthemen. Das sind Themen, die nur dadurch wichtig sind, dass sich viele Menschen damit beschäftigen. Deswegen funktioniert bei Jauch ein Publikumsjoker gut, wenn man danach fragt, welcher Schauspieler der Held im Film XY war.  Aber das Konversationsthemen gut als "Schwarmintelligenz" funktionieren ist Tautologie. Denn Konversationsthemen definieren sich gerade darüber, dass sich "der durchschnittliche Diskussionsteilnehmer" für dieses Thema interessiert. Auf diesen Punkt kommen wir noch mal zurück.

Kommen wir mal zu einem Praxisthema: dem Übergang vom Literaturkritiker zum "Toprezensenten". Zunächst mal klingt das nur auf Englisch wirklich gut - oder würden Sie einem Obergutachter vertrauen? Weitgehend ungehört verhallen immer wieder Warnungen, dass dieses Rezensionssystem so objektiv nicht ist. Bereits 2008 empörte sich ein Fachverlag, bei Amazon würden massenhaft falsche Rezensionen eingestellt. 2012 nimmt sich Computerbild noch mal dieses Themas an und beweist, dass Rezensionen  käuflich sind. Und auch innerhalb von Amazon gibt es berechtigte Zweifel, ob das immer so mit rechten Dingen zugeht. 
Aber selbst, wenn man solche bewussten Manipulationen außen vor lässt, bleiben genügend Zweifel an der "Schwarmintelligenz" der Rezensenten. 
Rezensenten haben Gründe, warum sie Rezensionen schreiben. Bei einigen mag es ein Grund sein, die Welt verbessern zu wollen. Andere möchten vielleicht Aufmerksamkeit. Wieder andere machen es für sich selbst, als digitales Tagebuch sozusagen. Wenn man sich die Diskussionen ansieht, die von Toprezensenten geführt werden, dann kommt ein weiteres Motiv zum Vorschein: der Wettbewerbsgedanke. Die Rezensenten möchten eine möglichst hohe Position erreichen und passen dafür auch wenn nötig systematisch ihr Rezensionsverhalten an. Ein bemerkenswerter Punkt ist zum Beispiel, dass negative Rezensionen systematisch mehr Negativ-Klicks der Leser bekommen. 
Viele Toprezensenten vermeiden es deswegen weniger als drei Sterne zu vergeben. Wenn eine eigene Rezension zu viele Negativ-Klicks bekommen hat, dann wird die Rezension gelöscht und der Text dann inhaltsgleich in einem neuen Rezensionsbeitrag wieder eingestellt. Wem das noch nicht genügt, der holt sich "Fan-Voter" (Freunde oder Verwandte): andere Amazon-Teilnehmer, die gezielt die eigenen Rezensionen mit Hilfreich-Klicks versehen. Amazon versucht gegenzusteuern, in dem solche statistisch relevanten Häufungen ermittelt und von den Hilfreich-Klicks wieder abgezogen wurden. 
Aber das hat bei den Toprezensenten nicht nur Jubel ausgelöst, denn selbstverständlich kann es bei Amazon-Teilnehmern auch eine zufällige Übereinstimmung von Interessen geben, so dass ein Teilnehmer A dem Rezensenten B viele Hilfreich-Klicks gibt, ohne dass das so verabredet war. 
Noch interessanter ist, dass die Toprezensenten sich teilweise mit sehr rüden Methoden gegenseitig das Leben schwer machen
Zusammenfassend erkenne ich: das alles hat mit "kollektiver Intelligenz" nichts zu tun, sondern ist im Gegenteil ein Fallbeispiel für die "unsichtbare Hand des freien Marktes". Diese These besagt im Kern, dass das INDIVIDUELLE Streben nach Erfolg und Glück bei einer genügend großen Teilnehmerzahl und auf lange Sicht zu einem Zustand führt, der für die Summe der Marktteilnehmer besser ist. Dieses Hauen und Stechen der Rezensenten und das Ringen um eine bessere Position auf der Rezensionsliste ist KONKURRENZ und nicht SOZIALISMUS (was bei der Schwarmintelligenz implizit unterstellt wird). 

Zurück zu dem Thema, dass Schwarmintelligenz bei Konversationsthemen gut funktioniert. Wichtig ist hier zu verstehen, dass es bei Konversationsthemen per Definition kein richtig und kein falsch gibt. Die Schwarmintelligenz bei Konversationsthemen ist nicht geeignet, eine sachlich korrekte Lösung zu ermitteln. Statt dessen sorgt die Schwarmintelligenz nur dafür, dass die Lösung besser der Durchschnittsmeinung entspricht. Bei weichen Themen, die per Definition kein richtig und falsch kennen, ist das auch sinnvoll. Zum Beispiel bei der Frage, ob man das Symbol 1 oder das Symbol 2 für die Nationalflagge verwenden soll. In diesem Sinne ist Schwarmintelligenz nichts anderes als eine andere Form der Urabstimmung. Problematisch wird es, wenn man die Schwarmintelligenz für Fragen verwenden möchte, in denen es ein richtig und ein falsch gibt. Zum Beispiel bei dem Thema, wie man mit den Energieformen a, b und c bei gegebenen Kosten eine Versorgungssicherheit von y% erreichen kann. Natürlich ist das nur ein Teilbereich aller Fragen, die man sich zum Thema "Energie" stellen kann; aber das ändert nichts an der Tatsache, dass dieser Teilbereich durch "Schwarmintelligenz" nicht gelöst werden kann. 
Schwarmintelligenz wird auch kollektiven Kommunikationsplattformen wie dem Internet zugeschrieben. Die Piraten haben bei diesem Thema den Anfang gemacht. "Die Partei setzt auf "Schwarmintelligenz" und weniger auf Köpfe, erklärte Nerz.Sieht man sich aber dann die internen Diskussionen der Piraten an, dann findet man kaum mehr etwas von der Zuwendung zur Schwarmintelligenz. Offensichtlich lassen sich auch Piraten-Mitglieder nicht gern sagen, sie wären zu blöd, eine eigenständig sinnvolle Meinung zu haben. EINZELmeinungen zur Überlegenheit der Schwarmintelligenz gibt es natürlich. Ich befürchte, diesen Leuten fällt nicht mal auf wie unfreiwillig komisch das ist, in einer individuellen Einzelmeinung die Überlegenheit der kollektiven Intelligenz zu beschwören. Und das die Popularität der Piraten nicht unwesentlich auf ein einzelnes, extrem schmeichelhaftes Foto von Marina Weisband zurückgeht, stärkt auch eher meinen Glauben in die Macht der Bilder als den Glauben an die Kraft der Schwarmintelligenz. 

Wenn man verstehen möchte, warum es beim Menschen keine Schwarmintelligenz gibt, dann sollte man sich das Beispiel des Hamburger Thalia-Theaters ansehen. Die haben versucht, mittels Schwarmintelligenz das Programm festzulegen. Herausgekommen ist leider, dass einzelne Interessensgruppen ihre persönlichen Vorlieben geschickt an die Spitze der Programmvorschläge manövriert haben, wie die Süddeutsche feststellt: "Stücke von Autoren und Gruppen, die genau wissen, wie man Facebook-Gemeinden anstiftet, eine gut gemeinte Wahl zu kapern ..." Damit kommen wir der Lösung schon näher, warum es keine menschliche Schwarmintelligenz gibt: eben diese setzt voraus, dass jedes Individuum entweder a. dumm oder b. altruistisch ist. Der intelligente, egoistische Mensch wird aber versuchen, eine Schwarmaktion zu eigenen Gunsten zu beeinflussen. 
Die Süddeutsche schlägt als Lösung vor: 
"Die Allgemeinheit kann man über allgemeine Belange abstimmen lassen. Für spezielle Fragen ist Mitbestimmung nur sinnvoll, wenn eine begrenzte qualifizierte Gruppe angesprochen wird. Zum Beispiel durch eine Befragung im Rahmen der laufenden Aufführungen, wo man Publikum erreicht, das nicht nur Spott und Eigeninteressen im Sinn hat."
Die Süddeutsche bevorzugt also die "Experten-Theokratie" wie sie ursprünglich in Morus Utopia beschrieben ist (oder genauer: in Aristoteles Politeia). Aber auch das ist zu kurz gesprungen, denn eine Schwarmintelligenz wird nicht dadurch größer, dass man den Schwarm verkleinert. Auch eine Expertengruppe besteht aus Individuen, von denen ein jeder seine ganz persönlichen Ziele hat. Um es deutlich zu sagen: bloses Expertenwissen sichert noch nicht, dass der Experte auch die gleichen Ziele und Motive hat wie ich. Eine Expertenmeinung kann also trotzdem für mich vollkommen wertlos sein. 
In der grauen Theorie kann allerdings der umgekehrte Weg funktionieren: wenn man die Anzahl der Individuen im Schwarm soweit erhöht, dass der Einfluss jedes einzelnen auf Null sinkt, dann hat man was...? Ich brauche aber wohl nicht zu erklären, dass der oben angedeutete Mechanismus (wer sagt zuerst, wie´s heisst?) nur für ökonomische Prozesse funktioniert.
In allen anderen Fällen bleibt für mich nur ein Ausweg: ich muss mir meine eigene Meinung bilden. Deswegen bin ich ein Liberaler.
Frank2000


© Frank2000. Für Kommentare bitte hier klicken.