16. Juni 2013

Der 17. Juni 1953: Zündfunke der Freiheit

Heute jährt er sich zum sechzigsten Mal, der "Volksaufstand" in der DDR, der seinen Höhepunkt und seine blutige Niederschlagung am 17. Juni 1953 erlebt hat. Im Jahr zuvor hatte Staatschef Walter Ulbricht verkündet, den "Sozialismus planmäßig aufbauen" zu wollen. Die "Diktatur des Proletariats" sollte den Übergang bilden hin zum sozialistischen Himmelreich auf Erden. Tatsächlich erlebten die Menschen jedoch vor allem Mangelwirtschaft. Durch die Enteignung und Zwangsvereinigung der Bauern in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften war der seit Jahrhunderten freie Berufsstand des Bauern zunehmend zu einer Ansammlung abhängig beschäftigter Lohnarbeiter geworden. Jahrhundertealte Höfe verfielen; die Versorgungslage der Bevölkerung wurde immer schlechter. Und nun kam auch noch die Erhöhung der Arbeitsnormen  um 10% ohne Lohnausgleich. Das Regime hatte den Bogen überspannt.
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Es ist wohl eine Ironie der Geschichte, daß der Arbeiteraufstand, der sich innerhalb von Stunden zu einem wirklichen Volksaufstand entwickeln sollte, am 16. Juni ausgerechnet in der damaligen Stalinallee in Ostberlin seinen Anfang nahm; der Baustelle zu jenem Prestige-Neubauprojekt, das die Überlegenheit des Kommunismus gegenüber dem Westen machtvoll demonstrieren sollte.

Am Morgen des 17. Juni kam es zu massenhaften und landesweiten Arbeitsniederlegungen. Es bildeten sich spontane Demonstrationszüge. Kreisratsgebäude wurden ebenso besetzt wie Polizeidienststellen und Bürgermeistereien. Daran konnte auch die über Radio eilig verkündete Rücknahme der Normenerhöhung nichts mehr ändern. Die Demonstranten forderten längst freie Wahlen und demokratische Reformen.

20.000 sowjetische Soldaten und 8.000 Volkspolizisten waren nötig, um den "faschistischen Putschversuch", so die offizielle Lesart der DDR-Führung, am Nachmittag des 17. Juni blutig niederzuschlagen. In einer ersten Verhaftungswelle wurden 6.000 Menschen festgenommen. Mindestens 55 Menschen kamen ums Leben. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 war gewaltsam beendet worden.

Dennoch, der Zündfunke der Freiheit war übergesprungen; das stalinistische DDR-Regime tief verunsichert. In den folgenden Jahren kam die große "Abstimmung mit den Füßen", der massenhafte Exodus von Bürgern der DDR gen Westen, der erst mit der Abriegelung der innerdeutschen Grenze und dem Bau der Mauer 1961 sein jähes Ende fand. Der Staat mauerte seine Bürger ein. Nach innen baute das Regime die stalinistische Diktatur ungehemmt aus. Erich Honecker im Jahre 1961:
Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schußwaffe anzuwenden. Es sind solche Maßnahmen zu treffen, daß Verbrecher in der 100-m-Sperrzone gestellt werden können. Beobachtungs- und Schußfeld ist in der Sperrzone zu schaffen.
Es sind wohl solche Figuren, die Honeckers und Mielkes, die Eich- und die Bormanns, die im Kielwasser totalitärer Diktaturen nach oben  gespült werden. Bräsig-schlichten Gemüts, frei von rhetorischer Begabung oder gar Charisma, pendelnd zwischen infantiler Impulsivität und pathologischer Zwanghaftigkeit. Strategisch überfordert, bei einer gewissen Begabung im Kurzfristig-Taktischen: pedantische Sachwalter von Unrecht und Unfreiheit.

Dennoch: der Zündfunke der Freiheit war übergesprungen. 1303 Menschen kamen an der innerdeutschen Grenze ums Leben. Dem stehen mehr als 5000 geglückte Fluchten gegenüber. Die Menschen gruben Tunnel, sie surften durch die Ostsee, sie bauten Heißluftballons und Kleinflugzeuge, um in die Freiheit zu gelangen. Sie riskierten ihr Leben oder jahrelange Haft unter menschenunwürdigen Bedingungen. So wichtig ist sie, die Freiheit. In einem kürzlich im Fernsehen ausgestrahlten Interview mit einem "DDR-Flüchtling" sagte dieser (aus der Erinnerung zitiert):
Die Freiheit ist überhaupt das allerwichtigste im Leben. Aber das wissen wohl nur die, die einmal die Unfreiheit erlebt haben.
Über diesen Satz habe ich, als Westsozialisierter, lange Nachdenken müssen. Es ist wohl wahr. Wie vorschnell redet man heute, wenn es um die unselige Eurorettung geht, von "Blockparteien" im Bundestag, wie leichtfertig von "EUdssR", wenn man die überbordende Brüsseler Bürokratie kritisieren möchte. Wir sind jedoch weit davon entfernt, in Unfreiheit und Diktatur zu leben. Die Freiheit hat noch immer eine kräftige Stimme, manchmal sogar in der ZEIT.

Mit der Freiheit scheint es sich wie mit der Gesundheit zu verhalten. Verfügt man über sie, werden beide schnell selbstverständlich. Wir vermissen sie erst dann schmerzlich, wenn wir sie verloren haben. Und wie die Gesundheit, kommt auch die Freiheit nicht von alleine; sie muß erhalten werden, man muß sich um sie kümmern. Gesundheit wie Freiheit sind aber kein Selbstzweck, scheint mir. Sie bilden vielmehr fundamentale Voraussetzungen. Gesundheit als Voraussetzung, ein angenehmes und schmerzarmes Leben führen zu können; Freiheit als Voraussetzung ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Bis 1990 war der Tag des "Volksaufstandes in der DDR" in Westdeutschland Nationalfeiertag. Es war der Tag der deutschen Einheit, der damals auf den 3. Oktober verlegt wurde und seitdem als Einigungsfeiertag begangen wird. Im Jahr 1990 gab es einmalig zwei Tage der deutschen Einheit. Von mir aus hätte es gerne bei zwei Feiertagen bleiben können. Der 17. Juni erinnert daran, daß es keineswegs die Regel ist, daß Freiheit in friedlichen Revolutionen errungen, sondern oft genug blutig erkämpft oder brutal niedergeschlagen wird.



Andreas Döding


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