30. Juni 2013

Neusprech und Gutdenk. Orwells "1984" und die Gegenwart

Um Faktor 70 haben sich kürzlich die Amazon-Verkaufszahlen des Romans "1984" von George Orwell, erschienen 1948, erhöht; von Verkaufsrang 13.074 auf Rang 184. Orwells berühmte Dystopie hat den Menschen offensichtlich (wieder) etwas zu sagen. Wahrscheinlicher Auslöser dieses Verkaufsschubes war das Bekanntwerden des PRISM-Abhör- und Überwachungssystemes des amerikanischen Militärnachrichtendienstes NSA, der in den vergangenen Wochen in den Medien gegenwärtig war. 
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Und in der Tat: die Geschichte des Romanhelden Winston Smith, der in einem totalitären Unrechtsstaat lebt, rührt und erschreckt gleichermaßen und insbesondere durch das nahezu perfekte Abhör- und Überwachungssystem, dessen Opfer er letztlich als "Gedankenverbrecher" wird. "Big Brother is watching you" dürfte eines der berühmtesten Romanzitate überhaupt sein; die Sorge vor allumfassender Überwachung und Kontrolle hat Steve Jobs (ausgerechnet, muß man heute wohl sagen) und Apple Computers  1984 einen weltbekannt gewordenen Werbecoup gegen die Marktdominanz und den "Kontrollwahn" von IBM, angelehnt an den Roman, landen lassen.

Gleichwohl erschreckt mich etwas anderes in dem Buch -bis heute- sehr viel mehr. Es ist die Kontrolle des Denkens der Menschen durch die herrschende Einheitspartei: die Kontrolle des Denkens durch die Kontrolle der Sprache. Wer das Denken der Menschen kontrollieren will, so die Botschaft des Romans, der muß die Kontrolle über die Sprache erlangen. 

"1984" endet bekanntlich mit der Hinrichtung der Hauptfigur durch Genicksschuß genau in dem Moment, in dem er seine Liebe zum "Großen Bruder" entdeckt und allen Widerstand aufgibt. "Er liebte den Großen Bruder" sind die erschütternden letzten Worte des Romans. 

Das Buch hat jedoch noch einen lesenswerten Anhang, mit "Kleine Grammatik" überschrieben. Hier nimmt Orwell die Art und Weise aufs Korn, in der ideologische Systeme die Sprache vereinnahmen und für politische Zwecke mißbrauchen. Diese politisch angepaßte und ideologisch aufgeladene Sprache heißt im Roman "Neusprech" In der "Kleinen Grammatik" heißt es beispielsweise:
Wenn Neusprech erst ein für allemal angenommen und die Altsprache vergessen worden war (etwa im Jahre 2050), sollte sich ein unorthodoxer – d. h. ein von den Grundsätzen des Engsoz [die herrschende Einheitspartei im Roman] abweichender Gedanke – buchstäblich nicht mehr denken lassen, wenigstens insoweit Denken eine Funktion der Sprache ist.
Bereits hier mögen sich weitläufige Assoziationen zur Gegenwart einstellen. Weiter heißt es:
Das wurde durch die Erfindung neuer, hauptsächlich aber durch die Ausmerzung unerwünschter Worte erreicht, und indem man die übrig gebliebenen Worte so weitgehend wie möglich jeder unorthodoxen Nebenbedeutung entkleidete. [...] [Es] wurden Worte, die früher einen ketzerischen Sinn hatten, manchmal aus Bequemlichkeitsgründen beibehalten – aber nur, nachdem man sie von ihren unerwünschten Bedeutungen gereinigt hatte. Zahlreiche Worte wie „Ehre, Gerechtigkeit, Moral, Nation, Heimat, Volk, Rasse, Wissenschaft und Religion“ gab es ganz einfach nicht mehr.
Eine bemerkenswerte Aufzählung, die Orwell hier vornimmt. Als er das Buch geschrieben hat, müssen diese Begriffe sämtlich noch eine freiheitliche Konnotation gehabt haben, wenn er sie hier als Beispiel für totalitäre "Sprachsäuberung" anführt. Zumindest im deutschen Kulturraum sind heute Begriffe wie Heimat, Nation, Volk und Rasse, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, diskreditiert und aus dem aktiven Sprachschatz vieler Menschen verschwunden. Nicht die Nationalsozialisten, die diese Begriffe für ihre totalitären Zwecke mißbraucht und pervertiert haben, haben zu ihrer "Abschaffung" geführt, sondern die  Political Correctness. Weiter schreibt Orwell in seiner "Kleinen Grammatik":
Kein Wort [...] war ideologisch neutral. Eine ganze Anzahl hatte den Charakter reiner sprachlicher Tarnung und waren einfach Euphemismen.
Nun ist die Verwendung von Euphemismen kein Alleinstellungsmerkmal totalitärer Systeme. Gleichwohl fällt auf, wie, insbesondere in Zeiten der Eurorettung, euphemistische Wortneuschöpfungen wie der Rettungsschirm oder der Europäische Stabilitätsmechanismus ein konjunkturelles Hoch erleben und  daß solche Neologismen in den letzten Jahren, so zumindest der Eindruck, erheblich zugenommen haben.  Man kann sie wohl als eine Art barometrisches Maß verstehen für die Häufigkeit, in der politische Führung glaubt, den Bürgern keinen reinen Wein einschenken zu können. Man denke nur einmal an den inflationären Gebrauch der Worte "Hilfe" oder "Hilfsleistung", deren semantische Bedeutung, bei Licht betrachtet, so gut wie nichts mit den Vorgängen zu tun hat, die durch sie gekennzeichnet werden sollen. Neusprech ist aber weit mehr als das:
Grammatische Regeln mußten immer zurücktreten, wenn es erforderlich schien. Und das mit Recht, denn man benötigte – vor allem für politische Zwecke – unmißverständliche Kurzworte, die leicht ausgesprochen werden konnten und im Denken des Sprechers ein Minimum an ideenverwandten Erinnerungen wachriefen. 
Ja, "Energiewende" ist zweifellos ein unmißverständliches Kurzwort, positiv in Klang und historischer Assoziation; eine friedliche Revolution eben. Gleichwohl fern von ideenverwandten Konzepten wie "Strompreis" oder von begrifflichen Kompliziertheiten wie "Hochtechnologiestandort", während für doppelplusungute Klimaleugner (noch ein unmißverständliches Kurzwort) schonmal die Todesstrafe (durch Genickschuß?) gefordert wird, abgesehen von deren Anprangerung durch Regierungsstellen. Wie hieß es noch gleich in der Broschüre des Umweltbundesamtes? "Und sie erwärmt sich doch". Ausgerechnet eine Anspielung auf das berühmte, Galilei zugeschriebene Zitat: "Und sie dreht sich doch"; ausgesprochen, nachdem die Amtskirche den Häretiker, unter Androhung von Folter, zum Widerruf seiner Thesen zum heliozentrischen Weltbild gezwungen hatte. Ein Zitat, als flammender Appell für Skepsis und Zweifel in der Wissenschaft und gegen die Ideologie. Wer ist aber in der Klimafrage "Amtskirche" und wer "Häretiker"? Auch vor Fälschung der Geschichtsschreibung schreckt man in "1984" nicht zurück. Geschichte wird einfach umgeschrieben.

Daß die Grammatik (und nicht nur einzelne Vokabeln) Gegenstand und Opfer politisch motivierter Sprachanpassung wird, ist wohl in diesem Ausmaß, trotz Binnen-I, ein Novum. Herr Professorin kann, so gesehen, als folgerichtiger nächster, und keinesfalls letzter, Schritt in die politisch motivierte Bereinigung der Sprache betrachtet werden.
Vorrevolutionäre Literatur konnte nur einer ideologischen Übertragung unterzogen werden, das heißt einer Veränderung sowohl dem Sinne als der Sprache nach.
Ganz besonders scheint dies für Literatur zu gelten, die sich an Kinder richtet. In der Tat, jede Ideologie versucht alsbald, bei den Kleinsten Fuß zu fassen, denn Kinder sind bekanntlich formbar und offen für jegliche Lehre, die bei reiferen, kritischeren Geistern womöglich Widerspruch erregte. 

Man kann den vielen neuen Käufern von "1984" nur wünschen, sich bei der Lektüre nicht ausschließlich an den PRISM-Skandal oder an Länder wie Nordkorea oder an die großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts erinnert zu fühlen. Ideologien sind ein süßes, ein eingängiges Gift. Kaum ein glühender Kommunist oder Nationalsozialist wird subjektiv "Böses" im Sinn gehabt haben; sie glaubten mehrheitlich, daß ihre Sache eine gute sei. Und sollte man für eine "gute Sache" nicht auch die Sprache reglementieren dürfen?

Heute sind es die Ideologien des Ökologismus und der Gleichmacherei, die  Hand an die Sprache legen und die die "gute Sache" für sich reklamieren. Menschen sollen nicht gleichberechtigt sein oder gleichwertig, was wünschenswert wäre, sondern gleich. Unterschiedslos. Diese Ideologie wird verordnet und gelangt infiltrativ über die Sprache  in das Denken der Menschen: Alle Menschen sind gleich

Aber wie schrieb Orwell in Animal Farm, seinem anderen großen dystopischen Roman? 

All animals are equal. But some animals are more equal than others.


Andreas Döding


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